Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

51 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pickett, Raymond

Titel/Untertitel:

The Cross in Corinth. The Social Significance of the Death of Jesus.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1997. 230 S. gr.8 = Journal for the Study of the New Testament, Suppl. Series 143. Lw. £ 40.-. ISBN 1-85075-663-5.

Rezensent:

Gerd Theißen

Die Diskussion um die theologia crucis des Paulus nimmt in der gegenwärtigen Exegese zwei Richtungen ein: Einerseits wird der Sühnetod Christi als Grund des Heils und der Versöhnung zwischen Gott und Mensch gedeutet. Andererseits wird das Kreuz als "Symbol sozialen Wandels" interpretiert; nicht nur das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, sondern das Verhältnis zwischen den Menschen wird durch die Predigt des Kreuzes auf eine neue Basis gestellt. Beide Dimensionen der theologia crucis schließen einander nicht aus, beide sind bei Paulus miteinander verbunden. Zweifellos aber wird die theologische Bedeutung des Kreuzes im Galater- und Römerbrief deutlicher, seine soziale Bedeutung dagegen in den beiden Korintherbriefen. Die von der Universität Sheffield angenommene Dissertation von R. Pickett konzentriert sich auf die korinthische Korrespondenz und auf den sozialen Aspekt der "Theologie des Kreuzes".

Der theoretische Rahmen der Arbeit basiert u. a. auf der Wissenssoziologie von P. Berger und Th. Luckmann sowie auf der interpretativen Kulturanthropologie C. Geerts. Innerhalb der "symbolischen Welt" des Paulus signalisiert das "Kreuz" einen grundlegenden Wandel der Werte, die einerseits mit einer eschatologischen Weltinterpretation korrelieren, die sich andererseits in konkreten Personen und Konflikten verkörpern.

Exegetisch ist das entscheidende Ergebnis: Hinter den konkreten Gemeindekonflikten in Korinth steht durchgehend ein und derselbe Konflikt. Eine kleine sozial hochstehende Elite in der korinthischen Gemeinde orientiert sich an den Werten und Maßstäben "dieser Welt", d. h. der damaligen antiken Gesellschaft, indem sie sowohl im sozialen wie im religiösen Bereich nach Macht, Status und Überlegenheit strebt - also von den Werten einer honour-and-shame Gesellschaft bestimmt wird. Diese Orientierung an außer- und vorchristlichen Werten bedroht die Einheit der Gemeinde. Die von außen in verschiedenen Schüben in die Gemeinde eindringenden konkurrierenden Missionare sind nicht an sich die Ursachen der Gemeindekonflikte, sondern die macht- und statusorientierten Werte, in deren Licht sie in Korinth gesehen und bewertet werden. Paulus setzt sich mit diesen Missionaren nur indirekt auseinander, primär sind die Gemeindeglieder in Korinth (und insbesondere die in ihnen dominierende Minorität gut situierter Menschen) seine Gesprächspartner.

Die theologia crucis hat bei dieser Auseinandersetzung eine negative und eine positive Funktion. Sie soll zunächst die weltlichen Werte und Normen "dekonstruieren", die den Werten und Normen einer egalitären Gemeinschaft widersprechen. Gott hat mit dem Gekreuzigten das erwählt, was in der Welt nichts gilt, und jeden Grund für ein Sich-Rühmen nach weltlichen Maßstäben zerstört. Positiv aber besteht die theologia crucis darin, daß sie Jesu Tod als Ausdruck der Liebe deutet (also als Ausdruck des zentralen Wertes der neuen Gemeinschaft). Die theologia crucis wird dadurch Modell für ein Leben, das ein Leben für andere ist und zur "Erbauung" der Gemeinde beiträgt.

Die Geschlossenheit dieser Deutung ist einerseits ein Vorzug dieser Arbeit, andererseits wirkt der schnelle Gang durch beide Korintherbriefe gerade deshalb paradoxerweise oft "schleppend", weil sich das Grundmuster der Interpretation immer wiederholt. Die Ergebnisse der bisherigen Korintherbrief-Exegese (vor allem in der englischen Literatur) werden auf eine vernünftige und plausible Weise in den bekannten wissenssoziologischen Interpretationsrahmen eingetragen, ohne daß neue Beobachtungen am Text das exegetische Interesse des Lesers wecken. Die positive Kehrseite ist andererseits: Es fehlen ideosynkratische Interpretationen. Die Argumentation ist konsensorientiert. Man kann den Ergebnissen meist zustimmen.

Wenn eine Arbeit nicht durch neue Ergebnisse, sondern einen neuen Interpretationsrahmen für ältere Ergebnisse wirken will, so wird man sie daran messen, ob die bisherige Forschung in repräsentativer Weise aufgearbeitet wurde. Davon kann keine Rede sein. Die deutschsprachigen Kommentare von W. Schrage, Ch. Wolf und H. Merklein zum 1. Korintherbrief werden nicht verarbeitet. Das erste Kapitel referiert zwar auch deutschsprachige Beiträge zur theologia crucis - aber die Diskussion um die Sühnedeutung des Todes Jesu (H. Gese, P. Stuhlmacher, O. Hofius, M. Wolters, C. Breytenbach, W. Kraus) ist unbekannt. Selbst dort, wo wichtige Beiträge in Englisch vorliegen (z. B. P. Lampe: Theological Wisdom and the ’Word About the Cross’: the Rhetorical Scheme in 1Corinthians 1-4, Interpretation 44, 1990, 117-131), werden sie nicht verarbeitet. Vielleicht ist es wirklich eine Überforderung, im Rahmen einer Dissertation wissenschaftliche Reflexionsströme in verschiedenen kulturellen Kontexten zusammenzubringen, die sich voneinander entfernt haben. Diese Aufgabe aber darf nicht vernachlässigt werden.

Umgekehrt wünschte man ja auch in der deutschsprachigen Exegese eine größere Offenheit für exegetische Impulse aus der englischsprachigen Welt. R. Pickett macht deutlich, daß es nicht möglich ist, die theologia crucis und die Rechtfertigungslehre gegen eine Auslegung der Bibel auszuspielen, die in ihr ein "soziales Kerygma" vernimmt. Kreuz und Auferstehung sind bei Paulus beides: Grund der Versöhnung mit Gott und "Symbol for Social Change" (208). Die Lektüre des Buches hinterläßt den Wunsch, beides in der Interpretation der paulinischen Theologie in überzeugender Weise zu verbinden.