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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

683–685

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Jörns, Klaus-Peter, u. Großeholz, Carsten [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was die Menschen wirklich glauben. Die soziale Gestalt des Glaubens - Analysen einer Umfrage.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1998. VIII, 342 S. gr.8. Kart. DM 39,80. ISBN 3-579-00395-X.

Rezensent:

Dieter Stoodt

1. Die acht Einzelanalysen diese Folgebandes (II) wiederholen und ergänzen den bei Beck 1997 erschienenen Berichtsband (I) über die Umfragen aus dem Jahr 1992 und setzen die Basisüberlegungen, die im Berichtsband präsentiert wurden, voraus: Religion "lebensweltlich" (I, 15) als das vitale Interesse an gutem Leben und dessen Bewahrung (II, 103; I,1 ff.11 ff.23 ff.); nachweisbare Korrespondenz zwischen vier Beziehungen, in denen Menschen leben: personale Beziehungen, Beziehungen zur Erde (z. B. zur Arbeit), zu Ordnungen und Werten sowie zur Transzendenz (I,18 ff.199 f. u. ö., II,1 f.197 f.) (Quaternität); Glaube einerseits als Sicht aufs Leben, Akt, andererseits als Beziehung zu einem Glaubensgegenstand (I, 6); Begriffe wie Wahrnehmungsgestalt und Virtualisierung (I, 4.27.229-232) bringen die Nähe zu dem phänomenologischen Ansatz ins Spiel; konsequent durchgezogen wird er nicht: Die These von der dogmatischen Erosion sowie des Autoritätsverlustes der Kirche (I,37.185 f. 202ff. 208. 210 f.) wird so gut wie nicht mit den industriell und politisch gesteuerten Prozessen in Verbindung gebracht, so daß der Eindruck entstehen kann, diese Verluste seien nur Folgen didaktischer Defizite der Kirche.

2. Die Analysen sind thematisch geordnet. Die Analyse zu den geschlechtsspezifischen Ausprägungen der religiösen Einstellungen bestätigt bekannte Rollenverteilungen (II, 48), die zu den religiösen Veränderungen im Laufe des Lebens stellt die Bedürfnisse der jungen Generation zusammen, ohne Neues zu bieten. Die Analyse der Lebensformen unterscheidet Alleinlebende, die Singles, den WG-Typ, den Partner sowie den Familientyp und entnimmt den Antworten, daß die religiösen Vorstellungen mit den Formen des Zusammenlebens korrelieren: Im Westen rechnen Familientyp und Alleinlebende mehr als die anderen Typen mit Gott als dem persönlichen Gegenüber und erwarten von ihm Sinngebung - im Osten lehnen diese Typen das alles ab. Beim Singletyp ist auch das Gebet "egoistischer" als bei den anderen. Die Typologie der Gymnasiasten (traditionsorientiert, erfahrungsgeleitet, traditionsabgewandt, offen-religiös, immanenzbezogen) bringt so viele Überschneidungen, daß man vermuten muß, sie differenziere mehr, als die Antworten tatsächlich hergeben. Die Analyse des Stadt-Land-Gefälles betont, daß es selbst in der säkularen Luisenstadt Glaubende gibt, und daß sich sogar im Hunsrückdorf die Menschen aus der kirchlichen Tradition lösen (mehr evangelische als katholische).

Die befragten Theologen gehören weitgehend zum Familientyp, halten sich für hilfsbereit und verantwortungsbewußt, klagen stärker als andere über ihre berufliche Lage, verbinden Glück und Arbeitserfolg selten, und sie lehnen bei positivem Verhältnis zur Sexualität das Gerede von sexueller Freiheit ab. Sie bringen hermeneutisch Schöpfung und Urknall zusammen und sehen im "Sündenfall" nicht den Grund für den Tod. Ihr Verständnis des Bösen als Ausdruck des sündigen menschlichen Wesens setzt sie weit von allen anderen Befragten ab; ebenso wie auch ihr Glaube als entscheidendes Merkmal ihres Selbstverständnisses. Ob Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands Gottes Tat gewesen seien, beantworten die im Westen mit 21 % pro und 43 % contra, im Osten 42 % pro und 31 % contra.

3. Jörns’ Analyse der Beobachtungen zu Menschen ohne Religionszugehörigkeit (II, 105-125) geht von der Unterscheidung der vier Glaubenstypen aus: Gottgläubige als Menschen, die an den persönlichen Gott (II, 107), ein subjekthaftes Gegenüber (II, 106) glauben; Transzendenzgläubige, die an ein höheres Wesen, aber nicht ein persönliches Gegenüber glauben; Unentschiedene, die eine Transzendenzbeziehung nicht völlig ausschließen; Atheisten, die weder an den persönlichen Gott, noch an transzendente Mächte glauben (s. auch I, 56 ff.II, 96 f.).

Hier zunächst einige der interessanten Vergleiche der Religionslosen mit den Kirchennahen: Etwa die Hälfte der Religionslosen glaubt in irgendeiner Form an Gott, jeder zehnte Christ bekennt sich als Atheist. Unter den Gottgläubigen sind die Religionslosen schwach vertreten, im ehemals östlichen Teil Berlins haben sie die Mehrheit (II, 109). Je jünger die Befragten, desto höher der Anteil der Religionslosen (II, 114), die mehr bei Männern und Singles als bei Frauen und dem Familientyp gezählt werden.

Nicht aus Steuergründen haben sie die Kirche verlassen, vielmehr haben sie "keine innere Beziehung zum christlichen Glauben in seiner traditionellen Ausprägung" (II, 118). Das drückt sich in den Bestattungsformen, in der Beurteilung des Horoskops (II, 123), in der Moralbegründung (II, 121) und im Selbstbild (II, 120) aus. Religionslose erwarten mehr von sich selbst als von Gott, doch erstreben auch sie ein gutes Leben und sind insofern "religiös"- worin das gute Leben besteht, das ist das zwischen ihnen und dem christlichen Glauben Strittige (II, 126).

Wichtiger ist jedoch das Grundsätzliche. Denn diese Typologie macht die Beziehung zu dem persönlichen Gott zum Angelpunkt der Untersuchung: Dies schon durch die erste der 97 Fragen: "Glauben Sie, daß es einen persönlichen Gott gibt?", zu deren Beantwortung es vier Vorgaben gibt: "Ja. Vielleicht. Interessiert mich nicht. Nein." Wer so fragt, muß wissen, daß das, was mit dem persönlichen Gott gemeint ist, kaum zu fixieren, wohl aber Mißverständnissen auf Seiten der Bejaher wie Verneiner, der Befragten wie der Auswerter ausgesetzt ist; und daß die Position der Transzendenzgläubigen des nicht personal verstandenen Gottes schwerlich davon klar abzugrenzen ist. Das macht den Angelpunkt problematisch: Bei J. avanciert der Glaube an den persönlichen Gott zu einem quasi objektiven Kriterium, obwohl es als solches Kriterium aus der Empirie nicht erhoben werden kann. Er macht nicht deutlich, daß er dieses Kriterium geschaffen hat, daß die Definition der Gottgläubigkeit empirisch nicht ausreichend belegbar, sondern theologisch vormanipuliert ist: Es antworten ja Menschen auf diese erste Frage, ohne zu wissen, was sie sich eigentlich dabei denken; doch müssen sie so tun, als sei es ihnen klar. Dem Leser wird suggeriert, das Kriterium sei empirisch erhoben, soziologisch abgesichert und theologisch verläßlich. Insofern verspricht der Titel mehr, als er halten kann.

4. Theologisch bedenklich ist es, der Rechtfertigungslehre zu unterstellen, sie ginge an dem Hauptproblem der heutigen Menschen vorbei, an dem "was es ihnen schwer macht, einen Sinn im Leben zu finden" (I, 7). Dabei führen doch die lebensweltlich erfahrenen zerstörerischen Züge der gesellschaftlichen Steuerungsprozesse zu dem verbreiteten Gefühl sozialer Mißachtung - ein Begriff, der das präzisiert, was mit dem "Sinn im Leben" anvisiert sein mag.

Wenn nun, wie Honneth sozialphilosophisch vermutet, der Wunsch, sozial anerkannt zu sein, der Grund aller normativen Erwartungen der Menschen ist, so wird der theologisch-anthropologische Aspekt angesprochen, den die Rechtfertigungslehre identifiziert und auslegt: Sich anerkannt glauben und andere als anerkannt anerkennen können (Falk Wagner) angesichts der Gründe sozialer Mißachtung und ihrer Folgen - das ist der springende Punkt für den Umgang mit sich selbst und mit anderen, mit dem, was es schwer macht, "einen Sinn im Leben zu finden". Müßte J. in diesem Gefühl nicht geradezu das Gesicht des verborgenen Gottes finden, dem man begegnet, wenn man den in Christus offenbaren nicht glauben kann? Freilich, auf diesen Zusammenhang zu stoßen, bedürfte es eines etwas anderen Fragebogens.