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Ausgabe:

März/2014

Spalte:

319–320

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sinai, Nicolai

Titel/Untertitel:

Die Heilige Schrift des Islams. Die wichtigsten Fakten zum Koran.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2012. 126 S. m. Tab. = Herder Spektrum, 6512. Kart. EUR 8,99. ISBN 978-3-451-06512-5.

Rezensent:

Christian Rother

An Einführungen zum Koran besteht im deutschsprachigen Raum kein Mangel, und mit den Monographien von Bobzin, Cook und Hofmann liegen mittlerweile einschlägige Arbeiten vor, die in Umfang und Format mit dem hier anzuzeigenden Buch des in Oxford lehrenden Islamwissenschaftlers Nicolai Sinai vergleichbar sind. Freilich machen sich diese Einführungen in Anbetracht der Komplexität ihres Themas nicht gegenseitig überflüssig, sondern ergänzen sich, zumal jeder Autor seinen eigenen Zugang zum Koran hat und eigene thematische Schwerpunkte setzt.
Für den Neuwirth-Schüler S. steht neben den literarischen Formen des Korans und seiner Rolle innerhalb des Islams der historische Entstehungskontext im Zentrum der Betrachtung. Die Entstehung des Korans beschreibt S. in direkter Auseinandersetzung mit der entsprechenden Forschungsliteratur. So argumentiert er z. B. ausführlich sowohl gegen Wansbroughs Spätdatierung der Koranredaktion als auch gegen Crones Lokalisierung der Korangenese in einer näher an Syrien und Palästina gelegenen Region und plädiert stattdessen für eine auf »Grundzüge reduzierte[n] Version des traditionellen islamischen Geschichtsbilds« (34), wonach der Korantext unmittelbar im Anschluss an Mohammed im westlichen Arabien entstanden ist. Dass das nicht bedeutet, das koranische Korpus entstamme einer Art kulturellem Vakuum, belegt S. im zweiten Teil. Nicht nur setzt der Koran bei seinen Hörern Vertrautheit mit der biblischen Tradition voraus; er weist zudem auch sprachlich deutliche Spuren eines Kontakts mit dem syrisch-mesopotamischen Raum auf, wobei S. es ablehnt, daraus die Konsequenz zu ziehen, den Ort der Korangenese zu verschieben. Ebenso kritisiert er Luxenbergs These, derzufolge dem Koran ein in syrisch-aramäischer Sprache verfasstes christliches Werk zugrunde liege, als reduktionistisch. Sofern im vorislamischen Arabien die Bevölkerungsmehrheit weder christlich noch jüdisch gewesen zu sein scheint, bilde ein Hauptadressat des Korans das altarabische Heidentum. Hervorhebenswert erscheint hier S.s Hinweis auf einen Wandel im Religionsverständnis: Der Koran verabschiede sich von einer dem antiken Polytheismus vergleichbaren Form von Religion, die primär im Ausführen kultischer Verrichtungen wie Opfer- und Pilgerriten bestehe, und rücke stattdessen den theologischen Wahrheitsanspruch in den Vordergrund. Folgerichtig beschließt S. seine Erörterungen zum kulturellen Kontext mit der koranischen Kritik am Shirk, der Beigesellung göttlicher Wesenheiten zu Allah.
Der dritte Teil widmet sich den Inhalten und literarischen Formen des Korans, wiederum unter Einbeziehung von Problemen aus der Sekundärliteratur. Nachdem S. unter Rekurs auf Neuwirths Nachweis wiederkehrender Strukturkonventionen von Suren und anhand detaillierter Beispielanalysen gegen die weitverbreitete Ansicht, es handele sich beim Koran um eine unzusam­menhängende Ansammlung einzelner Textfragmente, betont, dass Suren als »ganzheitliche literarische Kompositionen« zu be­trachten seien (70), beschreibt er Nöldekes auf Sinn und Sprache der Suren gründende Rekonstruktion ihrer Chronologie sowie die u. a. von Sadeghi untersuchte Konvergenz von Verslänge und Lexik. Für ein Werk einführenden Charakters erscheint im Teil zur diachronen Lektüre des Korans manche Betrachtung von S. eventuell etwas »übergenau«, etwa die, ob im Falle von Sure 110, »die Nöldeke mit einigem Zögern als medinensisch ansieht«, nicht »ebenso gut Gründe für eine mittelmekkanische Datierung beigebracht werden« können (66).
Für den interessierten Laien dürfte das letzte Kapitel am interessanten sein, in dem es neben der Rolle des Korans als Mittel der Rechtsfindung (koranische Gebote und Verbote, Verhältnis zu den Hadithen, Abrogation im Zusammenhang widersprüchlicher Aussagen) um Grundfragen klassischer wie moderner Koranauslegungen geht. Anschaulich und mit Blick fürs Wesentliche skizziert S. Differenzen zwischen Zugängen, die sich am Wortlaut des Textes orientieren, solchen, die den historischen Kontext fokussieren so­wie allegorischen Interpretationen. Instruktiv ist hier S.s Feststellung, dass Auslegungen, die sich auf den wörtlichen Sinn konzentrieren, nicht eo ipso auf einer einzigen Deutung beharren (man möchte ergänzen: beharren können). Anregend sind zudem seine Hinweise zum »entschärfenden« Umgang mit problematischen Koranstellen (z. B. 4:34), wobei er auch hier kontextspezifische Deutungen gegenüber Metaphorisierungen und lexikalischen Um­deutungen zu bevorzugen scheint.
Vielleicht gehört nicht jede der von S. behandelten Fragen zu den im Untertitel genannten »wichtigsten Fakten zum Koran«. In jedem Falle aber bietet das Buch eine sorgfältig aufbereitete und zuverlässige Basis für eine gründliche Beschäftigung mit der heiligen Schrift des Islams.