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Ausgabe:

März/2014

Spalte:

386–388

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Vitoria, Francisco de

Titel/Untertitel:

De lege. Über das Gesetz. Hrsg., eingel. u. ins Deutsche übers. v. J. Stüben. M. e. Einleitung v. N. Brieskorn.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2010. LIX, 260 S. = Politische Philosophie und Rechtstheorie des Mittelalters und der Neuzeit. Texte und Untersuchungen, I/1. Geb. EUR 168,00. ISBN 978-3-7728-2503-3.

Rezensent:

Peter Walter

Dass eine neue Reihe mit Texten und Untersuchungen zur Politischen Philosophie und Rechtstheorie des Mittelalters und der Neuzeit ausgerechnet mit einem theologischen Text beginnt, ist kein Zufall. Der in Salamanca lehrende Dominikaner Francisco de Vitoria, der Geburts- und Todesjahr mit Martin Luther gemeinsam hat, gilt als einer der Väter des Völkerrechts. Vorgelegt werden hier jedoch nicht seine hierfür einschlägigen außerordentlichen Vorlesungen (Relectiones), die er während seiner 20-jährigen Lehrtätigkeit in Salamanca vorgetragen hat. An deren verdienstvoller zweisprachiger Ausgabe hat der Herausgeber und Übersetzer des vorliegenden Bandes, Joachim Stüben, bereits vor einigen Jahren mitgewirkt. Hier werden der lateinische Text und eine deutsche Übersetzung von Vitorias Vorlesungen über das Gesetz geboten, die dieser in den Jahren 1533/34 in Form eines Kommentars zu den entsprechenden Passagen der Summa theologiae (I–II, q. 90–108) des Thomas von Aquin gehalten hat.
Der lateinische Text entstammt einer erst um die Mitte des vergangenen Jh.s edierten, in der Vatikanischen Bibliothek befindlichen studentischen Mitschrift. Dass eine weitere, am selben Ort aufbewahrte, wie der Herausgeber einräumt (XLVI), weder für die Erst- noch für die vorliegende Ausgabe herangezogen wurde, ist umso bedauerlicher, als Vitoria, den einer seiner Nachfolger deshalb mit Sokrates verglichen hat, selber nichts veröffentlicht hat und seine Gedanken nur aus Aufzeichnungen seiner Hörer rekonstruiert werden können. Die Relectiones Vitorias kursierten immerhin in einer von diesem autorisierten Fassung und wurden postum 1557 in Lyon gedruckt. Anders als diese außerordentlichen Vorlesungen, bei denen Vitoria sich mit aktuellen Fragestellungen auseinandersetzte, wie etwa den Problemen, die sich aus der Eroberung der Neuen Welt ergaben, bestanden die regulären, von denen hier eine Kostprobe geboten wird, in der Kommentierung eines festgelegten Textbuchs. Aber auch dabei bewies Vitoria Originalität, insofern er nicht das bis dahin allgemein übliche theologische Lehrbuch, die vier Sentenzenbücher des Petrus Lombardus, zu­grunde legte, sondern dem Usus der Pariser Theologischen Fakultät folgte, an der er studiert hatte, und die Summa theologiae seines Ordensbruders Thomas von Aquin kommentierte. Diese war insgesamt systematischer angelegt als das ältere Werk und bot dem stärker an ethischen Fragen interessierten Vitoria mehr Anknüpfungsmöglichkeiten als jenes. Der Abschnitt über das Gesetz stammt aus dem hauptsächlich ethischen Fragen gewidmeten zweiten Teil der Summa. Insofern liefert der vorliegende Band ein gutes Beispiel, um Vitoria in seinem Element zu studieren.
Das ist freilich nicht einfach. Auch wenn Vitoria seine Vorlesungen diktierte – eine weitere aus Paris mitgebrachte Neuerung–, bietet eine studentische Mitschrift keineswegs die Gewähr korrekter und unverkürzter Wiedergabe. Der Übersetzer sieht sich deshalb gelegentlich – wie übrigens seine Vorgänger, die den Text ins Englische und Spanische übertragen haben – zu Konjekturen bzw. Korrekturen seiner Vorlage gezwungen (vgl. 201 f.). Zudem kann man damals wie heute den Kommentar nur verstehen, wenn man ihn mit dem kommentierten Text vergleicht. Diesen mit abzudrucken hätte jedoch den Rahmen gesprengt.
Auch wenn die deutsche Übersetzung durchweg als gelungen bezeichnet werden kann, ist das Verständnis des Gesagten keine leichte Aufgabe. Während die englische und die spanische Übersetzung, wie die in den Anmerkungen gebotenen Kostproben nahelegen, freier mit der Vorlage umzugehen scheinen und manchmal eher einer Paraphrase gleichen, bietet die vorliegende eine möglichst wörtliche Wiedergabe des Originals. Sie nimmt den Lesenden die Interpretation nicht ab, erleichtert ihnen allerdings die Aufgabe, indem sie in den Anmerkungen die von Vitoria bei der Auseinandersetzung mit Thomas herangezogenen Texte aus anderen Werken des Aquinaten wie auch aus denjenigen anderer Autoren zum größten Teil wiedergibt und übersetzt. Das umfangreiche Verzeichnis (228–234), das die biblischen und außerbiblischen Quellen Vitorias dokumentiert, belegt zum einen die Weite von dessen Bildung und zum andern die Mühen des Übersetzers bei der Verifikation dieser Texte. Nur in einem Fall muss er passen (»Rubion«, 150).
Es handelt sich dabei um eine Stelle aus dem Sentenzenkommentar des spanischen Franziskaners Guilielmus de Rubione (vgl. J. Lang, Art. Wilhelm v. Ru­bió, in: LThK3 10, 1194), der 1518 von Iodocus Badius Ascensius in Paris in zwei Bänden ge­druckt wurde: in 4. sent., d. 3, q. 3 ad 2; Bd. 2, fol. CXIIIv–CXIVr. Vitoria illustrierte seine Darlegungen gern durch Beispiele aus der Erfahrungswelt seiner Hörer, zum Teil in der Muttersprache. Diese Bemerkungen, wie etwa das häufig bemühte Verbot von Maul­eselinnen (vgl. 11 mit Anm. 18 u. ö.), be­dürfen der Erläuterung. Da die beiden genannten Übersetzungen diese Aufgabe bereits gelöst haben, beschränkt sich die vorliegende auf Zitate daraus. Beim Englischen mag das angehen, beim Spanischen aber fragt man sich, ob die an­gesprochene Leserschaft über bessere Spanisch- als Lateinkenntnisse verfügt.
Dem Hauptteil des Bandes gehen zwei Einleitungen voran, zum einen diejenige des zum Wissenschaftlichen Beirat der Reihe gehörenden Münchener Rechtsphilosophen Norbert Brieskorn, zum andern diejenige des Herausgebers und Übersetzers Joachim Stüben. Da beide Einleitungen nicht aufeinander abgestimmt wurden, ergeben sich manche Redundanzen, aber auch Spannungen, etwa Ge­burtsort und -datum Vitorias betreffend (vgl. XXIII mit XXXV). Beide liefern freilich hilfreiche Aspekte zu einer ersten Orientierung, was das Anliegen Vitorias und die spezifische Ausrichtung seines Kommentars sowie das Fortleben seiner Gedanken angeht. Stübens Vorbemerkungen informieren darüber hinaus über die Quellenbasis seiner Edition sowie andere Übersetzungen in moderne Sprachen.
Wer es anhand der vorliegenden Ausgabe unternimmt, die Vorlesungstätigkeit Vitorias zu rekonstruieren, wird einem eigenständigen Denker begegnen, der, anders als die spätere Salmantiner Tradition, Thomas von Aquin keineswegs unkritisch gegenüberstand und bisweilen anderen Autoren folgte. Solche Eigenständigkeit zeigt er auch zeitgenössischen humanistischen Theologen gegenüber, etwa wenn er bei Jacobus Faber Stapulensis eine einseitig negative Interpretation des Alten Testamentes moniert (82–85). Gelegentliche Bezugnahmen auf Luther (51.183) lassen nicht auf eine tiefere Kenntnis schließen.