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Ausgabe:

März/2014

Spalte:

365–369

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Seewald, Michael

Titel/Untertitel:

Verisimilitudo. Die epistemologischen Voraussetzungen der Gotteslehre Peter Abaelards.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2012. 271 S. = Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, 54. Geb. EUR 79,80. ISBN 978-3-05-005660-9.

Rezensent:

Klaus Jacobi

Die von Michael Seewald vorgelegte Untersuchung ist seine Dissertation, die 2011 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München angenommen worden ist. Sie wurde, wie S. im Vorwort mitteilt, mit einem Preis, der für herausragende theologische Dissertationen und Habilitationsschriften vergeben wird, ausgezeichnet.
Abaelard ist ein Autor, der in der modernen Wissenschaft vielfältiges Interesse gefunden hat. Doch relativ selten haben Forscher versucht, die Disziplingrenzen der modernen Universität zu überschreiten und Bezüge zwischen den literarischen, philosophischen und theologischen Werken aufzuweisen. Die Untersuchung S.s präsentiert sich als weiterer Schritt dazu, das meist Getrennte zusammenzuführen. Der Untertitel macht das deutlich. S.s Thema sollen die philosophischen, genauer: die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Theologie Abaelards sein. Über diese Voraussetzungen handelt Abaelard nicht in einem eigenständigen Traktat oder in einem bestimmten Teil seiner Theologie. S. stützt sich auf gelegentliche Bemerkungen Abaelards. Er findet solche Bemerkungen vor allem in den theologischen Schriften Abaelards.
In seiner »Einleitung«, die als Teil I gezählt wird, handelt S. über Themenstellung, Quellenlage und Forschungsstand. S. gibt, was verdienstvoll ist, einen ausführlichen kritischen Bericht über Forschungen zur Theologie Abaelards. Bei einer Untersuchung, die die Disziplingrenzen zu übersteigen beansprucht, hätte man sich jedoch gewünscht, dass S. einen ähnlichen kritischen Bericht auch über philosophische Arbeiten, die seine Themenstellung betreffen, gegeben hätte. Dies hätte besonders im Fall Abaelards nahegelegen, war Abaelard doch anerkannter Lehrer der Logik, ehe er sich theologischen Fragen zuwandte und alsbald auch Theologie zu lehren begann. Die in S.s Vorgehen deutlich feststellbare Einseitigkeit zeigt die Blickrichtung an, die die ganze Arbeit bestimmt. Hier schreibt ein Theologe, der es fruchtbar findet, bei der Lektüre der theologischen Werke Abaelards immer wieder rückfragend Abaelards logisch-semantische und argumentationstheoretische Un­tersuchungen – und punktuell auch moderne Forschungen über diese Untersuchungen – zu Rate zu ziehen. Die entgegengesetzte Blickrichtung, die von Abaelards Logik und Sprachphilosophie aus auf Abaelards Untersuchungen über die Sprache und Argumentationsweise der Theologie weiterfragt, ist S.s Sehweise nicht.
Im ersten Teil seiner Untersuchungen (im Buch als ›II.‹ bezeichnet) befasst sich S. mit dem epistemischen Akt des Glaubens. Er geht von einer Definition aus, die Abaelard aufstellt: »Der Glaube ist eine Einschätzung über nicht erscheinende Dinge.« (th. sch. 12; ed. Buytaert 404, 114–115, zitiert S. 33) Er erörtert eingehend den Begriff der existimatio und bezieht dabei ein, was Abaelard in seinen logischen Schriften über existimatio sagt.
Um den theologischen Gebrauch des Wortes »glauben« vom alltagssprachlichen Gebrauch abzugrenzen, nimmt S. eine sprachliche Unterscheidung auf, die in der theologischen Tradition geläufig ist, bei Abaelard allerdings nur einmal im Kommentar zum Römerbrief genannt wird: credere Deum, credere Deo, credere in Deum. S. ordnet zu: »credere findet auf drei Ebenen statt, nämlich (1) einer ontologischen (Deum), (2) einer propositionalen (Deo) und (3) einer existentiellen (in Deum). Die drei Stufen bauen aufeinander auf. Wer einen Satz über Gott für wahr hält (2), geht davon aus, dass Gott auch existiert (1). Wer Gott liebt (3), der setzt auch seine Existenz (1) und die Wahrheit seines Wortes (2) voraus« (39). Dieser Zuordnungsversuch muss in einigen Punkten korrigiert werden. In seinen logischen Schriften analysiert Abaelard die Aussage in einen aussagbaren Gehalt (dictum propositionis) und eine Beurteilung oder Bewertung dieses Gehalts. Der aussagbare Gehalt wird in einem Dass-Satz (oder im Lateinischen einem Akkusativ mit Infinitiv) ausgedrückt. Dieser wird vom Sprecher beurteilt: ›Es ist wahr/falsch/möglich/unmöglich/notwendig/gut/ schlecht, dass […]‹. Hinzutreten kann eine epistemische Einstellung ›Ich glaube/weiß, dass es wahr/falsch/möglich ist, dass […]‹. Credere Deum ist eine Kurzform von credere Deum esse. (1) ist also propositional, genauso wie ›Ich weiß, dass Gott mächtig ist‹, ›Ich glaube, dass Gott die Welt erschaffen hat‹ und andere Glaubens- oder Wissensaussagen. Mit (2) credere Deo wird nicht gesagt, dass man etwas über Gott glaubt, sondern es wird ein Grund genannt, warum man etwas über Gott glaubt. Aussagen über Gott kann man teils machen, weil Gott der menschlichen Vernunft nicht gänzlich verborgen ist. Teils aber kann man sie nur deswegen machen, weil man der Schriftautorität vertraut. Das ist mit credere Deo gemeint: Gottes Verheißungen und Worten glauben. S. hat zwischen »einen Satz über Gott für wahr halten« (39) und »Hören auf […] Gottes Wort« (40) nicht unterschieden. ›Einen Satz über Gott für wahr halten‹ ist propositional, kann aber nicht durch credere mit dem Dativ ausgedrückt werden, sondern nur durch Aussagen der Form ›Ich glaube, dass Gott […]‹. ›Hören auf Gottes Wort‹ dagegen ist in credo Deo ausgedrückt; doch ist dies keine Proposition im von Abaelard analysierten Sinn. Wenn S. später über »die erkenntnisleitende Funktion der Autorität« handelt (166; vgl. 67), dann wäre das der Ort, über ›ich glaube jemandem‹ zu sprechen.
Vom Glaubensbegriff ausgehend handelt S. über Theologie. Er definiert im Anschluss an eine Passage aus Abaelards »Historia calamitatum«: »Die Theologie ist jene Disziplin, die nach den Maßstäben der Vernunft auf das bereits vorgefundene Glaubensgut reflektiert und dieses anschaulich darstellt, damit ein Verständnis der Glaubenssätze ermöglicht und so die Grundlage für einen lebendigen Glaubensakt gelegt wird.« (50) Um die einzelnen Bestimmungen dieser Definition zu klären, vergleicht S. in verschiedenen Anläufen Theologie und Philosophie, jeweils an Abaelard anknüpfend, aber so, dass er dessen Überlegungen nicht so sehr interpretiert als vielmehr in systematischer Absicht konstruiert.Ausführlich behandelt S. Abaelards Theorie des Irrtums. Er nennt diese Theorie eine »mo­r alphilosophische Theorie« (88) und trifft damit sehr gut einen für Abaelard charakteristischen Diskussionsansatz. Irrtum kann schuldhaft sein. Damit ist nicht lediglich ein »Erkenntnisfehler« gemeint, sondern oft auch eine »moralische Verfehlung« (89). Grund für Blindheit ist oft der Hochmut. Umgekehrt haben, so Abaelard, schon die heidnischen Philosophen erkannt, dass »Gotteserkenntnis nicht durch Überlegung, sondern durch gute Le­bensführung erreicht wird« (Th. Sum. 2,19; ed. Buytaert/Mews 120, 155–156, zitiert 96). Die Untersuchungen über die »wechselseitige Abhängigkeit« (89), die Abaelards Überlegungen zufolge zwischen praktischem Handeln und theoretischer Erkenntnis besteht, gehören zu den aufschlussreichsten Passagen in S.s Buch.
Allerdings findet sich mitten in dem sonst guten Abschnitt 5 ein Interpretationsfehler, den man korrigieren muss. In den »Collationes« Abaelards liest man: »Aliud quippe est dicere ›malum est bonum‹, aliud dicere ›malum esse est bonum‹: ibi enim ad rem malam, hic ad rem malam esse applicatur ›bonum‹, hoc est, ibi ad rem, hic ad eventum rei.« (2,223; ed. Marenbon/Orlandi 220, zitiert S. 103) S. kommentiert: »Dort unterscheidet er zwischen einer Prädikation von »gut«, die sich auf die Sachen selbst ( ad res ipsas) oder auf den Ge­brauch einer Sache (ad eventum rei) bezieht« (103). Von ›Gebrauch‹ ist jedoch in Abaelards Text keine Rede. Gemeint ist etwas ganz Anderes. Es geht Abaelard an dieser Stelle um den Unterschied zwischen der Aussage ›etwas Schlechtes ist gut‹ und der Aussage ›Es ist gut, dass es Schlechtes gibt‹. Die erste Aussage ist widersprüchlich, also falsch, die zweite ist für den Theologen, der über das Gutsein der Schöpfung nachdenkt, unverzichtbar: Gott hat eine Welt geschaffen, in der es Schlechtes gibt. Die Unterscheidung zwischen Sache und Ge­brauch der Sache ist durchaus wichtig; man kann von einer guten Sache einen schlechten Gebrauch machen. Aber an der von S. zitierten Stelle denkt Abaelard über etwas Anderes nach.
Der erste Teil schließt mit einer »Zusammenschau: Die Subjektivität und ihre Grenzen« (119). So schließen alle drei Teile der Arbeit, jeweils mit einer »Zusammenschau«, in der es um »Grenzen« geht.
Im zweiten Hauptteil (III.) führt S. den Begriff verisimilitudo ein, den er als Haupttitel gewählt hat, um durch ihn die theologische Erkenntnislehre Abaelards einprägsam zu kennzeichnen. Insgesamt ist das Thema dieses Teils Abaelards theologische Methode. Um sie klar zu erfassen, wählt S. ein eigentümliches Verfahren. Nirgends beschreibt er, wie Abaelard tatsächlich vorgeht. S. scheint der Meinung zu sein, dass Abaelards Methode dem Autor so wenig deutlich ist, dass sie erst vom Interpreten entdeckt werden muss. Sie wird konstruiert. Die begrifflichen Mittel dieser Konstruktion liegen nicht einfach in Abaelards Texten zutage, sondern werden vom Interpreten erst zu »Leitbegriffen« präpariert.
In eingehenden Untersuchungen, deren Einzelheiten in der zukünftigen theologischen Abaelard-Forschung weiter diskutiert werden sollten, befasst S. sich mit der »Analyse von Ähnlichkeits­relationen in den Theologiae« (127). – Einige wichtige Ergebnisse seien festgehalten:
Einander ähnlich können nur Dinge oder Geschehnisse sein, die voneinander verschieden sind. Wer Ähnlichkeit zwischen Verschiedenem behauptet, muss sagen, worin das Verschiedene ähnlich ist. Ähnlichkeiten festzustellen ist besonders dann wichtig, wenn man eine (bisher) unbekannte Sache zu erfassen sucht. »Ein Erkenntnisgewinn kommt zustande, wenn bei einer noch unbekannten, also einer noch nicht vollständig intelligibel eingeordneten Entität, eine bestimmte Beschaffenheit festgestellt wird, die auch bei einer bereits bekannten – und dadurch begrifflich schon erfassten – Seiendheit vorliegt, so dass aufgrund dieser zwischen beiden bestehenden Ähnlichkeit von Bekanntem auf Unbekanntes geschlossen werden kann.« (133) S. spricht von der » similitudo-Methode« oder vom »Ähnlichkeitsschluss«.
Im Hinblick auf die Theologie Abaelards richtet S. seine Aufmerksamkeit nicht auf Ähnlichkeiten zwischen irgendwelchen Dingen oder Geschehnissen, sondern auf eine besondere Weise von Ähnlichkeit. Es ist die Ähnlichkeit, die zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem, zwischen Gott und seiner Schöpfung besteht. Hier vor allem ist die similitudo-Methode der einzige für den Menschen mögliche Erkenntnisweg. Doch ist hier besondere Vorsicht bei der Formulierung von Ähnlichkeitsschlüssen nötig. Die Wörter, die Menschen für das Erkennen von Sichtbarem geprägt haben, passen nicht univok auf Gott. Die Kategorien, die grammatischen Unterscheidungen von Wortarten, die Prädikationsweisen, die wir für die Welterkenntnis verwenden, müssen wir auch für Aussagen über Gott verwenden; es gibt keine theologische Sondersprache. Aber wir müssen sie im Bewusstsein ihrer Unangemessenheit verwenden. – Sinnvoll schließt S. an die Darlegungen über translatio einen Abschnitt über »die erkenntnisleitende Funktion der Autorität« an.
Über die Autoritätsgläubigkeit des Mittelalters und der Theologie gibt es viele Vorurteile. S.s besonnene und kundige Darlegung ist geeignet, die meisten zu korrigieren. Er beginnt mit einer Arbeitsdefinition: »Unter einer Autorität wird ein Autor im Allgemeinen oder ein einzelnes Werk im Besonderen verstanden, dessen Aussagen nicht nur als beliebige Beiträge innerhalb eines Diskurses gelten; die spezifische Differenz der von einer Autorität vertretenen Thesen liegt darin, dass ihnen noch vor der Prüfung ihrer inhaltlichen Stimmigkeit ein positiver Wahrheitswert zugestanden wird.« (166–167) Passend macht S. darauf aufmerksam, dass sich im Mittelalter nicht nur die Theologie auf Autoritäten stützt; jede Wissenschaft hat ihre Autoritäten, jede verfährt kommentierend und interpretierend. Das Argumentieren mit Autoritäten ist jedoch keine einfache Sache; es ist dies zumal in der Theologie nicht. In seinem Werk »Sic et Non« macht Abaelard das ganz klar, indem er zu theologischen Sätzen jeweils Autoritäten anführt, die Verschiedenes und sogar einander Widersprechendes sagen oder zu sagen scheinen. Die theologische Arbeit endet nicht mit einem Autoritätsspruch; sie beginnt eher mit ihm. Autoritäten müssen interpretiert werden. Das ist ein rationales Verfahren: »Die ratio bedarf der auctoritas als erkenntnisleitendem Prinzip, die auctoritas wiederum bedarf der ratio, da die Quellen sich nicht selbst auslegen, sondern ihre erkenntnisstiftende Wirkung nur durch eine vernunftgemäße Interpretation entfalten können« (170). Die Methodologie der Texthermeneutik, die Abaelard entwi-ckelt und die S. referiert, kann für sorgfältiges Studium nachdrück-lich empfohlen werden.
Nachdem man S.s Ausführungen über Similitudo-Methode und übertragendes Verständnis von Begriffen und Prädikationsweisen bei deren Gebrauch in der Theologie gefolgt ist, wäre man jetzt gut vorbereitet, S.s These, dass dogmatische Aussagen wahrheitsähnlich sind, Interesse entgegenzubringen. Überraschenderweise legt er aber nun eine ganz andere These dar: Ganz allgemein erkenne der Geist nicht Sachen, sondern deren Vorstellungen, also deren Ähnlichkeit. Diese These entspricht nicht der Auffassung Abaelards. Im Gegenteil weist Abaelard immer wieder darauf hin, dass das Objekt des menschlichen Erkennens die realen Dinge und Geschehnisse sind. Vorstellungen und Begriffe sind nicht das Er­kenntnisobjekt, sondern das Erkenntnismittel. Durch die falsche Generalthese verdirbt S. sich die Pointe. Als Sonderthese für theo­logische Aussagen wäre die Verisimilitudo-These diskutabel. Als bloße Anwendung der falschen Generalthese auf den Fall des Er­kennens Gottes ist sie das nicht.
Im letzten Teil seiner Untersuchung wendet S. sich zentralen Themen von Abaelards Theologie zu. Überzeugend ist die abgewogene Einschätzung von Abaelards theologischer Arbeit. Abaelard ist nicht der Revolutionär, als den ihn seine zeitgenössischen Gegner einerseits, seine Bewunderer zu Zeiten des Rationalismus und der Aufklärung andererseits sahen. Er ist schlicht ein Theologe, der alle Möglichkeiten nutzt, das Geglaubte verständlich zu machen, und der dabei die Grenzen dieser Bemühungen klar sieht.
S. interessiert sich als Theologe für Abaelards Theologie, nicht – oder wenigstens nicht primär – als Theologiehistoriker. Er stellt klare Fragen und treibt seine Untersuchungen energisch voran. Er sieht Abaelard – sehr zu Recht – als einen Autor, von dem man viel lernen kann. Dieses Interesse an den Inhalten ist fruchtbar. Die theologischen Teile seiner Dissertation sind überwiegend gelungen.
In den philosophischen Teilen gibt es einiges zu korrigieren. S. hat Recht mit der Vorannahme, dass bei einem Autor wie Abaelard Theologie und Philosophie nicht zu trennen sind. Abaelard beabsichtigt, in der Theologie »zu lehren und leicht verständlich zu reden«. Deshalb argumentiert er auch als Theologe vielfach philosophisch, vor allem mit sprachanalytischen Unterscheidungen. S. gibt sich Mühe, seinem Autor hierin zu folgen. Aber er hat einiges nicht verstanden, einiges falsch übersetzt, einiges nicht sorgfältig genug untersucht. Abaelard argumentiert sehr gut; seine Gegner fürchteten und seine Schüler bewunderten das. Es hätte sich empfohlen, dem Autor öfter in seinen Argumentationsgängen zu folgen, auch wenn diese bei flüchtigem Hinsehen nicht selten umwegig erscheinen. S. springt von einer ihn interessierenden Textstelle zu einer nächsten, die oft aus einem anderen Kontext genommen ist. Dies ist zuweilen erhellend, zuweilen führt es zu Irrtümern. Dennoch kann das Buch Lesern empfohlen werden, die fähig sind, seine Darlegungen zu prüfen.