Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2014

Spalte:

363–365

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schlatter, Adolf

Titel/Untertitel:

Einführung in die Theologie. Im Auftrag d. Adolf-Schlatter-Stiftung hrsg. v. W. Neuer.

Verlag:

Stuttgart: Calwer Verlag 2013. 223 S. Geb. EUR 19,95. ISBN 978-3-7668-4274-9.

Rezensent:

Harald Seubert

Erstmals seit 1987 erscheint wieder ein Band aus dem Nachlass Adolf Schlatters, rechtzeitig zu dessen 75. Todestag. Es ist die von Schlatters Biographen Werner Neuer mustergültig edierte Vorlesung »Einführung in die Theologie«. Der Herausgeber weist zu Recht darauf hin, dass sie »ein Vermächtnis« Schlatters sei, wenn auch nicht »das Vermächtnis«. Sonst hätte Schlatter den Text vermutlich selbst publiziert, nachdem er dieses Kolleg ein letztes Mal im Sommersemester 1924 gehalten hatte. Der Herausgeber weist völlig zu Recht darauf hin, dass diese Einführung einen ähnlichen Rang einnimmt wie Karl Barths Einführungsvorlesung. Die Frische des Kollegs, das in die Teile: »Das Ziel der Theologie« – »Die Lehrmittel der Theologie« und »Der Gegenstand der Theologie« gegliedert ist, nach fast 100 Jahren ist in der Tat erstaunlich. Die Reichweite und Bedeutung für die heutige Theologie reicht vielleicht über die von Barths theologischem Vermächtnis deshalb noch hinaus, weil Schlatter souverän über scheinbare Alternativen hinauszublicken vermag, die sich in der theologischen Entwick-lung des 20. Jh.s, auch unter dem Einfluss der »Dialektischen Theologie«, verselbständigen sollten. So geht er klar vom Schriftprinzip aus, zugleich aber geht es ihm darum, zu einer Erkenntnis der Wirklichkeit vorzustoßen, die sowohl die Gefahr biblizistischer Verengung als auch des Missverständnisses von Religion als bloßer »Vorstellung« vermeidet. Schlatter bezieht sich auf den Glauben als fides und fiducia. Doch schließt dies keineswegs die Bezugnahme auf die Vernunft aus. In diesem Sinn ist es nicht verwunderlich, dass Schlatter bei aller Eigenständigkeit, die er der Theologie zuerkennt, eine für protestantische Theologen ungewöhnliche Wertschätzung für die Philosophie hegt. Und: Schlatter hat eine klar missionarische Grundkonzeption von Theologie und Kirche. Zu­gleich aber weist er auf den Reichtum und die spirituelle Kraft anderer Weltreligionen hin. Schließlich: Schlatter achtet die Eigenständigkeit der theologischen Wissenschaft hoch und weist die Neophyten in die Notwendigkeit autonomen Forschens ein. Zu­gleich aber hält er ihnen das theologische Amt vor Augen.
Diese Doppelseitigkeit kulminiert implizit in der Verbindung von Wahrheit und Liebe, die in dieser Vorlesung nicht nur behauptet wird, sondern präsent ist. Man wird bei genauer Lektüre die skizzierten Wechselseitigkeiten gerade nicht als ein unentschie­denes »Sowohl – als auch« verstehen, und keineswegs als billige Verschränkung, sondern als eine umsichtige Vermeidung von Einseitigkeiten und Sackgassen. Im Glauben verbinden sich, so seine Ausgangsbeobachtung, Denken und Wollen. Dies impliziert, dass exegetische und historische Forschung und kritisch konstruktive Systembildung in wechselseitiger Korrektur den Glauben zu re­flektieren haben.
Von hier her entwickelt Schlatter eine kleine »Enzyklopädie der Theologie«. Er verwahrt sich dabei nicht nur gegen historistische Auflösungen der Geltung des Wortes Gottes, sondern auch gegen einen Biblizismus, der die Bibel zum Gesetzbuch macht, die viva vox Dei aber verfehlt. Anschlussfähig sollte gerade heute sein, dass Schlatter den historisch-philologischen Zugang zur Bibel anerkennt, aber betont, dieser sei nur Teilmoment eines reichen Feldes an methodischen Zugängen. Er nennt die dogmatische Methode, die auf den Kanon kirchlicher Lehrbildung und ihren »Magnus Consensus« verweist, die polemische und erbauliche Schriftbearbeitung, schließlich die religionsgeschichtliche Exegese. Nicht zu­letzt hat eine Exegese ihr begrenztes Recht, die sich um die »Wie­-dergabe der Gedanken«, des c lose reading in Anerkenntnis ihrer Gültigkeit, bemüht. In diesem Sinne versuchen etwa heutige analytical theologists aus den USA, die Bibel dem Zugriff der philologischen Erodierung zu entziehen. Die theologische Enzyklopädie wird im dritten, dem »Gegenstand der Theologie« gewidmeten Teil auf die systematischen Fächer fortgeschrieben. Dies ist zugleich der Ansatzpunkt für das Studium der Kirchengeschichte. Schlatter macht dabei Kontinuitätsbrüche ebenso klar wie fortbestehende Kontinuitäten. Eine erste Differenz verläuft zwischen biblischem und altkirchlichem Christentum; ebenso ist zu bedenken, dass die Kirche der Reformation nicht unmittelbar wirksam sei. Die Dogmengeschichte ist in die Kirchengeschichte verwoben. Sie ist Ausbuchstabierung der bleibenden christlichen Wahrheit. Doch die Färbungen dieser Wahrheit sind von den Wechselfällen in Raum und Zeit mit bedingt. In der Ausbildung von Bekenntnissen zeige sich zu­erst eine polemische, abgrenzende Zielrichtung, deren Ziel aber der Friede, nicht der Ausschluss sei. Vor diesen Voraussetzungen können sich Dogmatik und Ethik ausbilden. Die Dogmatik expliziert nach Schlatter »Die Wahrheitsfrage in ihrer Absolutheit«. Das Sujet der Dogmatik, deren Namen er gegen die Option der »Glaubenslehre« oder der »Systematischen Theologie« verteidigt, vermag Schlatter wiederum außerordentlich verdichtet und treffend anzuzeigen: »Der Dogmatiker hat der Christenheit zu zeigen, worin sie ihren Besitz zu erkennen hat.« Es ist bemerkenswert, dass die Methode, von der Wirklichkeit des Dogmas auszugehen, heute eher in der französischen Religionsphänomenologie und im New Foundationalism der angelsächsischen realistischen Religionsphilosophie eines Plantinga oder Swinburne ihren Ort hat als in der Theologie selbst. Transzendentale Fragestellungen weist Schlatter zurück. »Die Möglichkeit des Vorgangs ist erwiesen, sowie seine Wirklichkeit sich uns zeigt.«
Christliche Ethik ist für Schlatter wesentlich Sozialethik. Sie steht daher unter der Liebesregel. Und Praktische Theologie ist für ihn, ähnlich wie später für Barth, der heimliche Kulminationspunkt der theologischen Disziplinen, schon weil in ihr idealerweise alle Linien zusammenfließen. Gottes Wort wirkt in der Predigt weiter, der in der Dogmatik entwickelte Glaube ist in der Gemeinde zu vertiefen, der im Ethos geprägte Wille sei im Unterricht zu normieren. Was Schlatter in diesem Zusammenhang über Gemeinde- und Gemeinschaftsbildung sagt, kann wie ein Kontrapunkt zu Troeltschs düsterer, einige Jahre zuvor getroffener Diagnose gelesen werden, dass sich das Christentum entweder zur Sekte verhärten oder in die Moderne auflösen werde. Schlatter plädiert für die Festigung der Gemeinden, zugleich aber für ein Einwirken der Kirche in Politik und Gesellschaft. Er sieht die Gefahr des atomis­tischen Individualismus, den er etwas eigenwillig »monadisch« nennt, und – vielleicht etwas weniger scharf auch jene einer Individualitätsauflösung in irrationalen Gemeinschaftsformen.
Wie in einer Nussschale wird schließlich Schlatters Herzensanliegen in der Rede des fast 80-Jährigen über »Erfolg und Misserfolg im theologischen Studium« fassbar, die er 1931 gehalten hat. Sie ist Ermutigung und Warnung. Theologie kann jederzeit scheitern, doch man darf auf Gottes Zuspruch und Gnade setzen, wenn sie erkennt: »Ihre Heimat ist Golgatha.«
Viel schlechte Theologie, viel Spaltung und Verwirrung würde erspart bleiben, wenn man der Umsicht Rechnung trüge, die Schlatter hier einfordert und einübt. Dies macht auch für eine veränderte, weiter segmentierte und unter Druck geratene Theologie im 21. Jh. den Charme und Reiz dieser Veröffentlichung aus. Aus ihr ist viel zu lernen – nicht nur vom Anfänger. Dazu trägt der Maßstab setzende Duktus dieser Edition bei. Neuer kommentiert überaus kenntnisreich so, dass der Text seine Frische und Originalität behält, seine Fremdheiten aber verständlich werden.