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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

671–673

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Heesch, Matthias

Titel/Untertitel:

Lehrbare Religion? Studien über die szientistische Theorieüberlieferung und ihr Weiterwirken in den theologisch-religionspädagogischen Entwürfen Richard Kabischs und Friedrich Niebergalls.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1997. XIII, 322 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 80. Lw. DM 178,-. ISBN 3-11-015576-1.

Rezensent:

Reiner Preul

Gegenstand dieser systematisch-theologischen Habilitationsschrift sind die wissenschaftstheoretischen Implikationen und Grundlagen zweier herausragender und geistesverwandter praktisch-theologischer Entwürfe, die üblicherweise dem Kulturprotestantismus zugerechnet werden. Die Verwandtschaft zwischen Kabisch und Niebergall kommt dabei weniger in ihrer jeweiligen Stellung zur Frage der Lehrbarkeit der christlichen Religion - gemeint ist nicht die Lehrbarkeit der schon objektivierten und institutionell tradierten religiösen Vorstellungen, sondern der Religiosität als gefühlsmäßiger Bestimmtheit des Subjekts - zum Ausdruck. Während Kabisch sie "in sehr weiten Grenzen befürwortet", nimmt Niebergall "eine schwankende Stellung" ein, "die insgesamt eher auf eine vorsichtige Distanzierung von der Lehrbarkeitsthese hinausläuft" (286).

Beide aber sind "Theoretiker des szientistischen Wissenschaftsparadigmas auf dem Gebiet der Theologie" (14). Dieses Paradigma ist jedoch weit mehr als eine Methodologie (natur-) wissenschaftlicher Forschung, es ist eine ontologische Option und impliziert als wissenschaftliche Weltanschauung ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis. Dessen "konstitutive Merkmale" sind "methodisch Rationalismus, vom Sachbezug her Empirismus und in der Zielkonzeption Anwendbarkeit" (43). Die Übertragung dieses in unterschiedlicher Zuspitzung auftretenden Wissenschaftsverständnisses auf das religiöse Gebiet bedeutet den Anspruch "wissenschaftlicher Rekonstruierbarkeit religiöser Vorgänge" (12). Wesen und Recht der Religion selber werden dabei unter Ausklammerung der Gewißheitsfrage und der Frage nach der das Wirklichkeitsverständnis konstituierenden Funktion der Religion "pragmatistisch" (277) bestimmt: Wie "die Religion als höchstes Lebensgut sich im menschlichen Leben auswirkt" (27), das ist die entscheidende und mit den Mitteln empirischer Wissenschaft, insbesondere einer empirischen Psychologie, zu bearbeitende Frage.

Der Vf. geht den angedeuteten wissenschaftstheoretisch-weltanschaulichen Hintergründen der beiden Entwürfe in ebenso weitreichenden, bis auf die Monadologie von Leibniz zurückgehenden, wie sorgfältigen theoriegeschichtlichen Analysen nach und führt damit erheblich über den bisherigen Erkenntnisstand zu Kabisch und Niebergall, wie er in den einschlägigen Untersuchungen von G. Bockwoldt, J. V. Sandberger und H. Luther vorliegt, hinaus. Besonders erhellend sind dabei m. E. die Ausführungen zum neukantianischen Hintergrund Niebergalls sowie - auf Seiten Kabischs - zu W. Wundts empirischem Voluntarismus und insbesondere zum Herbartianismus, dessen Zuspitzung auf die sittlich-religiöse Persönlichkeit bei Ziller und Rein unter gleichzeitiger Abstreifung der Metaphysik Herbarts überzeugend herausgearbeitet wird (56-90). Aber schon bei Herbart selbst wird die Struktur der von Kabisch vertretenen Lehrbarkeitstheorie vorgebildet, indem jener die Bestimmung des Willens und der Emotionen auf den "Fluß der Vorstellungen" (67) zurückführt und somit eine methodische Beeinflußbarkeit der Affektlage mittels eines auf das ästhetische Rezeptionsvermögen ausgerichteten Unterrichts in den Blick faßt. Mit der gleichen Genauigkeit wie die Entstehung und die Wandlungen des szientistischen Paradigmas werden auch die gleichsam komplementären oder kompensatorischen Theoriebildungen analysiert, welche den "Eigenwert der Erlebnissphäre" (125) zu sichern suchen: W. James, W. Dilthey und die Werttheoretiker H. Rickert, A. Ritschl, J. Kaftan und H. Maier.

Auf diesem spannungsreichen theoriegeschichtlichen Hintergrund treten sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die spezifischen Unterschiede der praktisch-theologischen bzw. religionspädagogischen Entwürfe von Kabisch und Niebergall klar hervor. Beiden ist daran gelegen, Religion so zu lehren, "daß sie als ,Erfahrungsreligion’ den Standards der ,modernen’ wissenschaftlichen Weltanschauungen genüge" (285). Während jedoch Kabisch das Individuum zugunsten eines Gesamtwillens, der empirisch im Staat verkörpert ist, vernachlässigt, erhebt Niebergall die Persönlichkeit, die sich freilich nur in der Gemeinschaft entfalten kann, zur Leitvorstellung. Vor allem aber kann der Vf. deutlich machen, daß und wie sich die Problematik und ontologische Unzulänglichkeit des zugrundegelegten rationalistisch-empiristischen Wirklichkeitsverständnisses in zahlreichen Spannungen, Widersprüchen und Unausgeglichenheiten der beiden praktisch-theologischen Systeme reflektiert. Zwischen transzendentalen, die Konstitution der gesamten Erfahrungswirklichkeit betreffenden, und empirisch-objektbezogenen Theoremen kommt es zu beständigen Grenzverschiebungen und Vermischungen, die sich dann praktisch-handlungstheoretisch beispielsweise in den Unklarheiten und Abwandlungen der Lehrbarkeitsthese niederschlagen.

Auch wenn nicht jeder Leser in der Lage sein wird, den besonders in den Anmerkungen gegebenen zahlreichen theoriegeschichtlichen Querverweisen nachzugehen, so wird er doch die Schlußfolgerung ziehen, daß anspruchsvolle praktisch-theologische Entwürfe wie die von Kabisch und Niebergall nicht einfach durch Rückführung auf zeittypische theologische Richtungen, sondern nur im Rahmen von wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Problemen, die sich gleichsam epochenübergreifend immer neu stellen, zu würdigen sind. In diesem Sinne ist das Buch ein gelungenes Beispiel interdisziplinär betriebener Grundlagenforschung.