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Ausgabe:

März/2014

Spalte:

332–334

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kilunga, Bambi Godefroid

Titel/Untertitel:

Prééminence de YHWH ou autonomie du prophète. Etude comparative et critique des confessions de Jérémie dans le Texte Hebreu Massorétique et la »Septante«.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. XVI, 224 S. = Orbis Biblicus et Orientalis, 254. Geb. EUR 69,99. ISBN 978-3-7278-1717-5 (Academic Press Fribourg); 978-3-525-54377-1 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Hermann-Josef Stipp

Die Debatte um das Verhältnis der divergierenden Textformen des Jeremiabuchs, vertreten durch MT und LXX, beschäftigt die exegetische Zunft weiterhin intensiv. Hier ist eine bei Adrian Schenker angefertigte und 2007 von der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg angenommene Dissertation zum Thema anzuzeigen, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Klärung der Frage durch einen detaillierten Vergleich anhand eines Teilkorpus voranzutreiben: der sogenannten Konfessionen, denen K. Jer 11,18–12,6; 15,10–21; 17,12–18; 18,18–23 und 20,7–18 zurechnet. Die Wahl des gestreuten Textbündels rechtfertigt K. mit der Tatsache, dass die Konfessionen unter textgeschichtlicher Rücksicht bislang eher am Rande des Interesses standen.
Nach einem Überblick über den Gang der Forschung zum Text des Jeremiabuchs und zu den Konfessionen (Kapitel 1) entfällt der Hauptteil des Buches auf das umfangreiche 2. Kapitel, das sämtliche Lesartendifferenzen zwischen MT und LXX im Beispielkorpus erörtert. Die Ergebnisse untermauern zunächst jene Lehrmeinung, die – nach Ansicht des Rezensenten völlig zu Recht – derzeit eine immer breitere Gefolgschaft findet: Die Übersetzungstechnik der Jer-LXX »est souvent très littérale, pour ne pas dire ›littéralissime‹«. Deshalb sei Jer-LXX auch ein brauchbares Instrument zur Rekonstruktion ihrer nichtmasoretischen Vorlage, die eine ältere Entwicklungsstufe des Buches repräsentiert. In den weit überwiegend poetischen Konfessionen ist die Ausbeute an vormasoretischen Varianten allerdings gering, denn dort sind MT und die LXX-Vorlage »quasi identique« (192), entsprechend dem Umstand, dass die Lesartendifferenzen sich hochgradig in den Prosapassagen konzentrieren, weil die prämasoretische Expansion des Buches bestimmten Mechanismen folgte, die namentlich in Prosa- und insbesondere Erzählkontexten griffen (warum diese altbekannte Tatsache für K. Abstriche an der Feststellung verlangt, dass wir zwei verschiedene Textformen mit je eigener Entwicklung vor uns haben [161], verstehe ich nicht).
Anschließend schreitet K. zu teilweise neuen Thesen voran, in­dem er jene Sonderlesarten vertieft analysiert, von denen er sich Aufschlüsse über den Zeitpunkt, den Horizont und die Aussage­absicht der prämasoretischen Rezension verspricht. In Kapitel 3 ba­siert er seine Datierung auf 17,12: [םוֹקְמ ןוֹשׁאִרֵמ] םוֹרָמ דוֹבָכ אֵסִּכּ וּנֵשָׁדְּקִמ, meist etwa wie folgt übersetzt: »Ein Thron der Herrlichkeit, erhaben von Anbeginn, ist die Stätte unseres Heiligtums.« ןוֹשׁאִרֵמ in dem durch eckige Klammern markierten masoretischen Überhang sei jedoch komparativ zu verstehen: »Ein Thron der Herrlichkeit, erhabener als der erste, ist die Stätte unseres Heiligtums.« Der prämasoretische Ergänzer habe damit seine Vorlage praktisch zur Erfüllungsnotiz von Hag 2,9 umgeformt; folglich habe er wohl bald nach der Einweihung des zweiten Tempels, d. h. um die Wende vom 6. zum 5. Jh. vor Chr. gearbeitet. Damit erneuert K. die Frühdatierung des masoretischen Sonderguts, die bereits Y. Goldman vertreten hatte (Prophétie et royauté au retour de l’exil. Les origins littéraires de la forme massorétique du livre de Jérémie [OBO 118]. Fribourg; Göttingen 1992), freilich mit der Einschränkung, dass für K. noch mehrere Jahrhunderte verstrichen, bis die masoretische Ausgabe im 3. Jh. v. Chr. ihren Endstand erreichte. Diese Begrenzung der Frühdatierung auf Ausschnitte des Materials räumt indes nicht die Bedenken gegen den Ansatz aus: Weiterhin werden wenige Fachvertreter geneigt sein zu glauben, dass der ge­meinsame Ahne von MT und LXX-Vorlage schon im 6. Jh. vollendet worden sein sollte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Auch die LXX bezeugt den aramäischen Vers 10,11, der kaum so früh in das Buch eingegangen sein dürfte. Ferner würde der Bezug von ןוֹשׁאִרֵמ auf den salomonischen Tempel mehr überzeugen, wenn das Heiligtum im masoretischen Sondergut eine größere Rolle spielte. Es wird dort in­des allenfalls indirekt thematisiert in den Nachträgen zu 27,19–22, die sich mit dem Schicksal der Tempelgeräte befassen. Zudem fehlt eine Antwort auf die Frage, warum der masoretische Überschuss 39,4–13 in V. 8 ausgerechnet die Tempelzerstörung mit Schweigen übergeht. Die »instance sacerdotale officielle« (196), der K. das masoretische Sondergut zuschreibt, hätte jedenfalls in ihren Beiträgen kaum für das Priestertum typische Spuren hinterlassen.
Plausibler scheint die Intention, die K. hinter den prämasoretischen Retuschen in den Konfessionen ausmacht: Ihr Schöpfer wollte »la prééminence de YHWH dans son rapport avec Jérémie« (194) unterstreichen, eine Tendenz, die besonders deutlich in 11,18 und 15,17 zutage tritt. Gewiss kann man über Einzelheiten geteilter Meinung sein; so wäre etwa in 12,4 auch eine bloße Verschreibung von וּנֵתֹחְרָא* (LXX-Vorlage) zu וּנֵתיִרֲחַא (MT) zu erwägen, wie sie der Apparat der BHS annimmt. Doch ist K.s Exegese der masoretischen Sonderlesarten in den Konfessionen insgesamt glaubwürdig. Wie mir scheint, handelt es sich dabei um einen Teilaspekt eines Nachdrucks auf der Geschichtssouveränität JHWHs, der das masore­tische Sondergut in Jer generell auszeichnet (vgl. Gottesbildfragen in den Lesartdifferenzen zwischen dem masoretischen und dem alexandrinischen Text des Jeremiabuches, in: J. Cook/H.-J. Stipp [Hrsg.]: Text-critical and Hermeneutical Studies in the Septuagint [VT.S 157], Leiden 2012, 237–274).
K. hat eine solide Studie vorgelegt, die einen anregenden Beitrag zur Diskussion um die Textüberlieferung des Jeremiasbuchs leistet und der Stimme Afrikas in der Exegese weiteres Gehör verschaffen wird.