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Ausgabe: | März/2014 |
Spalte: | 358–359 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte |
Autor/Hrsg.: | Kuropka, Joachim [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Grenzen des katholischen Milieus. Stabilität und Gefährdung katholischer Milieus in der Endphase der Weimarer Republik und der NS-Zeit. |
Verlag: | Münster: Aschendorff 2012. 552 S. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-402-13005-6. |
Rezensent: | Joachim Schmiedl |
Nach wie vor bestimmt die Diskussion um die Reichweite des katholischen Milieus die Forschungen zum Katholizismus des 19. und 20. Jh.s. Die verschiedenen Milieukonzepte, wie sie etwa vom Münsteraner Arbeitskreis für Kirchliche Zeitgeschichte 1993 und 2000 oder vom Fribourger Historiker Urs Altermatt 1989 vorgelegt wurden, haben ihre Reichweite vor allem an Studien im industriell-urbanen Umfeld erprobt. Das veranlasste den in Vechta lehrenden Historiker Joachim Kuropka, in einer Tagung, die im vorliegenden Band dokumentiert wird, regionale katholische Milieus für die Übergangsphase zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich besonders im Hinblick auf das Wahlverhalten der Katholiken und den Aufstieg des Nationalsozialismus zu untersuchen. Den theoretischen Background liefert der Passauer Historiker Winfried Becker, der den Band mit einem kritischen Überblick zu den vorliegenden Milieudefinitionen und den Etappen der Milieubildung seit 1848 eröffnet. Sein Plädoyer: stärker auf die Personengruppen als auf Regionen schauen, die Vorläufer des Milieus in der vorindustriellen Zeit nicht übersehen, den Plural des katholischen Milieus wahrnehmen.
Die Studien, zu deren Untersuchung Historikerinnen und Historiker gewonnen werden konnten, die in den entsprechenden Regionen ihre Forschungsschwerpunkte haben, werden in drei Gruppen eingeteilt. Der Schwerpunkt liegt auf den mehrheitlich bis ausschließlich katholischen Regionen; bewusst ausgelassen sind Großstädte und ausgesprochene Diasporagebiete.
Die erste Abteilung setzt sich mit agrar-industriellen Mischmilieus auseinander. Darunter fallen der äußerste Süden und Südwesten des Reiches in Baden, Württemberg und dem bayerischen Schwaben (Oded Heilbronner), Oberschlesien (Ryszard Kaczmarek), die Grafschaft Glatz (Michael Hirschfeld), zwei Münsterländer Kleinstädte (Klemens-August Recker) sowie ein südpfälzisches Dorf (Theo Schwarzmüller). Ein Überblicksbeitrag über partielle Resistenz und Verweigerung von Frauen und Jugendverbänden im Rheinland und in Westfalen schließt den Teil ab (Michael E. O’Sullivan). Heilbronner meint, eine »Kontinuität zwischen dem populären Liberalismus und dem Nationalsozialismus« (69) aufweisen zu können. Für Oberschlesien sieht Kaczmarek trotz Wahlerfolgen der NSDAP das katholische Milieu auch nach der Auflösung der Zentrumspartei recht stabil. In Glatz profitierten die Nazis von der personellen Schwäche der Katholiken, die eine traditionale katholische Lebenswelt in kleinstädtische, agrarische und industrielle Segmente aufspaltete. Auch in den Ortschaften Emsdetten, Nordwalde und Hauenstein (Pfalz) hielten die Milieustrukturen nur bedingt dem Ansturm der Nationalsozialisten stand. Selbst wenn die NSDAP in keiner der behandelten Regionen 1933 zur Mehrheitspartei wurde, gelang es ihr doch flächendeckend, Breschen in die Milieu-Phalanx zu schlagen.
Die zweite Abteilung behandelt traditionale Lokal- bzw. Regionalmilieus mit überwiegend katholischer Bevölkerung. Hier werden die Beispiele aus dem Bayerischen Wald (Helmut Braun), Unterfranken (Wolfgang Weiß), der Diözese Passau (Johann Riermeier) und der Oberpfalz (Klaus Unterburger) genommen. Im Unterschied zum Zentrum konnte die Bayerische Volkspartei in den ländlichen Regionen des Bayerischen Waldes nie die Mehrheit der katholischen Bevölkerung hinter sich bringen. Davon profitierten zunächst die Sozialdemokraten, nach der Weltwirtschaftskrise die Nationalsozialisten. Trotzdem gelang ein Einbruch in das katholische Milieu weder in Unterfranken, wo zwar viele Amtsträger NSDAP-Parteimitglieder waren, aber der Würzburger Bischof Matthias Ehrenfried eine konsequent antinazistische Linie vertrat, noch in der Diözese Passau, wo staatliches Eindringen in Kernbereiche der Lebenswelten, etwa durch den Kruzifixerlass, zu einer stärkeren Verweigerungshaltung führte, noch in der Oberpfalz, wo das Milieu besonders widerständig reagierte, wenn »Glaube und Kirche in ihrer das Heil und die Gnade vermittelten Funktion in Frage gestellt wurden« (356).
Die dritte Abteilung erforscht vormoderne agrarisch-katholische Milieus. Sie versammelt vier Beiträge zu Regionen mit fast ausschließlich katholischer Bevölkerung: das Eichsfeld (Dietmar Klenke), das Oldenburger Münsterland (Joachim Kuropka), das Emsland (Maria Anna Zumholz) sowie das Ermland (Hans-Jürgen Karp). Im Eichsfeld näherten sich Nationalsozialisten und die Milieukreise behutsam einander an, geeint in der Gegnerschaft gegen den Versailler Vertrag und den Bolschewismus. Im außergewöhnlich dichten katholischen Milieu des Emslands wurde das Zentrum gegen Ende der Weimarer Republik als ökonomische Interessenpartei wahrgenommen, doch konnte die NSDAP als Partei von Ortsfremden und wegen der Kohäsion durch Marienerscheinungen in Heede das Milieu zwar verändern, aber nicht auf lösen. Eine Milieuverstärkung kann auch für das Oldenburger Münsterland wahrgenommen werden, wo die Neinstimmen bei den Volksabstimmungen der Jahre 1934–1938 signifikant höher als im Reichsdurchschnitt waren und antisemitische Ausbrüche auf den kollektiven Widerstand der Bevölkerung trafen. Im Ermland, dem katholischen Teil Ostpreußens, sind die 1930er Jahre durch die von Bischof Maximilian Kaller geförderte Katholische Aktion geprägt; dieser versuchte auch eine Annäherung der deutschen und polnischen Bevölkerungsgruppen.
Kuropkas Sammelband leistet einen wichtigen Beitrag zur Übergangszeit zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich. Die in ihm versammelten Fallstudien zeigen deutlich, dass die Milieutheorie nach wie vor ihre Berechtigung hat, aber einer Überprüfung anhand regionaler Unterschiedlichkeiten bedarf. Diese hängen von sozialen und gesellschaftlichen Transformationen ebenso ab wie von konkreten Personen. Doch Religion ist und bleibt bis in die Gegenwart ein zentraler Faktor im Wahlverhalten. William J. Muggli arbeitete vor der Bundestagswahl 2005 heraus, dass sowohl in Oldenburg als auch im Eichsfeld Religion eine wichtige analytische Rolle für die Parteipräferenz spielte. Man sollte also das Milieu auch in einer offenen Gesellschaft nicht völlig abschreiben.