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Ausgabe:

März/2014

Spalte:

349–350

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Hartmut

Titel/Untertitel:

Transformationen der Religion in der Neuzeit. Beispiele aus der Geschichte des Protestantismus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 318 S. = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 230. Geb. EUR 59,99. ISBN 978-3-525-35885-6.

Rezensent:

Thomas K. Kuhn

Diese Aufsatzsammlung des Historikers und ehemaligen Direktors des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen Hartmut Lehmann umfasst in drei Teilen insgesamt 21 deutsch- und englischsprachige Beiträge aus gut 20 Jahren. Die Überschriften der drei Teile markieren seine Forschungsschwerpunkte: 1. »Im Sog der Krisen des 17. Jahrhunderts«, 2. »Probleme und Perspektiven der Pietismusforschung« und 3. »Aus der Ära des Nationalismus in die Ära der Säkularisierung«. Wie L. im Vorwort ausführt, geht es ihm darum, »von unterschiedlichen Fragestellungen aus die Gründe für die besondere Labilität des Protestantismus« zu diskutieren. Er versteht seine Studien zudem als »erste Schritte hin zu einer neuen und umfassenden Analyse der Eigenart des Protestantismus« (7 f.).
Die hier abgedruckten Beiträge sind ebenso wie die anderen Veröffentlichungen L.s für die christentumsgeschichtliche Forschung überaus anregend. Hierfür sind wenigstens fünf Gründe zu nennen: Zum einen verfügt L. über ein breites historisches Sensorium, um das vielgestaltige Phänomen des Religiösen in Neuzeit und Moderne umsichtig und angemessen zu fassen. Zweitens tritt er stets in einen kritisch-konstruktiven Dialog mit den Vertretern und Vertreterinnen der kirchengeschichtlichen Forschung. Drittens an­erkennt er offensiv die Notwendigkeit interdisziplinärer wie internationaler Kooperation bei der Erforschung von Neuzeit und Mo­derne. Viertens besitzt er die Gabe, sowohl historische Ereignisse als auch historiographische Probleme in einer wohltuend un­prä­ten­tiösen wissenschaftlichen Prosa zu präsentieren. Fünftens schließlich kann er präzise und umsichtig Forschungstendenzen und -defizite zusammenfassen und von dieser Basis aus innovative Fragestellungen formulieren und weiterführende Forschungsperspektiven aufreißen. Die hier wieder veröffentlichten Aufsätze ge­ben von diesen fünf Vorzügen ein beachtenswertes Zeugnis.
Schon 1980 widmete sich L. monographisch in seinem Buch »Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot« der »Krise des 17. Jahrhunderts«. Im Gegensatz zu dieser frühen Darstellung beurteilt er die Problematik inzwischen wesentlich differenzierter, wie er in seinem perspektivischen Beitrag »Die Krisen des 17. Jahrhunderts als Problem der Forschung« darlegt. Die weiteren Aufsätze dieses Kapitels nehmen die Thematik der »Krisen« auf, indem sie unterschiedliche Textgattungen wie Kometenflugschriften, Kirchenlieder, Wunder in Katastrophenzeiten oder endzeitliche Traktate wie jener von Daniel Schaller aus dem Jahr 1595 untersuchen. Gerade Kirchenlieder waren es im 17. Jh., die nicht allein neue Formen endzeitlichen Denkens propagierten, sondern auch Ausdruck einer intensivierten und gesteigerten eschatolo-gischen Haltung sind. Sie reagierten u. a. auf eine Klimaverschlechterung, die als endzeitliche Zeichen gedeutet wurden.
Nicht nur als Herausgeber des vierten Bandes der Geschichte des Pietismus, der 2004 mit dem Titel »Glaubenswelt und Lebenswelten« erschien, hat sich L. einen Namen in der Pietismusforschung erworben. Seine Kölner Habilitationsschrift »Pietismus und welt­-liche Ordnung in Württemberg vom 17. bis zum 20. Jahrhundert« aus dem Jahr 1969 ist fast schon ein Klassiker der neueren Pietismusforschung. Im zweiten Teil liegen vor allem solche Beiträge vor, mit denen sich L. in die manchmal überaus heftigen und gelegentlich mit allzu harten Bandagen geführten Diskussionen innerhalb der Pietismusforschung eingebracht hat. Seine Beiträge zeichnen sich wohltuend durch ihre nüchterne Sachlichkeit aus. Hier ist u. a. der auf dem Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung in Halle 2001 gehaltene Vortrag »Aufgaben der Pietismusforschung im 21. Jahrhundert« zu nennen, in dem L. zum einen die Fortschritte der Forschung skizziert und dabei zum andern auch nicht »Defizite und Misserfolge« verschweigt und drittens weitsichtig neuere Forschungsaufgaben anspricht. Diese umfassen neben der Geschichte von Religion und Frömmigkeit, forschungsgeschichtliche Probleme, aber auch religionssoziologische Aspekte in der Pietismusforschung sowie Fragen zur Periodisierung. Weiter ist der Beitrag »Zur Charakterisierung der entschie­denen Christen im Zeitalter der Säkularisierung« von besonderem Interesse, in dem L. die komplexen Zusammenhänge von Pietis­mus und Er­weckungsbewegung erörtert und vorschlägt, die Ge­schichte der Erweckungsbewegungen bereits im 17. Jh. beginnen zu lassen, um dann bis ins 20. Jh. hinein drei Wellen von Erweckungen zu kennzeichnen.
Im letzten Teil, der neben drei deutschen vier englischsprachige Aufsätze vereint, wendet sich L. nach »The History of Twentieth-Century Christianity as a Challenge for Historians« den preußischen Militärseelsorgern, der Missionsbewegung, aber auch Adolf von Harnack, Hans Delbrück, Paul Tillich und Heinrich Bornkamm zu. Diese thematisch disparat erscheinenden Studien verbinden die Begriffe Modernisierung, Nationalismus und Säkularisierung.
Insgesamt gesehen bietet der Band nicht nur ein lesenswertes breites Spektrum religionsgeschichtlicher Forschung, ihrer Probleme und Methoden, sondern regt zweifelsohne zu methodisch re­flektierten Forschungen und innovativen Fragestellungen an.