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Ausgabe:

März/2014

Spalte:

355–358

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

[Koschorke, Klaus]

Titel/Untertitel:

Veränderte Landkarten: Auf dem Weg zu einer polyzentrischen Geschichte des Weltchristentums. Festschrift für Klaus Koschorke zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. C. Burlacioiu u. A. Hermann.

Verlag:

Wiesbaden: Otto Harrassowitz 2013. LXIV, 416 S. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-447-06967-0.

Rezensent:

Roland Spliesgart

Heute mehr denn je ist das Christentum eine Weltreligion, die in allen Kontinenten gleichermaßen »zu Hause« ist. Dabei ist der Anteil der Christen in Europa, wo zwischen 1500 und 1800 noch mehr als 85 % aller Christen lebten, auf inzwischen noch etwa 25 % gefallen. Demgegenüber verzeichnen die Kirchen in Asien, Afrika und Lateinamerika – vorwiegend protestantischer Couleur – ein überaus dynamisches Wachstum. Ungeachtet dessen bleibt in der akademischen Lehre sowie in den Standardwerken der Kirchengeschichte eine europäische Perspektive vorherrschend: Die Chris­tentümer in Asien, Afrika und Lateinamerika werden vorwiegend unter dem Gesichtspunkt europäischer Expansion betrachtet. Als einer der wenigen seiner Disziplin hat Klaus Koschorke seit seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Alte Kirchengeschichte in München 1993 kontinuierlich darauf hingewiesen, dass der geänderten geopolitischen Verteilung der Christenheit sowie der damit einhergehenden neuen ökumenischen Situation Rechnung zu tragen sei, und durch seine Tätigkeit viele wichtige Impulse zur Befreiung seiner Disziplin aus der eurozentristischen Verengung gegeben.
Mit dem Titel »Veränderte Landkarten« haben die Herausgeber der Festschrift zum 65. Geburtstag von Klaus Koschorke, der Kirchengeschichtler Ciprian Burlacioiu und der Religionswissenschaftler Adrian Hermann, einen Begriff des Jubilars gewählt, der dessen Programm in nuce enthält. Darüber hinaus deuten sie mit dem Untertitel »Auf dem Weg zu einer polyzentrischen Geschichte des Weltchristentums« an, dass die innovativen Forschungsinitiativen Koschorkes nur der Beginn weiterführender Debatten sind. Die überaus ambitionierte Festschrift ist von einer dreifachen Intention geleitet: 1. will sie die Vielfalt der Forschungsinteressen Koschorkes zur Sprache bringen, die von der Gnosis über die ökumenischen Strukturen der Alten Kirche bis hin zu Themen der Außereuropäischen Christentumsgeschichte reichen. 2. will sie mit den verschiedenen Fragestellungen und Themen die These der Polyzentrik der Geschichte des Weltchristentums belegen und 3. eröffnet sie die Diskussion der konstruktiven Rezeption des Ko­schorkeschen Konzepts. Daraus ergibt sich die Gliederung der Festschrift in die Teile »Antike/Frühmittelalter« (vier Beiträge), »Neuzeit/Moderne« (13 Beiträge) und »Systematische und theoretische Perspektiven« mit zehn Beträgen von Autoren unterschiedlicher Fachdisziplinen. In einer umfangreichen Einleitung würdigen die Herausgeber die (Forschungs-)Biographie Klaus Koschorkes, fassen die Beiträge der Festschrift zusammen und führen sie in einem systematischen Ausblick weiter.
Adolf Martin Ritter überprüft in seinem Beitrag die These Koschorkes, wonach der »Polyzentrismus als Merkmal der frühen Christentumsgeschichte« (15–25) bereits vom Ursprung der Kirche an vorhanden war. Ritter bestätigt die These, betont aber zugleich die Notwendigkeit, die Einheit bei aller Verschiedenheit immer im Blick zu behalten. Grund und Richtschnur jeder Christentumsgeschichte kann nur Jesus Christus sein. Als ersten Beleg für die Polyzentrik führt Ritter den Vier-Evangelien-Kanon an, der sich gegen den Markionischen Unifizierungsversuch durchgesetzt hat: Die ›Einheit der Verschiedenen‹ enthalte somit bereits eine polyzentrische Grundstruktur. So seien während der Geschichte der frühen Kirche stets divergente christliche Formen wie die der Gnostiker möglich gewesen, wenngleich auch diese die sogenannten »katholischen Normen« (biblischer Kanon, Glaubensregel, bischöfliches Amt) akzeptierten. Abschließend plädiert Ritter für eine verstärkte Wahrnehmung der polyzentrischen Strukturen des Christentums durch die kirchengeschichtliche Disziplin, beklagt aber zugleich die derzeitige Hochschulpolitik, die die sogenannten Randgebiete sowie neue Perspektiven in den Geisteswissenschaften strukturell schwäche. Eine gewisse Abhilfe sei durch die Bereitstellung von Quellen und Lehrmitteln zur Globalen Christentumsgeschichte möglich. Nicht zuletzt empfiehlt Ritter allen Historikerinnen und Historikern in den Zentren, bei ihren Kolleginnen und Kollegen in den Peripherien »in die Schule zu gehen« (25).
Die Relevanz der Ritterschen Mahnung, die Einheit des Christentums bei der Betrachtung seiner verschiedenen Ausprägungen nicht aus dem Blick zu verlieren, zeigt Paul Giffords Beitrag »The Southern Shift of Christianity« (189–205) in aller Deutlichkeit. Mit der nigerianischen Ge­meinde »Mountain of Fire and Miracles Ministries« (MFM) stellt Gifford eine völlig eigenständige Variante afrikanischen Christentums vor, die allen gängigen Kategorien der Interpretation zu­widerläuft. Die MFM ist weder besonders orthodox noch mystisch, puritanisch, evangelikal, pentekostal oder apokalyptisch geprägt. Vielmehr ist sie ausschließlich an der innerweltlichen Bestimmung ihrer Mitglieder und der Abwendung der spirituellen dämonischen Kräfte interessiert, die diese behindern. Diese Kosmologie einer verzauberten Welt schließt selbst die wie­dergeborenen Christen mit ein. Elemente des Christentums westlicher Prägung finden sich, wenn überhaupt, nur minimal. Am Beispiel der MFM räumt Gifford mit einigen Mythen auf: Der Aufschwung des Christentums im Süden bedeute keineswegs auto­-matisch eine Abkehr von animistischer Religiosität. Zudem stelle die Forderung mancher Theologen, das »Alte Christentum« solle von den Stimmen des Südens lernen, eine nicht zu rechtfertigende Verklärung der ›Authentizität‹ der neuen Christentümer dar. Gifford wirft damit aus religionswissenschaftlicher Perspektive grundsätzliche Fragen einer globalen Christentumsgeschichte auf: Ist jeder Christ, der sich selbst als solcher identifiziert, oder gibt es demgegenüber ein normatives »Wesen des Christentums«? Kann die Aufklärung – wesentliches Element des Christentums im Norden und Westen – transkulturell auch für den Süden geltend gemacht werden? Wie sind Christentümer zu bewerten, die das Evangelium offensichtlich nicht in-, sondern exkulturieren? Gibt es gegebenenfalls Gründe, einzelnen Vertretern ihr Christentum grundsätzlich abzusprechen, oder sind alle Varianten gleich zu behandeln, auch wenn sie grundsätzlich unvereinbar sind? Nicht zuletzt ist es eine Tatsache, dass das Christentum im Laufe seiner 2000-jährigen Geschichte einem permanenten Prozess der Neuinterpretation (Akkulturation) unterworfen war.
Peter Bräunlein unterbreitet in seinem Beitrag ein »Dialogangebot« aus ethnologischer Perspektive an das Koschorkesche Konzept der »Polyzentrik des Christentums« (243–265). Indem er die seit den 1990er Jahren geführte Diskussion um eine »Anthropology of Chris­tianity« innerhalb der Ethnologie nachzeichnet, beleuchtet er die kategorialen und me­thodischen Schwierigkeiten, die jeder Forschung lokaler Ausprägungen des Christentums als einer Religion mit theologischem Universalitätsanspruch inhärent sind. Bräunlein plädiert dafür, sich von einem »Kern des Weltchristentums« (253) zu verabschieden. So sei die Vorstellung einer engen Verbindung von Christentum und westlicher Moderne ebenso unhaltbar wie die Verabsolutierung eines toleranten, ökumenischen Religionsverständnisses des liberalen westlichen Bürgertums, das im Weltmaßstab ohnehin nur eine Minderheit darstelle. Stattdessen schlägt Bräunlein vor, das »Christentum als offene Kategorie zu behandeln« (260) und lokale Ausprägungen in ihrer jeweils eigenen Dynamik, aber zugleich in einer globalen, komparatistischen Perspektive zu erforschen. Dazu bringt er zwei ethnologische Analy­sekonzepte ein, die für weitere christentumsgeschichtliche Forschungen fruchtbar gemacht werden könnten: Während mit »Translokalität« die Interaktionen zwischen den lokalen Akteuren und translokalen bzw. internationalen Netzwerken als »Referenzrahmen« in den Blick geraten, zielt der prac­-tice turn auf eine Wahrnehmung der Handlungsdimension einer gelebten Religion.
Mit der Festschrift für Klaus Koschorke haben die beiden jungen Herausgeber weitaus mehr als eine Buchbindersynthese vorgelegt. Vielmehr ist es ihnen in meisterlicher Weise gelungen, alle Autoren auf das Thema der polyzentrischen Christentumsgeschichte, die vom Jubilar im deutschen Sprachraum angestoßen wurde, zu fo­kussieren und einen kreativen Prozess der konzeptionellen Wei­terentwicklung zu befördern, der weit über den bisherigen Dis­kussionsstand hinausweist. An Monita wären zu nennen, dass nur drei der 29 Autoren aus Ländern des Südens stammen und lediglich drei Beiträge die lateinamerikanische Perspektive repräsentieren. Dies bleiben sicher Herausforderungen für die Zukunft des Forschungsgebiets. Weitaus gravierender für die Weiterentwick­lung der globalen Christentumsgeschichte bleibt hingegen die Frage, wie sich die entscheidenden hochschulpolitischen Gremien sowie die Kirchen zum Wissenschaftsstandort Deutschland für dieses innovative und überaus dynamische Forschungsfeld verhalten.