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Ausgabe:

März/2014

Spalte:

376–378

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph

Titel/Untertitel:

Frühe theologische Ar­beiten 1792–1793. Hrsg. v. Ch. Buro u. K. Grotsch.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2013. XII, 479 S. = Historisch-kritische Ausgabe. Reihe II: Nachlaß, 4. Lw. EUR 296,00. ISBN 978-3-7728-2399-2.

Rezensent:

Georg Neugebauer

Der hier anzuzeigende Band stellt den Auftakt der bisher auf acht Bände projektierten zweiten Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Schellings dar, in der Materialien aus dessen Nachlass publiziert werden. Es handelt sich, genauer gesagt, um den vierten der Nachlassbände, der bislang größtenteils noch nicht veröffentlichte Frühe theologische Arbeiten 1792–1793 umfasst. Lediglich der erste Text Über Dichter, Propheten, Dichterbegeisterung, Enthusiasmus, Theopnevstie, u. göttliche Einwirkung auf Menschen überhaupt (15–28) wurde bereits in Michael Franz’ 1996 erschienener Promotionsschrift Schellings Tübinger Platon-Studien publiziert und analysiert. Darüber hinaus enthält der vorliegende Band einen Kommentar des Römerbriefs – Animaduersiones ad quaedam loca Epistolæ ad Romanos (1792) (37–136) – sowie einen Kommentar zum Galaterbrief (1793) (249–289), die durch eine Stellensammlung zu Paulus (1793) (297–299) ergänzt werden.
In der inhaltlichen Ausrichtung des Bandes nimmt die Nachschrift einer vermutlich auf den Kirchenhistoriker Johann Friedrich Le Bret zurückgehenden Vorlesung Polemik (1792/1793) (147–243) eine Sonderstellung ein. Sie gleichwohl mitaufgenommen zu haben, ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Materialien des Schelling-Nachlasses in ihrer – wahrscheinlichen – chronologischen Reihenfolge wiedergegeben werden. Bemerkenswert ist diese Nachschrift zweifelsohne in mehrfacher Hinsicht. Das lässt sich bereits daran ermessen, dass sie unter der Hauptüberschrift »Systeme die in Absicht auf den Erkenntnisgrund der Religion von uns abweichen« (186–193) Johann Gottlieb Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) diskutiert. Dabei könnte es sich um eine der ersten Erwähnungen des späteren Wissenschaftslehrers im akademischen Lehrbetrieb in Tübingen handeln (vgl. 145). Darüber hinaus gewährt die Nachschrift wertvolle Einblicke in die Studienpraxis des Tübinger Stifts im ausgehenden 18. Jh. Aus einem der fünf in diesem Band berücksichtigten Studienhefte Schellings werden im Anhang schließlich Texte abgedruckt, die zu einem deutlich späteren Zeitpunkt entstanden sind, was indirekt belegt, wie lange der Philosoph mit diesen Heften gearbeitet hat. Es sind Notizen zu Friedrich Schleiermacher: »Die Weihnachtsfeier. Ein Ge­spräch« (309 f.), die Vorarbeiten und Exzerpte zu Schellings Rezension dieses 1806 erschienenen Dialogs wiedergeben, Allgemeine Bemerkungen zur 2. Auflage der Weltseele (311–314), einer erstmals 1798 von Schelling publizierten Schrift, sowie Exzerpte aus von Hoven (315), womit das Handbuch der praktischen Heilkunde (1805) von Friedrich Wilhelm von Hoven gemeint ist.
Um sich in die Gedankenfluchten des jungen Schelling einarbeiten zu können, leistet der von Christian Buro und Klaus Grotsch herausgegebene Band vielfältige Hilfestellungen. Dazu gehört zunächst die herausragende Qualität der Textedition, über deren Grundsätze Ersterer minutiös Auskunft gibt, sowie Christian Danz’ einfüh-rende Erläuterungen zu den historischen Entstehungsbedingungen der jeweiligen Texte. Sodann enthält der Band Erklärende Anmerkungen, die insofern besonders nützlich sind, als sie die von Schelling angegebenen und teilweise zitierten Stellen aus den antiken Schriften und der zeitgenössischen Forschungsliteratur zum einen bibliographisch genau bestimmen und zum anderen vollständig wiedergeben. Das Register schließlich umfasst eine Bi­bliographie sowie ein Bibelstellen-, Namen-, Orts- und Sachregister.
Vom derzeitigen Stand der Schellingforschung aus betrachtet, dürften vor allem die biblisch-exegetischen Arbeiten zu Paulus auf besonderes Interesse stoßen, allein schon deswegen, weil sie – wie in Schellings Nachlassverfügung vermerkt – von ihm selbst ge­schrieben wurden (vgl. 34). Sie sind Teil eines Projekts, das darauf zielt, den metadiszplinären hermeneutischen Rahmen abzuste-cken, innerhalb dessen sich Sinn und Bedeutung religiöser Vorstellungen der Antike entschlüsseln lassen. Das früheste Zeugnis dieser Bemühungen bildet bisher die 1792 publizierte philosophische Magister-Dissertation De malorum origine. Gedanklich verdichtet haben sie sich in dem seit Langem bekannten Entwurf einer Vorrede [zu den histor.-kritischen Abhandlungen der Jahre 1793–1794].
Hatte schon Schellings Sohn darauf hingewiesen, dass sich sein Vater mit dem Beginn des Theologiestudiums im Herbst 1792 verstärkt den biblischen, vor allem neutestamentlichen Urkunden zugewandt habe, so bestätigen die frühen theologischen Arbeiten dies auf eindruckvolle Weise. Um die intentio auctoris der Ausführungen im Römer- und Galaterbrief feststellen zu können, setzt Schelling die Mittel der sogenannten niederen und höheren Kritik ein, die wiederum mit einem dezidiert moralphilosophischen Interesse verschränkt sind. Letzteres zieht sich wie ein roter Faden durch die Kommentare hindurch. Immer wieder kommt er zu dem Ergebnis, dass der Vorstellungsart des Heidenapostels die Prinzipien einer moralischen Religion zugrunde lägen, weswegen die paulinische Glaubensvorstellung als Inbegriff einer moralischen Gesinnung zu verstehen sei, worin Schelling wiederum eine »Revolution in der Denkart« (98) erblickt. Zugleich sieht er mit dieser Interpretation die Möglichkeit an die Hand gegeben, von einer dogmatischen Auslegung abzurücken. Paulus entfalte kein »Compendium Theologiae dogmaticae«, sondern »Hauptsätze, die ein-zig moralisch sind« (100). Unter hermeneutischem Blickwinkel be­trachtet, sind somit in seiner Auseinandersetzung mit dem Römer- und Galaterbrief grammatisch-historische, religionsgeschicht­liche sowie philosophische Auslegungsgrundsätze in programmatischer Weise miteinander verknüpft.
Damit spiegelt sich in Schellings hermeneutischem Ansatz die komplexe Gemengelage der exegetischen und hermeneutischen Debatten der Spätaufklärung wider, mit der er bestens vertraut war und innerhalb derer er sich souverän bewegte. Das bedeutet aber zugleich, dass die Interpretation dieser Texte als hochgradig voraussetzungsreich angesehen werden muss. Erste Schneisen in dieses Dickicht wurden zuletzt vor allem unter der Federführung von Christian Danz geschlagen, wodurch es gelang, den Horizont der bis dahin wesentlich von Wilhelm G. Jacobs angeregten Erforschung des Tübinger Schelling zu erweitern. Letzterer rückt nun in noch viel stärkerem Maße als ein Vertreter der Spätaufklärung in den Blick. Inwiefern sich dieses bislang weniger vertraute Bild von Schelling, auf dem er eben nicht als Meisterdenker der klassischen deutschen Philosophie, sondern als – überspitzt formuliert – Aufklärer erscheint, noch stärker konturieren lässt, hängt nicht zuletzt von der Publikation und Auswertung der weiteren, von der Kommission zur Herausgabe der Schriften Schellings angekündigten fünf Nachlassbände ab, die größtenteils noch nicht veröffentlichte Vorlesungsnachschriften und selbständig verfertigte Texte, die zwischen 1788–1794 entstanden sind, enthalten werden.
Als nicht minder anspruchsvoll ist die Beantwortung der da-mit einhergehenden Frage nach der werkgeschichtlichen Relevanz dieser Schriften anzusehen. Diese Frage stellt sich umso mehr, als sowohl der frühe als auch der späte Schelling verlautbaren lässt, die besagten Schriften seien ihm zur Nebensache geworden bzw. müssten als rationalistische Jugendsünden angesehen werden. Man darf gespannt sein, ob sich vor dem Hintergrund der nun vorliegenden sowie der angekündigten Nachlassmaterialien diese Einschätzung bestätigt oder ob diesen Texten werkgenetisch betrach tet eine höhere Bedeutung beizumessen ist, als der Philosoph suggeriert. Die Beantwortung dieser Frage ist jedoch nicht allein ein Spezialproblem der Schellingforschung. Vielmehr berührt sie zu­gleich das bislang wenig erforschte Gebiet des Verhältnisses von Aufklärung und klassischer deutscher Philosophie.