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Ausgabe:

März/1999

Spalte:

300–302

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Große Kracht, Hermann-Josef

Titel/Untertitel:

Kirche in ziviler Gesellschaft. Studien zur Konfliktgeschichte von katholischer Kirche und demokratischer Öffentlichkeit.

Verlag:

Paderborn: Schöningh 1997. 494 S. gr.8. Kart. DM 88,-. ISBN 3-506-73436-9.

Rezensent:

Hubert Kirchner

In mehrfacher Hinsicht wächst diese umfangreiche Arbeit über sich selbst hinaus. Schon ihr Untertitel ist sehr genau zu nehmen: "Studien ..." Es handelt sich zwar nicht direkt um einen Sammelband. Die insgesamt vier Teile stehen schon in einem engen sachlichen Zusammenhang miteinander. Jeder trägt jedoch einen so eigenen Charakter und ist inhaltlich auch so geschlossen, daß sich die Teile unschwer voneinander lösen ließen und gut als eigene Studien verstanden werden könnten.

Sodann: In fast unveränderter Gestalt lag die Arbeit 1996 dem Fachbereich Erziehungswissenschaft/Humanwissenschaften der Universität/Gesamthochschule Kassel als Dissertation vor. Sie ist aber keineswegs eine wissenschaftliche Erstlingsarbeit. Schon Jahre zuvor veröffentlichte der Autor - lange Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kasseler Universität, danach Studienrat in Rheine - einschlägige Beiträge in Fachzeitschriften. Das Niveau ist beeindruckend. Inhaltlich wie auch sprachlich (bis hin zu eigenen Wortschöpfungen) wird dem Leser einiges zugemutet. Es ist keine ganz leichte Lektüre. Vor allem wird eine ziemliche Bereitschaft zur Abstraktion erwartet. Schließlich ist zu beachten, daß es sich nicht um eine theologische bzw. (kirchen)historische Arbeit handelt, wie der Titel nahelegen könnte. Ihre Schwerpunkte sind vielmehr gesellschaftsphilosophisch bestimmt. Und das bedeutet: Es werden Aspekte geboten und Perspektiven entfaltet, die sowohl im theologischen Diskurs wie im kirchenhistorischen Raume eher ungebräuchlich sind.

Der Autor selbst unterstreicht zwei Anliegen der Arbeit: Sie will "zum einen ... die mit der frühneuzeitlichen ’Pluralisierung der Ecclesia Sancta’ ... aufgebrochenen Spannungen zwischen Kirche und Öffentlichkeit in ihren wesentlichen Entwicklungslinien vom Zeitalter der Reformation bis zur Gegenwart nachzeichnen". Das geschehe in den beiden ersten "Kapiteln", einem "historischen Rückblick". "Zum anderen will sie ... einen Beitrag zu einer zukunftsfähigen Standortbestimmung der Kirche in der modernen Gesellschaft leisten und eine zivilgesellschaftliche Perspektive für das politisch-praktische Handeln von Christen und Kirche im säkularen Staat der Gegenwart entwerfen." (11) Das sei die Aufgabe der beiden anderen "Kapitel", einem "systematischen Ausblick".

Der erste Teil, "Zumutungen der Neuzeit" (17-86), versteht sich als "Hinführung". Der Autor entfaltet zwei solche "Zumutungen". Die eine erkennt er in der "Profanisierung der Politik", die andere in der "Rationalisierung der Öffentlichkeit". Dabei geht es näherhin einerseits um einen "fundamentale(n) Säkularisierungs- und Entmoralisierungsschub, der alle normativen Theorien des Politischen - und damit nicht zuletzt auch die der Kirche - in eine tiefe Plausibilitätskrise" stürzte (12). Andererseits geht es, unter der Voraussetzung der Entkopplung von Staat und Gesellschaft, um die Herausbildung einer "herrschaftsfreien staatsbürgerlichen Diskursöffentlichkeit" als ein "Problemfeld, an dem sich die katholische Kirche abzuarbeiten hat" (13). Beide Aspekte werden zwar im Rahmen des "historischen Rückblicks" als "Entwicklungslinien" entfaltet, aber doch schon weniger historisch als systematisch und vor allem noch ohne intensiveren Bezug auf Kirche und Theologie.

Dieser wird erst im zweiten Teile hergestellt: "Absolute Ablehnung - ambivalente Annäherung - abstrakte Akzeptanz: Etappen der katholischen Modernisierung" (87-294), der also - in den angegebenen drei Schritten - die Reaktion der katholischen Kirche auf diese "Zumutungen" darstellen soll. Auch in diesem nun ausdrücklich geschichtlichen Durchblick, der die Entwicklung etwa seit der Französischen Revolution bis in die unmittelbare Gegenwart umfaßt, gewinnt immer wieder das systematische Interesse die Oberhand. Von da her erklären sich gewisse Einseitigkeiten ebenso wie das zuweilen nur beiläufige Eingehen auf signifikante historische Vorgänge oder auch einzelne Ereignisse wie z. B. Zusammenhänge, Hintergründe und Konsequenzen des sog. "Amerikanismus", den Kulturkampf als ein europäisches Phänomen, die Römische Frage usw. Auch der Begriff "Etappen" darf eigentlich nicht historisch verstanden werden, sondern steht mehr für Reaktionsmuster, die durchaus nebeneinander und zuweilen auch gegeneinander stehen bis hin zu den Spannungen um die Öffnung im II. Vatikanischen Konzil.

Zumal in den Konzilstexten und den nachfolgenden offiziellen Verlautbarungen erkennt der Autor einen zwar "zaghafte(n), aber dennoch unübersehbare(n) Umbruch von der traditionellen staats- zu einer neuen gesellschaftszentrierten Politikperspektive". Doch befindet sich seitdem und gerade auch dadurch "die offizielle katholische Lehre zu Staat und Gesellschaft ... in einer tiefgreifenden Orientierungskrise" (286). Und so führt der "historische Rückblick" in den "systematischen Ausblick" im Suchen nach einer "nachkonziliare(n) katholische(n) Demokratietheorie, die sich auf dem sozialwissenschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Problemniveau heutiger Gesellschaften bewegen will" (294) - das Thema des 3. und 4. Teiles.

Teil 3, "Öffentlichkeit und Diskurs. Jürgen Habermas als Theoretiker einer zivilgesellschaftlichen Demokratie" (295-367), stellt zunächst die "demokratie- und öffentlichkeitstheoretischen Bemühungen des Frankfurter Sozialphilosophen" dar, in denen der Autor einen "naheliegenden Anknüpfungspunkt" für jene Aufgabe erkennt, um dann im vierten Teil, "Kirche in ziviler Gesellschaft. Ein politisch-theologischer Ausblick" (368-448), "das Verhältnis von Kirche und Öffentlichkeit im Rahmen einer politisch-theologischen Perspektive" zu entfalten, "die die Kirche als eine soziale Großbewegung, als eine gesellschaftskritische Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft zu bestimmen und produktiv in den politischen Kontext einer modernen zivilgesellschaftlichen Demokratie zu stellen versucht." (369) In einer ausführlichen Diskussion der verschiedenen Aspekte, die von der These ausgeht, daß auch "die von Habermas vorgelegte diskurstheoretische Demokratietheorie im Hinblick auf das anspruchsvolle Projekt einer zivilgesellschaftlichen Selbstregierungspraxis den Rahmen ihrer kommunikationstheoretischen Möglichkeiten noch zu wenig ausschöpft" (ebd.), gelangt der Autor schließlich zu einem "alternativen Vorschlag", der "sowohl dem Öffentlichkeitsanspruch der politischen Theologie als auch der ’Autonomie des Politischen’ in der pluralen Gesellschaft gerecht werden könnte" (429): "einen alternativen Umgang mit dem Habermasschen Modell der idealen Diskursprozedur ..., der diesen Ansatz nicht in seiner diskursethischen, sondern in seiner öffentlichkeitstheoretischen Variante ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und die Kirche als partikulare gemeinwohlorientierte Interpretationsgemeinschaft im Kontext einer zivilen Gesellschaft auf jenes aufklärungsoptimistische Gesellschaftsvertrauen verpflichten möchte, das sich - wenn auch nur zaghaft und rudimentär - in der neueren kirchlichen Lehrtradition ebenso findet wie - nachhaltig und explizit - in der diskurstheoretischen Interpretation des libe ralen Rechtsstaates und der politischen Öffentlichkeit" (ebd.).

Die größtenteils sehr komplexen Gedankengänge des Autors nachzuzeichnen, kann hier nicht der Ort sein. Sie im einzelnen zu diskutieren muß ohnehin dem speziellen Fachbereich überlassen werden. Die Kardinalfrage, die sich der Autor selber stellt, ist natürlich, "ob und inwiefern die Kirche diese ihr gleichsam ’von außen’ angebotene Standortbestimmung auch aus eigenem Antrieb, d. h. aus theologischen Motiven als legitim und wünschenswert akzeptieren kann und soll" (444). Und Voraussetzung dafür ist, daß sich die hier vorgenommene Einschätzung der katholischen Staats- und Gesellschaftslehre als realistisch erweist, nämlich "daß sich die kirchliche Lehrtradition seit dem II. Vatikanum ernsthaft darum bemüht, einen positiven Zugang zum neuzeitlichen Demokratieverständnis zu gewinnen und nach einem zukunftsfähigen Standort der Kirche im Kontext pluraler Gegenwartsgesellschaften zu suchen", daß sich "mit der lehramtlichen Verschiebung von der staats- zur gesellschaftszentrierten Politikperspektive ... die aktuelle Soziallehre der Kirche jedenfalls in eine Richtung" bewegt, "die prinzipiell anschlußfähig ist für die Leitidee einer zivilgesellschaftlichen Demokratie." (368 f.) Denn ausführlich und unmißverständlich schildert der Autor immerhin auch "Die Renaissance einer angstbesetzten Abwehrmentalität: Das roll-back in den vatikanischen Mediendokumenten der 1990er Jahre" (249-258). Und so stellt das Buch im Grunde vor eine offene Frage, auf die zu antworten die Sache anderer ist, des kirchlichen Lehramtes vor allem, aber nicht allein.

Ein ausführliches Literaturverzeichnis (449-481), ein Verzeichnis der Abkürzungen, vor allem zum Nachweis der Zitate im Text, sowie ein Personenregister beschließen das Opus. Reichhaltige Anmerkungen ergänzen die ausführlichen Zitate und verweisen auf weitere Zusammenhänge. Dankbar unterstrichen sei auch, daß der Druck ausgeprochen sorgfältig ausgeführt wurde.