Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

608–610

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Cheon, Samuel

Titel/Untertitel:

The Exodus Story in the Wisdom of Solomon. A Study in Biblical Interpretation.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1997. 169 S. gr.8 = Journal for the Study of the Pseudepigrapha. Suppl. Series 23. Lw. £ 27.50. ISBN 1-85075-670-8.

Rezensent:

Otto Kaiser

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeitete Fassung der im Sommer 1994 von der Graduate Theological Union in Berkeley angenommenen Dissertation von Samuel Cheon, die von John C. Enders und David Winston betreut wurde. Sie gilt der Beantwortung der Doppelfrage, wie und warum der Verfasser der Sapientia Salomonis in Sap 11,1-16 und 16,1-19,22 die biblische Exodustradition ausgelegt hat. Ch. löst diese Frage in sechs Kapiteln. Von ihnen stellt das erste, als Einführung bezeichnete Thema Methode und Ziel der Arbeit präzise vor (11-23), während die beiden folgenden die von Pseudo-Salomo angewandten Techniken und verfolgten Tendenzen der Bibelinterpretation in Sap 11,1-14 und 16,1-29 (24-67) bzw. 17,1-19,22 (68-124) ermitteln. Dabei bestimmt Ch. zunächst jeweils sorgfältig die Abgrenzung der Einheiten, um sie dann nicht nur mit den in ihnen ausgelegten Bibeltexten, sondern auch mit den einschlägigen Parallelen in der jüdisch-hellenistischen Literatur zumal vor Paulus (Pseudo-Ezechiel; Artapanus; Philo und zur Kontrolle auch Josephus) zu vergleichen. Denn nur so läßt sich entscheiden, welche spezifischen Eigenschaften die von Pseudo-Salomo angewandte Hermeneutik besitzt und welche sie der jüdisch-hellenistischen Auslegungstradition verdankt (vgl. dazu auch 19-23).

In Kapitel 4 faßt Ch. das in den Analysen der beiden vorausgehenden Kapitel erzielte Ergebnis zusammen: Pseudo-Salomo verwendet die biblischen Erzählungen in freiem Umgang mit ihrem Wortlaut wie unter Rückgriff auf andere biblische Texte (108-112). Dabei werden auf Einzelpersonen bezogene Aussagen generalisiert, die Ägypter der biblischen Erzählungen mit den Frevlern und die Israeliten unter Ausschaltung aller negativen Züge mit den Gerechten identifiziert und einzelne Aussagen hyperbolisch ausgestaltet. Im Ergebnis gleichen die zudem unter Ausschaltung aller Orts- und Eigennamen umgestalteten biblischen Geschichten thematisch der Gattung der paradigmatischen Weisheitserzählung (vgl. 113-114 und besonders die Zusammenfassung 114). Sie dienen als Nachweis dafür, daß Gott einerseits die Frevler um der Gerechten oder um seiner Schöpfung willen mit den Mitteln bestraft, mit denen sie sich versündigt haben (11,6 f.; 16,1; 18,4 f.). Andererseits zeigen sie, daß er die Gerechten mit den Mitteln, mit denen sie von den Frevlern verfolgt wurden, errettet hat. Dabei erweist sich Gottes Gerechtigkeit gegenüber den Frevlern darin, daß er ihnen vor ihrer Vernichtung durch seine Schläge wiederholt die freilich nicht genutzte Möglichkeit zur Umkehr angeboten hat (116-119). Auch in Gottes Verhalten gegenüber den Gerechten erweist sich seine Gerechtigkeit: Zwar leiden sie unter den Nachstellungen der Frevler (18,4 f.), doch trifft diese dafür Gottes Vergeltung, während die Gerechten von den Plagen verschont bleiben (16,2; 18,1). Wenn Gott dagegen selbst Leiden über die Gerechten verhängt, sollen beide Gruppen durch die Rettung der Gerechten belehrt werden (vgl. z. B. 16,5-14). Daher bedient er sich bei seinen Heimsuchungen an beiden derselben Mittel, mit denen er weiterhin die Gerechten rettet (11,5), so daß sie ihn erkennen (11,13; vgl. 119-122 mit der Tabelle 121). Dabei enthalten sich die Gerechten aller Angriffe auf ihre Peiniger, weil sie sich auf Gottes Vergeltung verlassen (Prov 20,22). Gott selbst bedient sich bei seinem Handeln seiner Schöpfung, die er zum Wohl der Gerechten und zum Kampf gegen die Frevler verwandeln (19,6.18) und sich dabei des Wunders bedienen kann (19,5 f.). Dieser positiven Einstellung zur Schöpfung entspricht Pseudo-Salomos positives Verständnis der Geschichte: Die Schöpfung ist die Bühne für Gottes Handeln in der gegenwärtigen Geschichte und gegenwärtigen Welt, in der die Frevler vernichtet und die Gerechten beschützt werden. Die neue Welt Pseudo-Salomos aber ist eine Umgestaltung der alten (122-124).

Die sich dem Leser unausweichlich stellende Frage, welchen konkreten Anlaß in der jüdischen Gemeinde Alexandriens diese weisheitliche Geschichtsparadigmatik besitzt, beantwortet Ch. im 5. Kapitel ausführlich (125-149). Da schon aus sprachlichen Gründen eine Datierung in voraugusteischer Zeit ausscheidet, muß er sich zwischen den beiden derzeit vor allem vertretenen Ansetzungen entweder noch während der Regierung des Kaisers Augustus oder anläßlich des von dem Statthalter der kaiserlichen Provinz Ägypten Avillius Flaccus aus eigennützigen Interessen unterstützten und von den herrschenden griechischen Familien angezettelten Pogroms gegen die jüdischen Einwohner Alexandriens entscheiden. Es dauerte vom März 37 bis zu Flaccius’ Gefangennahme im Oktober 38 n. Chr. und fiel mithin in die beiden ersten Regierungsjahre des Kaisers Gaius "Caligula" (125-145).1

Ch. zieht nun den Schluß, daß Pseudo-Salomos paradigmatische Nacherzählung der biblischen Exodusüberlieferung mit ihrer Betonung der den Juden von außen her drohenden Verfolgungen die beiden Aufgaben zukamen, die durch das Pogrom angefochtenen Juden in Alexandrien ihrer Identität zu versichern und ihre Frage zu beantworten, warum sie leiden mußten. Dem in 19,13-17 angeprangerten einstigen Fremdenhaß der Ägypter entspräche die Erklärung der Juden zu Fremden und Ausländern in Alexandrien durch Flaccius (Phil.Jud., In Flacc. 53 f.). Der Hinweis in 19,13 ff. auf die die Sodomiter übertreffende Bosheit der Frevler gegenüber ihren Gästen verspräche den Juden den unvermeidlichen Untergang ihrer augenblicklichen Feinde. Die ihnen gegenüber bewahrte Zurückhaltung aber besäße ihre Analogie in dem, was Philo (In Flacc. 121) über das Verhalten der Juden bei der Nachricht von Flaccius’ Gefangennahme berichtet. Die sich aus der generalisierenden Paradigmatik ergebende Vermeidung der direkten Bezeichnung der Frevler als Ägypter aber lasse sich auch aus der von Philo bezeugten Berufung der Juden bei diesem Anlaß auf das Gebot der Menschenliebe erklären. Und schließlich habe Pseudo-Salomo möglicherweise so nachdrücklich auf Gottes Vergeltung hingewiesen, weil er innerjüdischen Vorbereitungen zur Selbsthilfe (In Flacc. 121) entgegentreten wollte (145-149). Das 6. Kapitel faßt die erzielten Ergebnisse prägnant zusammen (150-153). Dann runden Bibliographie sowie ein Stellen- und Autorenregister das Werk ab (154-169).

Über die Gewichtigkeit der einzelnen Argumente zugunsten der Datierung der Schrift kann man streiten. Gesteht man Ch. zu, daß die Gegenüberstellung des Schicksals der nichtisraelitischen Frevler und der von ihnen verfolgten, mit den Juden identischen Gerechten in Sap 11,1-14 und 16,1-19,22 einen konkreten Anlaß besitzt, wird man die logographia aus dem Jahre 24/23 v. Chr. als terminus a quo betrachten, in der die Juden wie allen in Ägypten lebenden Nichtgriechen eine Kopfsteuer auferlegt und sie damit als Nichtpoliten eingestuft wurden.2 Angesichts der Quellenlage empfiehlt es sich dann in der Tat, mit David Winston3 und Samuel Cheon auf den historisch bezeugten Konflikt 37/38 n. Chr. zu verweisen. Aber angesichts des weisheitlich-paradigmatischen Charakters der pseudo-salomonischen Neuerzählung der Exodusüberlieferung ist dieser Rückschluß nicht zwingend: Über Wahrscheinlichkeitsurteile kommt man bei der Datierungsfrage nicht hinaus.

Doch unbeschadet dieses Vorbehalts verdient diese Studie als ein für das Verständnis der Sapientia wesentlicher Beitrag in der weiteren Forschung ihre Beachtung. Mit ihrer insgesamt luciden Argumentation erfreut sie den methodische Klarheit liebenden Leser. Als ein wohl begründeter Beitrag zur Geschichte der Hermeneutik belehrt sie ihn und durch ihre hypothetische, aber keineswegs willkürliche Situierung der Schrift fordert sie ihn zur eigenen Stellungnahme heraus.

Fussnoten:

1) Über den Verlauf der Ereignisse sind wir zumal durch Philos In Flaccum und Legatio in Gaium informiert.

2) Vgl. dazu auch die differenzierte Darstellung der Geschichte der alexandrinischen Juden von der Ptolemäer- bis zur frühen Kaiserzeit bei J. J. Collins, Jewish Wisdom in the Hellenistic Age, Edinburgh 1998, 136-157 und bes. 143 f.

3) The Wisdom of Salomon, AncB 43, New York 1979, 20-25, bes. 23 f.