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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

673 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kallen, Werner

Titel/Untertitel:

In der Gewißheit seiner Gegenwart. Dietrich Bonhoeffer und die Spur des vermißten Gottes.

Verlag:

Mainz: Matthias Grünewald Verlag 1997. 240 S. gr.8. Kart. DM 52,-. ISBN 3-7867-2026-6.

Rezensent:

Andreas Pangritz

Die Arbeit, die 1996 von der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bamberg als Dissertation angenommen wurde, verläßt ausgetretene Pfade der Bonhoeffer-Rezeption und schlägt einen neuen Weg ein: K. liest Bonhoeffers Leben als eine exemplarische "mystische Biographie" unter den Bedingungen des 20. Jh.s (202 f.). Gerade auch "Bonhoeffers Radikalität und die neue theologische Qualität seiner Gefängnisbriefe" verdanken sich, wie K. im Anschluß an T. R. Peters betont, "eher der mystischen Vertiefung als der theologisch-politischen Aufklärung und Kritik" (97 f.).

K. kommt zu diesem Ergebnis, indem er versucht, eine "innere Biographie" Bonhoeffers zu zeichnen, die in der äußeren verborgen sei. Er zieht dafür Texte wie die Londoner Jeremia-Predigt vom Januar 1934, das Amerika-Tagebuch aus dem Sommer 1939 und Gedichte aus der Zeit der Haft wie "Der Tod des Mose" (September 1944) heran, die er als autobiographische Bekenntnisse liest. Die "Confessio" (O. Dudzus) aus der Londoner Predigt dient K., "von Bonhoeffers Ende her" gelesen, als "eine Art Kompaß" (12) der Interpretation: "In der Figur des Propheten Jeremia" spreche Bonhoeffer "tief und entscheidend von sich" selbst, so daß Prophet und Prediger geradezu ineinander "verschwimmen". Bonhoeffer nehme "die Gestalt und die Sprache des Jeremia als Rahmen für die eigene Existenz, die eigene Herausforderung und das eigene Überwältigtwerden" (66).

Die auf den ersten Blick erschreckend "gewaltsam anmutende" Predigtsprache könne als "Ausdruck einer überwältigenden Liebeserfahrung" verstanden werden (74). Durch die Identifikation mit dem Propheten werde der Prediger zum "Mystiker": "Wie soll man denn einen Satz ... wie ,Als du über mich gewannst ... - da konnte ich nicht mehr zurück’ verstehen, wenn nicht ,mystisch’, d. h. von jenem Geheimnis herkommend und auf jenes Geheimnis hin ausgestreckt, welches ... das ,Du’ Gottes ist, wie es sich in Jesus Christus zeigt?" (96) Ähnlich zum Gedicht "Der Tod des Mose": "Im Abschied nehmenden Mose" erkenne Bonhoeffer "seine endgültige Identität" (192). Wird nicht "das, was für Bonhoeffer in der Figur des Jeremia begann ..., in der Figur des Mose am Ende seines Lebens vollendet ...? Berühren sich also nicht die Gewißheit des Ergriffenwerdens (Jeremia) und die Gewißheit von der auch vor dem Tod nicht kapitulierenden Treue Gottes (Mose) darin, daß Dietrich Bonhoeffer auf diesen erschreckend nahen Gott alle Hoffnung setzt, ihm allein sich rückhaltlos anvertraut- im Leben und im Tod?" (193)

Die Beobachtung, daß entscheidende Erkenntnisse der Arbeit in solch suggestiver Frageform vorgetragen werden, deutet auf Schwierigkeiten der Interpretation hin und provoziert Rückfragen: Hätte Bonhoeffer in seinem Mißtrauen gegenüber dem Ausplaudern alles "Intimen" nicht den Versuch, das "Wesen" eines Menschen in seiner "Innerlichkeit" zu ergründen, als "abwegig" empfunden (Widerstand und Ergebung, 8. 7. 1944)? Drängt sich der Interpret durch die Art und Weise, wie er sich - angeregt durch Bonhoeffers Gefängnisgedichte - mit eigenen lyrischen Versuchen in die Darstellung einmischt, nicht doch mehr in den Vordergrund, als es der von ihm erhobenen Forderung nach "sprachlicher Bescheidung" (14) eigentlich entspräche?

Das größte Problem der These vom "Mystiker" Bonhoeffer liegt aber darin, daß er damit gegen sein Selbstverständnis interpretiert wird. Als eine der "schönsten Blüten der christlichen Religion" verfiel die Mystik bei Bonhoeffer der von der dialektischen Theologie gespeisten Religionskritik. K. ist sich dieser Problematik bewußt: "Dietrich Bonhoeffer und - Mystik? Der offensichtliche Befund von Bonhoeffer selbst her scheint jeden Versuch im Ansatz zu unterbinden, hier eine mögliche Beziehung zu sehen" (93). K. läßt sich dadurch nicht abschrecken, sondern tritt die Flucht nach vorn an, indem er Bonhoeffer Unkenntnis der Mystik und Befangenheit in einem protestantischen Vorurteil unterstellt: "Möglicherweise muß man Dietrich Bonhoeffer in bezug auf ,Mystik’ aus der eigenen Begrifflichkeit und der Bedeutungs- und Wirkungsgeschichte von ,Mystik’ in der protestantischen Tradition herauslösen, um nicht vorschnell eine Grunddimension in seinem Leben vollständig auszublenden" (96). K. schließt sich damit einer kleinen Minderheit der Rezeption (D. Sölle, F. Schlingensiepen u. a.) an, die von ihrem eigenen Verständnis der "Mystik" her versucht, Bonhoeffer für diese zu vereinnahmen (98 f.).

K. untermauert seine These, indem er Bonhoeffer "einbettet" in die "Tradition der christlichen Mystik" (14). Dabei führt er eine lange Ahnenreihe an, beginnend mit Jakobs Kampf am Jabbok über Bernhard von Clairvaux, aber auch Luther und die spanische Liebesmystik bis zu Mystikern unseres Jahrhunderts (Edith Stein u. a.). Wie bei allen diesen Personen, so gehe es auch bei der "Gottesspur im Leben Dietrich Bonhoeffers" um die "geheimnisvolle Grunddimension der Wirklichkeit" (14). Hier werden tatsächlich Perspektiven eröffnet, die Bonhoeffer in neuem Licht erscheinen lassen, etwa wenn K. diesen im "leidenschaftlichen Warten auf Gott" in naher Verwandtschaft zu "Gestalten der spanischen Mystik wie Johannes vom Kreuz oder Theresa von Avila" als einen "theologisch Obdachlosen" beschreibt (36). Inwiefern "im Ausgespanntsein auf größere Ziele und tiefere Wünsche, die nicht unmittelbar zu erfüllen sind," bei Bonhoeffer zugleich "ein sehr gesellschaftskritisches Moment" liegt, wird jedoch leider nicht weiter ausgeführt (34).

Zu fragen bleibt, ob die Einreihung Bonhoeffers in die Tradition der Mystik nicht durch eine Ausweitung von deren Begriff erkauft wird, die letztlich jede Äußerung von Frömmigkeit als "mystisch" erscheinen läßt. Angesichts von Bonhoeffers eigener Zurückhaltung in dieser Hinsicht erscheint es ratsam, ihm trotz der von K. aufgezeigten suggestiven Parallelen nicht mehr als eine gewisse mystische Tendenz zu unterstellen.