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Ausgabe:

März/2014

Spalte:

353–355

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Cerny-Werner, Roland

Titel/Untertitel:

Vatikanische Ostpolitik und die DDR.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2011. 379 S. m. 16 Abb. Geb. EUR 49,99. ISBN 978-3-89971-875-1.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

Das Verhältnis der DDR zur Katholischen Kirche ist bereits in den kirchengeschichtlichen Arbeiten von Josef Pilvousek und Bernd Schäfer aufgrund der staatlichen und kirchlichen Quellen in der ehemaligen DDR dargestellt worden. Für die Beziehungen zwischen DDR und Vatikan war das allerdings nur begrenzt möglich. Dieses Defizit zu beheben, unternimmt die vorliegende Untersuchung, für die vor allem der Nachlass des Kardinalstaatssekretärs Agostino Casaroli (Fondo Casaroli, 25 laufende Meter Akten) in Parma ausgewertet werden konnte.
Roland Cerny-Werners Arbeit ist klar strukturiert. Das Erkenntnisinteresse konzentriert sich auf die Vatikanische Ostpolitik am Beispiel der DDR, vor allem während des Pontifikats Pauls VI. (1963–1978). Dabei soll besonders der Kommunikationsleistung eines Interessenausgleichs zwischen zwei gegensätzlichen Systemen nachgegangen werden. Die gesamtdeutschen und europäischen Reaktionen darauf finden ebenfalls Beachtung. Vorangestellt ist eine instruktive Information über den Forschungsstand, über die Quellenlage, außerdem Erläuterungen von statistischen Eckdaten zur Verwendung von Begriffen, zu handelnden Personen und zu Formalia.
Im 5. Kapitel wird zunächst ein Überblick über die Vatikanische Ostpolitik nach der Oktoberrevolution bis zum Tod Pius’ XII. gegeben (43–55). Am Ende des 2. Weltkrieges war die für die Katholische Kirche in der Sowjetunion grundlegende Hierarchie zerschlagen und »Antikommunismus blieb ein wesentliches […] Element in der Diplomatie des Vatikans« (49). Vom Zerstörungswillen geprägt war die sowjetische Politik gegenüber dem Vatikan auch in den Nachkriegsjahren. Erst nach dem Tod Stalins wurden im Rahmen der Politik der »friedlichen Koexistenz« einige Gesten der Entspannung wirksam. Ähnlich überblicksartig skizziert der Vf. im 6. Kapitel die Zeit des »Aggiornamento«, d. h. »Das Pontifikat Johannes’ XXIII. und die sechziger Jahre des Pontifikats Pauls VI. im Licht der Beziehungen zu kommunistischen Ländern« (57–79). Die Neuakzentuierung der päpstlichen Diplomatie wurde in der Forschung auch bisher gewürdigt. Erst die weltpolitischen Veränderungen führten zu größerer sowjetischer Flexibilität und Kompromissbereitschaft, die auch nach der Entmachtung Chruschtschows 1964 nicht abriss. Während die sowjetischen Spitzenpolitiker Andrei Gromyko (1966) und Nikolai Podgorny (1967) in ihren Gesprächen mit Paul VI. dessen internationales Prestige für die Friedenspolitik nutzen wollten, war für den Papst die Sorge um die Lage der Katholischen Kirche das zentrale Anliegen. Die Sekretariate für die Einheit der Christenheit (1960 Kardinal Bea) und für die Nichtglaubenden (1965 Kardinal König) brachten den Dialogprozess entscheidend voran. Erkennbare Früchte waren die Stabilisierung der diplomatischen Beziehungen zu Kuba und die Ansätze zu einer Ostpolitik des Vatikans.
Dem theologischen und politischen Paradigmenwechsel wendet sich der Vf. im 7. Kapitel, dem Hauptteil seines Buches, zu: Die Beziehungen des Vatikans zur DDR bis zum Ende des Pontifikats Pauls VI. (81–318). Zu den Determinanten während der diploma­tischen Anerkennungswelle des DDR-Staates gehörten die außenpolitischen Grundsätze (z. B. ideologiegeleitete Zusammenarbeit der sozialistischen Staaten, Konzept der »Friedlichen Koexistenz«) und die Methoden gegenüber der Katholischen Kirche vom Mauerbau bis zum Beginn der 70er Jahre (Differenzierungspolitik, Drängen auf institutionelle Verselbstständigung, Beachtung der kirchlichen Ab­wehrmaßnahmen, z. B. Döpfner-Erlass 1957). Spätes­tens 1964 wurde das taktische Vorgehen erkennbar: Anknüpfend an das Konkordat von 1933 wurde insgeheim die Kontaktaufnahme mit dem Vatikan auf »operativer Linie« vorbereitet. Erst in der Situation eines erhöhten Legitimationsbedürfnisses wurden in der programma­tischen Rede von Hermann Matern am 25.09.1969 in der Parteischule der CDU Grundzüge offengelegt (Anerkennung der globalen vatikanischen Friedensbemühungen, Würdigung päpstlicher Äußerungen zur Soziallehre). Die weitere Entwicklung, den Vatikan als internationale Größe für die Friedenspolitik zu nutzen, wird vom Vf. anhand der Aktivitäten des Politbüromitglieds Paul Verner und des Jenaer Professors für wissenschaftlichen Atheismus Olof Klohr nachgezeichnet, bis Anfang der 70er Jahre diplomatische Kontakte zwischen dem Vatikan und der DDR aufgenommen wurden. Ausführlicher wird die Entstehung der Administratur Görlitz als ein Überbleibsel der Verhandlungen des Vatikans mit Polen geschildert.
1972 kam es zu einem Wendepunkt in den Beziehungen des Vatikans zur DDR, den der Vf. als Epochenwechsel bezeichnet: Nach dem Grundlagenvertrag und der Anerkennungswelle versteht sich die DDR als souveräner Staat, der bei der KSZE als Partner akzeptiert wird und sich ermutigt sieht, offensiver auf den Vatikan zuzugehen (139). In diesem Zusammenhang fasste das Politbüro am 18.07.1972 den einzigen direkten Beschluss (Memorandum zur Übereinstimmung von Diözesan- und Staatsgrenzen) zu einer diplomatischen Offensive gegenüber dem Vatikan. Außerdem kam es zu einem Spitzengespräch zwischen dem Vorsitzenden des Ministerrats Willi Stoph und Kardinal Alfred Bengsch. Für die ersten direkten Kontakte konnte die diplomatische Ebene in Belgrad (apostolischer Delegat Mario Monti und Botschafterin Eleonore Staimer, Tochter Wilhelm Piecks) genutzt werden. Der Versuch der Berliner Konferenz Katholischer Christen (Hubertus Guske), ebenfalls ins Spiel zu kommen, misslang. Bald bot sich die KSZE als verheißungsvolle »diplomatische Drehscheibe« (164) an. Die genaue aktenfundierte Nachzeichnung der Entwicklung der Kontakte von der Begegnung zwischen Erzbischof Joseph Zabkar und dem Delegationsleiter Heinz Oelzner in der Handelsvertretung der DDR in Helsinki (21.11.1972) ist ein Höhepunkt der Darstellung: Phase der Konzepte, Gespräch zwischen Politbüromitglied Werner Lamberz und Erzbischof Casaroli am 24.01.1973 in Rom (Ergebnis: künftige Verhandlungen durch DDR-Botschaft in Rom), Einverständnis der Sowjetunion (Bedingung: Abstimmung mit sozialistischen Staaten), Administratorenlösung für Bistümer mit Grenzüberschreitungen.
Auf den zu erwartenden Widerstand der Bundesregierung und der Katholischen Kirche Deutschlands gegen eine Trennung der Kirche geht der Vf. anschließend ausführlich ein (195–242), wobei er die wichtige Rolle Kardinal Bengschs betont (»personalisierte Schaltstelle«). Obgleich die unterschiedlichen Rechtspositionen des Vatikans und der Bundesrepublik nicht ausgeglichen werden konnten, blieb das Verhältnis beider Partner belastbar.
Die Stagnation, die auf die erfolgreiche Verhandlungshoch­phase im Sommer 1973 (Ernennung von drei apostolischen Administratoren) folgte, wurde erst durch den Politbürobeschluss vom 24.06.1974 beendet, in dem neue Verhandlungen zu offenen Punkten festgelegt wurden. Um »einen Modus Vivendi auf hohem Ni­veau« (262) zu erreichen, wurde ein Besuch von Casaroli in der DDR für möglich gehalten. Vorbereitung und Durchführung, einschließlich Pastoralreise durch die DDR und Auswertungen danach, werden ausführlich nach den Akten geschildert. Die Berliner Ordinarienkonferenz wurde zwar zur Bischofskonferenz erhoben, erhielt aber keinen nationalen Rang, den die DDR-Regierung angestrebt hatte. Mit dem Tod Pauls VI. am 06.08.1978 endete diese Phase der vatikanischen Ostpolitik, der Casaroli »auch konzeptionell« seinen Stempel aufdrückte (317).
Nur knapp wird in einem 8. Kapitel die Beziehung zwischen der DDR und dem Vatikan im Pontifikat Johannes Pauls II. skizziert (319–324), da hierfür auch keine Quellen im »Fondo Casaroli« zur Verfügung stehen. Die Neuakzentuierung bezeichnet der Vf. als »offenkundige Polenzentriertheit«, durch die es für die DDR »zu keiner inhaltlichen Weiterentwicklung der Beziehungen« (320 f.) gekommen sei. Die Erörterung eines Papstbesuches sei vor allem innenpolitisch bestimmt gewesen. In seinen Schlussbetrachtungen (9. Kapitel: 325–355) zieht der Vf. noch einmal Grundlinien der Untersuchung (z. B. Zielorientierung der Vatikanischen Ostpolitik, Trennung von kirchenpolitischen Intentionen und internationa len Ambitionen, Moralinstanz in Friedensfragen, Dialog­bereitschaft auf der Grundlage gegenseitiger Grundakzeptanz) übersichtlich nach, bevor er sie mit einer Bibliographie, einem Verzeichnis der genutzten Archive und Bestände sowie einem Nachweis zu den 16 instruktiven Abbildungen (Personen und Dokumente) abschließt. Auf ein Register verzichtet er wegen der Überschaubarkeit der handelnden Personen. Die Benutzbarkeit des Buches wird dadurch erschwert, da Informationen zu Personen nicht immer an einer Stelle zu finden sind (z. B. Hans-Joachim Seidowski: 29.141.312). Ähnliches trifft auf das fehlende Abkürzungsverzeichnis zu (z. B. BK: Berliner Konferenz Katholischer Christen).
Die Arbeit ist gut lesbar, Überschriften sind nicht selten journalistisch gehalten, die zahlreichen italienischen Zitate werden übersetzt, die Quellen umsichtig interpretiert (nicht einsichtig ist, warum der »Döpfner-Erlass« von 1957 nach der Abschrift in der Dienststelle des Staatssekretärs zitiert wird [93] und nicht nach der sonst verwendeten Quellenausgabe von Martin Höllen, in der auch Genaueres zu den Fassungen zu lesen ist). Die Problematik der Vatikanischen Ostpolitik, der Staatsseite ohne Forderungen entgegenzukommen, um den Status vivendi zu sichern, wird vom Vf. mehrfach angesprochen (z. B. 354 f.), eine innervatikanische Dis­kussion dagegen wird so gut wie nicht greifbar. Vermutlich ist das teilweise durch seine Quellenbasis bedingt. Der Vf. hat die Vatikanische Ostpolitik gegenüber der DDR bis 1978 nicht nur quellennah aufgezeigt und verstehbar gemacht, er scheint sich auch weitgehend mit seinem Untersuchungsgegenstand identifiziert zu haben. Die punktuellen parallelen Vorgänge im Verhältnis der DDR zur Evangelischen Kirche werden meist etwas zu pauschal angedeutet. Die erwähnte Monographie von Schäfer wird für das Verhältnis der DDR zur Katholischen Kirche in der DDR (vor allem für die Stasiverflechtung, z. B. Seidowski, Guske, Hubertus Mohr) maßgeblich bleiben. Der Vf. muss sie nur an wenigen Stellen korrigieren (136) oder ergänzen (101). Für seine Untersuchung über die Beziehungen des Vatikans zur DDR wird für lange Zeit das Gleiche gelten.