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Ausgabe:

März/2014

Spalte:

374–376

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Reder, Michael

Titel/Untertitel:

Religion in säkularer Gesellschaft. Über die Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Karl Alber 2013. 453 S. = Alber Praktische Philosophie, 86. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-495-48540-8.

Rezensent:

Gottfried Küenzlen

Seit Jahren ist Religion zu einem neuen Thema der öffentlichen und veröffentlichten Wahrnehmung und neu auch zum Gegenstand der einschlägigen Wissenschaften geworden. Wie immer es bei genauerem diagnostischen Blick um die »Wiederkehr der Religion tatsächlich bestellt sein mag, so zeigt sich doch: Ohne den »Faktor Religion« lassen sich in weltweiter Perspektive die politischen und kulturellen Reallagen nicht mehr verstehen. Diese Einsicht ist auch deshalb be­merkenswert, da über Jahrzehnte es einer dogmatisch verfestigten »Sä­kularisierungsthese« geradezu geschichtsprovidentiell gewiss war, dass Religion als öffentliche Kraft, aber auch als Macht der Lebensführung im voranschreitenden Modernisierungsprozess sich zunehmend marginalisiere oder gar ganz verflüchtige.
Die neue Wahrnehmung von Religion wurde seit etwa Mitte der 1990er Jahre auch Gegenstand politischer Philosophie; dies gilt be­merkenswerterweise für politisch-philosophische Entwürfe ganz unterschiedlicher Herkunftstraditionen und theoretischer Perspektiven. Das vorliegende Buch von Michael Reder widmet sich ebendieser »neuen Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie«. Die R. leitende Grundfrage, die als systematischer Antrieb hinter der Untersuchung steht, lautet: »Wie kann angesichts der Probleme im aktuellen Diskurs Religion in säkularen Kontexten überzeugend philosophisch konzeptualisiert und damit eine vielstimmige Rede über Religion ermöglicht werden?« (37)
Nach knappen, den systematischen, philosophiegeschichtli-chen und interdisziplinär-kontextuellen Horizont eröffnenden Zu­gangskapiteln folgt der Hauptteil der Arbeit: die Rekonstruktion von sechs, R. als paradigmatisch erscheinenden Konzeptualisierungen von Religion heutiger politischer Philosophie: die »deliberative Demokratietheorie« von Jürgen Habermas und dessen Rede von der »postsäkularen Gesellschaft«, in der Habermas einer über sich selbst aufgeklärten Religion eine bestimmte Bedeutung auch für demokratisch-säkulare Gesellschaften einräumt; den liberal-pragmatischen Ansatz Richard Rortys, dessen religionskritisch-antiklerikaler Liberalismus Religion als öffentliche Kraft, weil prinzipiell demokratiegefährdend, ausschließt; Michael Walzers kommunitaristische Interpretation, nach der Religion einen bleibenden kulturellen und politischen Faktor auch moderner Gesellschaften darstellt und für deren innere Integration unverzichtbar bleibt; die Systemtheorie Niklas Luhmanns, in der Religion den Platz einer systemkommunikativen Funktion einnimmt, die es erlaubt, die Kontingenz von Sinn zu thematisieren; der Dekonstruktivismus Jacques Der­-ridas, der, seinem leitenden Gedanken von »differance« folgend, Religion als mehrdimensionale Größe auffasst und so etwa den Gegensatz von Glaube und Wissen zu überwinden sucht; der hermeneutische Zugang Gianni Vattimos, mit seiner These von der Religion als dem Ursprung des »schwachen Denkens«.
Es sprengte den Rahmen dieser Besprechung, wollte man die vorgelegte souverän-kenntnisreiche und präzise Darstellung dieser Ansätze hier genauer nachzeichnen. Eigens hervorzuheben ist aber, dass R. es bei der bloßen Darstellung der unterschiedlichen Positionen nicht belässt: Er unterzieht sie zudem jeweils einer »kritischen Diskussion«, in der vorrangig die (kritischen) Argumente des bisherigen akademischen Diskurses benannt und abgewogen werden, aber immer wieder auch eigene kritische Perspektiven aufscheinen.
Diese Rekonstruktion verschiedener politisch-philosophischer Positionen und deren kritische Reflexion – quantitativ das Hauptstück der Arbeit – darf allein für sich schon als gewichtiger wissenschaftlicher Beitrag gelten, aber R. bleibt dabei nicht stehen. Vielmehr geht es ihm im letzten Hauptkapitel (»Transformationen für den Diskurs über Religion«) darum, die in den erhobenen Rekonstruktionen durchscheinenden Problemlagen, Defizite und Be­grenzungen zu thematisieren und Vorschläge zu einer möglichen Erweiterung des aktuellen Diskurses zu machen. Insbesondere sind es drei Problemstellungen, die zu einer weiterführenden Re­flexion drängen:
a) Gegenüber einem in den besprochenen Entwürfen meist implizit vorausgesetztem, aber nicht offengelegtem Religionsverständnis, das zudem nur eine Außensicht auf Religion darstellt, gilt es eine religionsphilosophische In­nenperspektive der Religion zu eröffnen.
b) Gegen eine strikte Trennung von Glaube und Wissen (Vernunft), wie sie sich insbesondere bei Habermas und Rorty findet, geht es R. darum – diese Trennung überwindend –, Glaube und Wissen als ein bestimmtes Verhältnis zu begreifen, um so Glaube und Wissen als eine soziale und kulturelle Praxis zu verstehen, »die Ausdruck des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz im Sinne eines wissenden Nichtwissens ist und als solche den Menschen in seiner ganzen Lebenswirklichkeit betrifft« (320).
c) Die behandelten Autoren thematisieren Religion vorrangig – in je unterschiedlicher Perspektive – nach ihrer jeweiligen (gesellschaftlichen) Funktion. Dabei ist immer wieder ein funktionalis­tischer Reduktionismus leitend, der – im Erbe Kants stehend – Religion nur in ihrer moralischen Funktion (und damit Nützlichkeit) in den Blick nehmen kann. Demgegenüber strebt R. eine »multifunktionale« Religionsauffassung an, die die moralische Funktion der Religion zwar in sich aufnimmt, Religion darauf aber nicht verkürzt.
Hier sind es philosophiehistorische Rückbesinnungen, nämlich eine Neuvergewisserung der Auffassungen von Religion bei N. v. Kues, D. F. E. Schleiermacher und J. Dewey, die R. seine eigenen, oben an-gedeuteten Vorschläge zu einer Überschreitung der Be­grenzungen des aktuellen Diskurses nicht nur ermöglichen, sondern ihnen auch systematische Substanz verleihen. In diesen phi­losophiehistorisch fundamentierten, reflexiven Anstrengungen zu »Transformationen für den Diskurs über Religion« beizutragen, darf man den besonderen Gewinn und eigenständigen Ertrag des Buches sehen.
Dessen Lektüre zwingt freilich auch zu kritischen Rückfragen. Dazu nur weniges in knappster Andeutung: So überzeugend die Ar­gumente R.s für eine Erweiterung herrschender funktionaler Religionsinterpretamente hin zu einer »multifunktionalen« Perspek­tive auch sind, bleibt auch er letztlich im Banne des Funktionalismus. Dieser besteht im Kern in der Frage nach der Nützlichkeit von Religion. Dass aber Religionen in ihrer Selbstauffassung, aber auch in diagnostischer Außenbetrachtung, ihrer Wahrheit folgend gesellschaftlich »unnütz«, dysfunktional und auch gegenüber den Zwecken »demokratischer Deliberation« höchst unverwertbar sein können, bleibt unausgeleuchtet. Gerade weil in ihren Funktionen nicht aufgehend, konnten die Inhalte religiöser Botschaften historisch je und dann zur kultur- und geschichtsbestimmenden Macht werden. Hier wäre eine vertieftere Rezeption Max Webers förderlich gewesen, dem R. einleitend zwar einige knappe Bemerkungen widmet, dessen grundstürzende Bedeutung für das Thema »Religion in säkularer Gesellschaft« er aber gar nicht wahrnimmt.
Den heißen Boden, den betritt, wer sich auch als Philosoph auf Religion einlässt, sucht R. eher zu meiden. Ihm geht es um eine de­mokratiekompatibel domestizierte Religion; der politischen Phi­losophie gehe es »vor allem um eine konstruktive Einbindung weltanschaulicher Überzeugungen und Akteure in den Prozess demokratischer Deliberation« (412). Religion, die sich dem nicht einfügt, ist »problematisch«, »negativ«, »fundamentalistisch«. Dass aber gerade auch solche Religion gegenwärtig weltweit politikbestimmend ist und hier eine zentrale Herausforderung politischer Philosophie läge, kommt im Wahrnehmungshorizont des Buches allenfalls randständig vor.
Doch ungeachtet manch kritischer Einwände hat R. ein hochbe­achtliches, in den darstellenden Teilen lehrreiches, in der reflexiven Durchdringung seines Themas anregendes Buch vorgelegt, dessen Lektüre allen an der Frage nach der »Religion in der säkularen Ge­sellschaft« Interessierten nachdrücklich empfohlen werden kann.