Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2014

Spalte:

350–352

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schlögl, Rudolf

Titel/Untertitel:

Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850.

Verlag:

Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2013. 544 S. = Geschichte/Zeitgeschichte. Geb. EUR 28,00. ISBN 978-3-10-073588-1.

Rezensent:

Jobst Reller

Rudolf Schlögl, seit 1996 Ordinarius für Neuere Geschichte an der Universität Konstanz und seit 2006 Sprecher des ersten deutschen geisteswissenschaftlichen Exzellenz-Clusters »Kulturelle Grundlagen von Integration«, stellt in der Danksagung am Ende (540) fest, dass dieses Buch u. a. wegen der »anfangs unüberschaubaren Weite des Themas« länger als üblich auf die Vollendung warten musste. Das Literaturverzeichnis reicht von S. 506 bis S. 539. Das signalisiert bereits die Brisanz der »Zumutung der Moderne«, aber auch die Schwierigkeit des Themas. Die Abgrenzung der Zeitphase zwischen 1750 und 1850 überzeugt, weil gemeinhin in der deutschen Ge­schichtsschreibung in der ersten Hälfte die Phase der Aufklärung unter den Bedingungen des »ancien régime«, in der zweiten Hälfte liberale Verfassungsbewegung, Romantik und Restauration so-wie Erweckungs-, Diakonie- und Missionsbewegungen angesetzt werden.
Einleitend präzisiert S., dass es ihm nicht um die Geschichte der europäischen Christentümer geht, sondern um die »Geschichte des europäischen Christentums als Religion der europäischen Gesellschaft am Beginn der Moderne« (9). Dieser Ansatz unterscheidet sich von üblichen institutionsgeschichtlichen Darstellungen in Profan- und Kirchengeschichte, findet aber auch in der Religionsgeschichte wenig Anhalt. Einzig eine kommunikations- und medientheore­tische Grundlegung aus der Systemtheorie bietet eine ausreichende me­thodische und begriffliche Klarheit. Relationen sowie Handlungs­muster von Individuen zu anderen Individuen, Institutionen, Gruppen und Einrichtungen sind beschreibbar, ohne gesellschaft­liche Ordnungsmuster biographisch erklären zu müssen. Es geht darum zu beobachten, wie das Christentum als Religion der Gesell schaft »in Form gesetzt« wird (11). Die Betrachtung von sozialen Phänomenen und Figurationen im Blick auf ihre Funktion in der Gesellschaft lässt Problemlagen als Lösungen erkennen. »Religiöse Sinnbildung begründet damit ein bestimmtes Welt- und Selbstverhältnis.« Religion steht am Urgrund menschlicher Vergesellschaftung, um Unvertrautem Sinn zu geben (13).
Die vier Hauptkapitel I. »Das Christentum im Ancien Régime«, II. »in der Bürgergesellschaft«, III. »in der Vergesellschaftung der Moderne« und IV. »als Kultur« im Einzelnen nachzeichnen zu wollen, würde den Rahmen der Rezension sprengen. Interessant ist vor allem immer wieder die gesamteuropäische Zusammenschau. Man lese z. B. über das Einkommen der Pfarrer in England, Frankreich und deutschen Territorien im 18. Jh. (74 ff.) oder über die Rechristianisierung der Bestattungen im Lauf des 19. Jh.s (282 ff.) oder über die Bedeutung vergleichsweise günstiger Printmedien mit einem religiösen Marktanteil von etwa 10 % (288).
Im letzten Kapitel »Schluss: Säkularisierung?« wird festgehalten, dass Einigkeit über den tiefen Einschnitt herrsche, den die Säkularisierungen des späten 18. bzw. beginnenden 19. Jh.s bedeuteten, dieser jedoch durchaus kontrovers gedeutet werde.
Drei Konzepte des Säkularisierungsbegriffs sind zu unterscheiden, ein normatives, ein empirisch gehaltvolles und ein episte­mologisch beobachtendes. Ersteres umfasst die Säkularisierungs­erzählung als Errungenschaft der Moderne, die im Gegenzug al­lerdings korrespondierend zu europäischem Machtverlust fundamentalistische Gegenerzählungen wie in der islamischen Welt provoziert (A. Koschorke). Die letztgenannten Konzepte gehen in verschiedenen Ausgestaltungen ineinander über, auch wenn Einigkeit über das Phänomen der Differenzierung in modernen Gesellschaften besteht.
Bis ins Ende des 19. Jh.s diente das europäische Christentum in seinen sozialen Erscheinungsformen oft und vielfältig der Reproduktion der sozialen und politischen Ordnung. Die französische Revolution zeigte erstmals die kurzfristige Umwandlung der Untertanenschaft eines christlichen Monarchen in die mit der Chiffre »Nation« bezeichnete emphatisch verbundene Gemeinschaft, die sich ihre eigene politische Ordnung setzte, allerdings auf die Kategorie der Religion im Kult der Vernunft und des Höchsten Wesens eben auch nicht verzichtete. Katholische Weltkirche wie sich auch weiterhin in stärkerer Staatsnähe netzwerkartig organisierender Protestantismus hatten Anteil an der »imperialistischen Zivilisierungsmission Europas«, die globalisierend die »Weltreligionen« erst hervorbrachte.
Das Christentum behielt vor allem Bedeutung für die Insze-nierung der politischen Akteure (446). Auch fundamentalistische Geltungsansprüche des Christentums nutzten die Prozesse der Demokratisierung. Konservative und romantische Utopisten lieferten in den neuen Amalgamen von Christentum und Vernunft die Kräfte der Kohäsion in den Nationen. Plurale Bürgergesellschaften entwerteten und privatisierten durch ihre Entstehung die sozial inklusive Bedeutung der Bekenntnisse und ihrer universalen Wahrheitsansprüche. Korporative Zugehörigkeit wandelte sich in durch Entscheidung charakterisiertes bewusstes Beteiligungsverhalten. S. formuliert eine Fülle von je für sich bedenkenswerten Deutungen des Geschehens: »Die kirchliche Gottesverehrung gewann neue Attraktivität dort, wo sie dazu beitrug, die Spannungen und Probleme der Individualitätsbildung in der polykontextuellen Ordnung der funktional differenzierten Gesellschaft zu bearbeiten.« (450) Oder in Bezug auf die Rolle der Frau im Rahmen des aufkommenden Familienbegriffs: »Auf diese Weise entstand in den erziehenden, armenpflegenden und missionierenden Kongregationen und Vereinen in allen Konfessionen eine neue öffentliche Frömmigkeit, die Lebensentwürfe jenseits der bloßen Existenz als treusorgende Ehefrau möglich machten oder auch nur neue, öffentliche Räume erschlossen, die über die Häuslichkeit der Familie hinausführten.« (451) Erweckungs- und Missionsbewegungen hätten demnach durchaus Anteil an emanzi­patorischen Bestrebungen. »Das Christentum wurde im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem massenmedialen Phänomen«, durch »Zeitungen, Zeitschriften, Vereinsorgane, An­dachts- und Gebetbücher«. »Religion vollzog sich gesellschaftlich in Medienereignissen« (451). »Die Transzendenz war nicht nur ins Diesseits gerückt, sie war in den Menschen selbst eingewandert.« (453)
Bringt man die Luhmannsche Kategorie von Religion als sinnstiftendes Element in Anschlag, dann verlieren religiöse Konzepte wie Prädestination und Erbsünde, die lange erfolgreich waren, gegenüber der imperativen modernen Individualität ihre Plausi­bilität (455). Zwar belegten valide Befunde, dass mit der Zunahme von sozialer Sicherheit und Planbarkeit des Lebens Anlässe für religiöse Sinnfragen und Sinnstiftungen abnehmen, dennoch müsse sich der Historiker einer Prognose enthalten, weil Christentum oder auch Islam in jetzt unbekannten individuellen oder gesellschaftlichen Problemlagen der Zukunft Sinn stiften können. Säkularisierung wie gesellschaftlich funktionale Religion seien beide empirisch zu beobachten (456). Betrachtet man das von S. skizzierte vielfältige und kreative Bild christlicher Interaktion auch unter den bis 1850 veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, das von Anpassung, kritischem Dialog über Widerstand bis zu fundamentalistischer Verweigerung reicht, so dürfte man verhalten zuversichtlich reagieren. Offenbar war die Moderne nicht nur Zumutung.
S.s Buch besticht durch eine ganze Reihe präziser sozial- und geis­tesgeschichtlicher Charakteristiken des neuzeitlichen europä-ischen Chris­tentums, die allen an der Säkularisierungsdebatte in­teressierten Lesern wertvolle Anregungen liefern dürften. Leider fehlt ein Personenregister, das den Band noch weiter erschlossen hätte.