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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

678 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grözinger, Albrecht

Titel/Untertitel:

Die Kirche - ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Gesellschaft.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1998. 144 S. 8. Kart. DM 32,-. ISBN 3-579-01902-3.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Albrecht Grözinger, der in Basel Praktische Theologie lehrt, hat in dem vorliegenden Band eine Reihe kleinerer, vorwiegend auf Vorträge zurückgehender Studien zusammengestellt. Sie enthalten eine den Begriff der Postmoderne favorisierende Gegenwartsdiagnose, verbunden mit Überlegungen, welche Chancen für Christentum und Kirche aus einer solchen Wahrnehmung der eigenen Zeit erwachsen.

Das 1. Kap. (11-48) beschreibt die "Konturen der Postmoderne". Der Vf. - im Gebrauch des Begriffs der Postmoderne durchgängig an W. Welsch orientiert - schließt sich zu dessen Konturierung außerdem der Individualisierungsthese von U. Beck an. Er bekräftigt sodann den von J.-F. Lyotard ausgesprochenen Verdacht gegen die "große Erzählung". Er weist schließlich mit P. L. Berger darauf hin, daß das Individuum sich unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen zur "Erfindung des eigenen Lebens", zum Entwurf seiner Selbst- und Weltanschauung genötigt sieht. Für den Ort der Kirche in der so beschriebenen postmodernen Gesellschaft folgert der Vf., daß sie nicht mehr für die "große Erzählung", nicht für ein die Gesellschaft insgesamt integrierendes Sinnganzes einzustehen vermag. Die Kirche muß sich selber für eine Pluralität von Frömmigkeits- und Lebensstilen öffnen und erkennen, welchen Reichtum an Identität verbürgenden Geschichten sie in den biblischen Überlieferungen aufbewahrt findet und plausibel vergegenwärtigen kann.

Das 2. Kap (49-83) verortet das Christentum in der Postmoderne. Auch das Christentum gilt dem Vf. als eine der großen Erzählungen. Insofern steht es sperrig in der Postmoderne. Als Ganzes läßt es sich nicht mehr präsent halten, jedenfalls nicht im Sinne eines die Gesellschaft zusammenhaltenden Sinn- und Wertganzen. Nur einzelne Elemente aus der "Großerzählung Christentum" (was deren Inhalt ist, erfährt der Leser nicht) lassen sich mit Elementen der Gegenwartskultur sinnvoll erfinden (welche das sein könnten, erfährt der Leser ebenfalls nicht). "Das Christentum" wird an seine Aufgabe erinnert, "den Menschen in der postmodernen kulturellen Vielfalt durch innovatorische Vergegenwärtigung den biblisch-christlichen Traditionsbestand zu erhalten und stets aufs Neue in seinem Erfahrungsgehalt und seiner Plausibilitätsstruktur ansichtig zu machen." (82)

Das 3. Kap. (84-133) verdeutlicht die Hinweise für die "kirchliche Praxis in der Postmoderne". Der Vf. möchte im Anschluß an W. Welschs Konzept von der "transversalen Vernunft" die Praxis der Kirche in der Postmoderne als "transversale Praxis, als Praxis in den lebensgeschichtlichen Übergängen" verstanden wissen (93). Er weist zu Recht darauf hin, daß angesichts von Traditionsverlusten und gesellschaftlichen Unübersichtlichkeiten der seelsorgerliche Dienst der Kirche in den lebens- und jahreszyklischen Übergängen gefragt ist. Ihre Hauptaufgabe ist die, Hilfestellung zu geben zur "lebensgeschichtlichen Vergewisserung". In dieser Richtung gibt der Vf. einige Hinweise zur Erneuerung der kirchlichen Feiertags- und Gottesdienstkultur, zur Gestaltung der seelsorgerlichen Beziehung und der diakonischen Arbeit. Alle diese kirchlichen Praxisvollzüge will der Vf. in der Perspektive wahrgenommen wissen, daß menschliche Lebensgeschichten gelesen, erzählt und erinnert werden.

Der "Ausblick" (134-141) bringt Überlegungen zum Beruf der Pfarrerin und des Pfarrers. Sie haben unter den Bedingungen der Postmoderne in erster Linie dieses "Amt der Erinnerung" wahrzunehmen und d.h. nichts anderes als daß sie "Interpreten, die Intepretin der biblisch-christlichen Tradition in jeweils bestimmten lebensgeschichtlichen Kontexten" (139) sein sollen.

Gegenwartsdiagnosen sind immer ein riskantes Unternehmen. Man wird darüber streiten müssen, ob die vom Vf. beschriebene kirchlich-religiöse Lage unter den Begriff der "Postmoderne" gebracht werden muß. Die hermeneutischen Anforderungen im Umgang mit den Überlieferungen des Christentums, die der Vf. für die kirchliche Praxis geltend macht, sind jedenfalls solche, die eine sich unter den Bedingungen der Moderne formulierende Theologie seit längerem schon erkannt hat. Solche Theologie ist allerdings nicht selbstverständlich. Zu Recht erinnert der Vf. deshalb daran, daß die Umformungskrise des Christentums fortdauert, Theologie und Kirche sich weiterhin an ihr abarbeiten müssen.