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Ausgabe:

März/2014

Spalte:

344–346

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wall, Robert W., with Richard B. Steele

Titel/Untertitel:

1 & 2 Timothy and Titus.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2012. 432 S. = The Two Horizons New Testament Commentary. Kart. US$ 24,00. ISBN 978-0-8028-2562-9.

Rezensent:

Lorenz Oberlinner

Nach einer auf breiter Basis akzeptierten und auch gut begründeten Erklärung der Pastoralbriefe als pseudepigraphisches Briefkorpus, mit dem ein unbekannter Verfasser unter dem Namen des Paulus eine in den Grundzügen existierende Sammlung von Paulusbriefen abschließen wollte, mehren sich in den letzten Jahren die Stimmen, die zum einen eine einheitliche Betrachtung der drei Schreiben in Frage stellen, und die zum anderen eine von Paulus stammende Vorgabe zumindest in einem der Texte (vor allem in 2Tim) erkennen zu können meinen.
Da die Vorentscheidung über diese grundlegende Frage der Authentizität die Auslegung mit bestimmt, stellt auch der Autor des vorliegenden Kommentars der einzelexegetischen Analyse ein kurzes »Vorwort« (IX–XII) und eine umfassende »Einführung« voran (1–45). In diesen beiden Abschnitten benennt W. seine Kriterien für die Textinterpretation: die Verpflichtung auf »a canonical approach« und den Aufweis des theologischen Ertrags für den heutigen Leser (XI, ausführlich 2–4). Die zur Beurteilung der Past als Pseudepigrapha angeführten Argumente sind s. E. nicht überzeugend, zumal die Unterschiede auch erklärbar wären mit dem Einsatz von Sekretären und Koautoren. Zudem seien Spekulationen über den Verfasser mit der Entscheidung der Kanonzugehörigkeit eines Textes »irrelevant« (4–7). Das Verständnis der Past als »apostolic letters of succession« (7–11) und die Entwicklung der »Kanonisierung der Sammlung von Paulusbriefen«, einschließlich der gegenüber dem »paulinischen Kanon« unterschiedlichen ekklesiologischen Konzeption (Stichwort »Haushalt Gottes«) und für die Glaubenspraxis (Stichwort »gute Werke«) relevanten Argumente für die kanonische Ingeltungsetzung der Past, verstanden als »a necessary balance to the church’s appropriation of the Pauline canon« (32.15–36), werden als die Auslegung bestimmende Faktoren in der Einleitung ebenso angesprochen wie die Begründung der Miteinbeziehung des Paulusbildes der Apg in die Auslegung (36–40). In der Bezeugung des außerordentlichen Charismas und dem Glaubenszeugnis des Paulus (vgl. die Miletrede Apg 20,17–35) werde dessen Bedeutung für die Zukunft der Kirche erschlossen, und dies kennzeichne genau die Krise, die in den Past für die Zukunft ins Auge gefasst werde: Timotheus und Titus »must continue the apostle’s legacy without him« (39).
Der Aufbau der exegetischen Analyse und deren theologische Auswertung sind dreigliedrig. Nach einer bisweilen eigenständig akzentuierten Übersetzung wird die an Einzelperikopen orientierte Auslegung in einem zweiten Schritt ergänzt durch (an Tert., praescr. 13 anknüpfende) Stichworte zu »Regeln des Glaubens« (»a rule of faith reading […]«) (40–43), die in den Briefen zur Sprache kommen: Gott als Schöpfer, Jesus Christus als Herr, die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, christliches Leben und Jüngerschaft, sowie Vollendung in einer neuen Schöpfung (154–200 zu 1Tim; 289–318 zu 2Tim; 374–389 zu Tit). Es folgt jeweils eine von R. B. Steele verfasste »Fallstudie« (case study) zur Realisierung von Themen aus den Past in der Methodistischen Kirche: zu 1Tim 1,1–20, bes. V. 5, mit Aussagen zur politischer Ordnung, Selbstbeherrschung und Seelsorge (201–214); zu 2Tim, »a letter of succession« (215 f.), ausgehend von 2,13 f., zum Thema »Nachfolge« (319–329); zu Tit, anknüpfend an 3,4–7, zu einem vom Heiligen Geis­t bestimmten christlichen Leben (390–401).
Eine Zwischenbilanz: Die Miteinbeziehung fundamentaler Glau­benssätze und der Blick auf eine zum Teil an die Past an-knüpfende Entwicklung christlicher Frömmigkeit gibt dem Kommentar ein besonderes Profil. Doch gleichzeitig geht mit der stark systematisch geprägten theologischen Einbindung und der aktualisierenden Inanspruchnahme das verloren, was die Past bei aller Übereinstimmung mit Paulus und dem Paulusbild der Apg kennzeichnet: in einer die Theologie, Christologie und Soteriologie be­rei­chernden Weise, aber auch in den einseitigen und Kritik her-aus­fordernden Festlegungen christlicher Gemeinden durch eine androzentrische und die Stellung der Frau in der kirchlichen Ge­meinschaft polemisch verzeichnende Ekklesiologie. Die methodologischen Vorentscheidungen – Paulus als Verfasser, die Festlegung auf eine kanonische Exegese und die durchgängige Verknüpfung mit dem Paulusbild der Apg – führen zu einer deutlichen Nivellierung der Themen der Past. Dazu drei Beispiele:
1. Der im Rückblick auf seine Vergangenheit formulierte Dank des Apostels für seine Berufung in 1Tim 2,12–17 (70–75) wird mit Zuhilfenahme der Darstellung der Apg interpretiert, wo die »dramatische Bekehrung des Paulus« (Apg 9,1–9) und seine Berufung zur Verkündigung (9,15 f.; 26,15–18) verknüpft sind. – Gewiss liegt eine Übereinstimmung darin vor, dass in Apg, in 1Tim und im authentischen Zeugnis des Paulus (Gal 1,11–17) der »alles entscheidende Augenblick seines Lebens« festgehalten ist (71). Unberücksichtigt bleibt dabei jedoch die Spannung zwischen der Erklärung seines Verhaltens als Verfolger der Christengemeinde. Paulus erklärt selbstbewusst, dass er dabei »untadelig« war in der vom Gesetz geforderten »Gerechtigkeit« (Phil 3,6; ähnlich Gal 1,14). Die Selbstanklagen als »Lästerer« und »Frevler« und die Hinweise auf »Unwissenheit« und »Unglaube« in 1Tim sind nur von pseudepigraphischer Abfassung her zu erklären.
2. Ähnliche Probleme zeigen sich in Urteilen zu Texten der Ekklesiologie, 1Tim 3,1b–7 (98–107) und Tit 1,5–9 (339–342). Mit Apg 6,1–7 wird die Übereinstimmung in der Festlegung auf eine Gruppe von Gemeindeleitern (»congregational leadership«) betont; dabei deutet W. die Bezeichnung »Episkopos« (übersetzt mit »administrator« statt des anachronistischen »bishop«) in 1Tim 3,2 und Tit 1,7 trotz der singularischen Verwendung als Bezeichnung für einen »Ältestenrat« (» a collective metaphor for a council of elders«), der in der gemeinsamen Sorge für die täglichen Aufgaben für den »Haushalt Gottes« als »Episkopos« fungiere (101 f.; vgl. 340). Die Autorität hinter den Forderungen an den Presbyter/Episkopos sei zwar der »charismatische« Apostel Paulus, der Titus mit der Bewahrung der gesunden Lehre und der Neuordnung der Gemeinde beauftragt (331); doch erst die Verankerung »in a canonical context« begründe die normative Bedeutsamkeit für die Kirche (331–334).
3. Bei dem auch nach W. für »a canonical approach« schwierigen Abschnitt über die Stellung der Frau in der Gemeinde 1Tim 2,8–3,1a (85–98) – »how can such a text function canonically?« – liege die Schwierigkeit, die dieser Text bereitet, gerade darin, dass er losgelöst von anderen kanonischen Texten ausgelegt wird. Diese Weisung über Frauen überbiete aber nicht andere, frühere Texte im Corpus Paulinum (1Kor 7; 11; 14; Gal 3,28), sondern mache sie sich zunutze und erläutere sie (86 f.).
Doch kann eine solche Harmonisierung die Spannung zwischen dem eindeutigen Zeugnis des Paulus zur missionarischen Tätigkeit von Frauen und der Forderung nach dem Ausschluss der Frauen von der Verkündigung und den massiven negativen Urteilen der Past (auch 2Tim 3,6 f.) wirklich lösen?
Mit der Anbindung der Past an die Autorität des Paulus sowie mit der für die Auslegung als unverzichtbar angesehenen Verknüpfung mit dem Kanon und der Einbindung in zentrale Themen der christlichen Verkündigung kann W., das ist die Stärke dieses Kommentars, die Botschaft der Past als aktuell wichtige und wirksame Verkündigung aufweisen. Mit der Festlegung auf den »canonical approach« als Interpretationskriterium verlieren allerdings die Past notgedrungen ihre Eigenheit und Schärfe (im positiven wie im negativen Sinn) und ihre zeitgeschichtlich bedeutsame Positionierung. Sind es nicht gerade die Vielfalt und Vielgestaltigkeit der Glaubenszeugnisse, die den neutestamentlich-biblischen Ka­non auszeichnen und für die Verkündigung fruchtbar ma­chen?