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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

656–660

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Thomas M.

Titel/Untertitel:

Anerkennung und absolute Religion. Formierung der Gesellschaftstheorie und Genese der spekulativen Religionsphilosophie in Hegels Frühschriften.

Verlag:

Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann 1997. 517 S. 8 = Spekulation und Erfahrung, 38. Lw. DM 165,-. ISBN 3-7728-1724-6.

Rezensent:

Michael Moxter

Der Titel "Religionsphilosophie" wird oft mißbraucht, um einer incognito operierenden theologischen Apologetik zusätzliche Tarnung zu verschaffen. Kein Wunder also, daß die Aufgabe aktuell bleibt, diese Disziplin im Horizont der Fragestellungen und Methoden des Faches zu verankern, nach dem sie nun einmal benannt wird. Am überzeugendsten gelingt dies durch den Nachweis, daß sich mitunter gerade in der Religionsphilosophie die grundlegenden Perspektiven eines philosophischen Denkwegs ergeben. Die über fünfhundert Druckseiten hinweg luzide argumentierende Dissertation von Thomas M. Schmidt zeigt, daß dies bei Hegel der Fall ist.

Äußerlich präsentiert sie sich als eine Entwicklungsgeschichte der Hegelschen Philosophie von den Anfängen bis zum Abschluß der Jenaer Zeit, aber Sch. zielt mit der ausführlichen Rekonstruktion der Genese auf die Vorbereitung einer systematischen, also geltungstheoretischen Debatte (14), für die er drei Grundüberzeugungen entwickelt: Erstens müsse die Religionsphilosophie Hegels in einem internen Verhältnis zu seiner Sozialphilosophie und insbesondere zur Theorie der Anerkennung gelesen werden. Zweitens könne deren wechselseitige Durchdringung von den Frühschriften an bis zu einem Punkt verfolgt werden, an dem sich logisch-kategoriale Gründe für eine immanente Kritik des späteren Systems ergeben. Und drittens dürfe unter der Bedingung der demgemäß zu leistenden Revision die Behauptung erneuert werden, daß das Unternehmen "Religionsphilosophie" in der Darlegung der Rationalität des Gottesgedankens kulminiert. Historische Rekonstruktion und systematische Interpretation verbinden sich zu einem begrifflichen Verständnis von Religion, mit dem Sch. einen philosophischen Zugang zur Religion gegenüber ihrer funktionalistischen Betrachtung wie gegenüber ihrer fundamentalistischen Affirmation profiliert.

Der erste Teil dieses Buches ("Religion und Sittlichkeit in den ,theologischen’ Jugendschriften") könnte mit dem gutem Recht der Anspielung auch den Titel "Hegels ursprüngliche Einsicht" tragen: Das Konzept der Volksreligion wird als eine frühe Form einer Theorie der Sittlichkeit (42) verstanden, die aporetisch bleibt, aber gerade deshalb die Herausbildung der späteren Position ermöglicht und vorantreibt (auch in Anlehnung an W. Jaeschke: 23). Hegel beginnt im Stadium seiner Verpflichtung gegenüber der aufklärerischen Moralphilosophie und Gesellschaftskritik mit einer eher religionstheoretisch-einzelwissenschaftlichen Thematisierung der Religion, deren "ursprüngliche Absicht" (75) auf die Rechtfertigung und Unverzichtbarkeitserklärung von Religion zielt. Was an diesem Anfang im Verhältnis von Moralität und Liebe, von Gefühl und Institution, von historisch Gewordenem und vernünftig Allgemeinem ungeklärt bleibt, fokussiert sich im Problem der Positivität der Religion, von dem aus Hegels Ansatz zunehmend erschüttert wird. Sowohl die radikale Religions- und Kirchenkritik der Berner Zeit als auch das Bedürfnis nach einer kritischeren Auseinandersetzung mit Kants Moral- und Religionsphilosophie (insbesondere mit der Postulatentheorie) ergeben sich aus dem unausgestandenen Bruch zwischen der als lösungsbedürftig erkannten Aufgabe und dem historisch-pragmatischen Ansatz, mit dem diese zunächst angegangen wird (85). Ohne die logischen Voraussetzungen eines der Moderne angemessenen Religionsbegriffs zu klären, könne diese Aufgabe nicht erfolgreich bearbeitet werden.

In dem Maße, in dem Hegel sich mit Problemen der Rechtsphilosophie und der Nationalökonomie beschäftigt und indem sich folglich sein Blick für die konstitutive Bedeutung rechtlich geregelter Beziehungen vertieft, wächst auch seine Skepsis gegenüber der Basiskategorie "Liebe". Damit verschiebt sich das sozialphilosophische Leitthema und der kategoriale Sachverhalt der Differenz gewinnt Konturen gegenüber der romantischen Einheits- und Verschmelzungsphantasie. Mit dem Rechtsbegriff verschärft sich freilich das Positivitätsproblem (111).

Es deutet sich schon hier an, daß Sch. den Denkweg Hegels durchgängig als Kontinuität rekonstruiert: die Neuansätze in den begrifflichen Grundorientierungen sind Konsequenzen, die Hegel aus den sich jeweils ergebenden Problemlagen um seiner systematischen Option willen zieht. Auf der genannten Stufe seiner Entwicklung beispielsweise treibt der Widerspruch zwischen dem Liebesbegriff als einer unendlichen Macht der Vereinigung aller Gegensätze und dem unaufgebbaren Bestimmtheitsansinnen, das zur Allgemeinheit vernünftiger Moral gehört, eine Selbstkorrektur hervor, die mit der Bearbeitung des Bruchs zwischen Vernunft und Positivität korreliert ist: Es gilt, Endliches und Unendliches zu vereinigen, ohne das Endliche zu tilgen. Dem entspricht die religionstheoretische Aufgabe, die Trennung zwischen endlichem Bewußtsein und unendlichem göttlichen Leben zu überwinden, aber auch das gesellschaftstheoretische Problem, zwischen institutioneller Positivität und vernünftiger Legitimität (also zwischen Faktizität und Geltung) zu vermitteln. Die sachliche Nähe zwischen beiden Problemlagen wird in der Bearbeitung der kategorialen Grundbegriffe von Einheit und Differenz vorangetrieben, die seit der Jenaer Zeit datiert. Hegel geht es also nicht anders als dem Bewußtsein, das seine Phänomenologie des Geistes beschreibt: Er proponiert sein Thema, um sich an dessen Darstellung in ein Dilemma zu verstricken, das ihn zu einem Neuansatz zwingt.

Kontinuierlich erscheint auch der Schritt von der pragmatischen Historie zur Kritik der philosophischen Naturrechtslehren bzw. von der selbst gestellten Aufgabe, den Begriff des Unbedingten unter nachkantischen Bedingungen zu denken, zum Verhältnis von Reflexion und Spekulation. Hegel muß nämlich zweierlei zugleich zeigen: daß sowohl die historische Situation der Moderne wie auch das endliche Bewußtsein als solches der Idee des Unbedingten bedarf. Im Naturrechtsaufsatz und im System der Sittlichkeit werden darum die Sozial- und Rechtsphilosophie und in Glauben und Wissen wird die Reflexionsphilosophie kritisch rekonstruiert. Wiederum ergibt sich eine Verschränkung: Sozialphilosophisch muß das Verhältnis zwischen der endlichen Verfaßtheit konkurrierender Individuen und ihrer sozialen Integration, aber auch von positiver Religion und Sittlichkeit bestimmt werden, und auf der Ebene der theoretischen Philosophie erfolgt die Kritik des Reflexionsstandpunkts in Gestalt einer Kritik des religiösen Bewußtseins. "Religionsphilosophische Motive erhalten somit an dieser frühen Weichenstellung der Systementwicklung Hegels eine entscheidende Bedeutung" (200). Das gemeinsame Problemzentrum ermittelt Hegel an den unterschiedlichen Facetten einer Kritik der neuzeitlichen Subjektphilosophie, um diese in die Aufgabe einer rationalen Theorie des Absoluten zu überführen, die in einer nachkantischen Situation freilich nur als Analyse der Bestimmungs- und Reflexionsprozesse der Wissenschaft durchgeführt werden kann. Das Interesse an einer pragmatischen Historie setzt sich nach Sch. also darin fort, daß Hegel die Situation einer nachkantischen Zeit in Gedanken faßt.

Aus dieser Problemexposition ergibt sich eine - auch für den theologischen Diskussionszusammenhang einschlägige - Konsequenz, die Sch.s systematische Interessen umreißt: Ein grundsätzlicher Antirationalismus, der seine Immunisierungstaktik "gegenüber Kritik als Entfaltung genuiner Theologumena ausgibt" (210), lasse sich nur vermeiden, wenn man einen, unter den Bedingungen der Bildung der Zeit legitimierbaren, Gottesbegriff für die theoretische Philosophie wiedergewinnt (214 f.). "Hegels Einsicht" verschärft sich daher zu der Auffassung, nur durch einen philosophischen Begriff des Unbedingten sei diejenige Letztbegründung rational herleitbar, auf die wissenschaftliche Begründungsprozesse angewiesen sind (216).

Zur Hegelschen Durchführung dieses Programms gehört allerdings, daß die in die Religion eingebrochene Reflexion ernstgenommen und einer immanenten Überwindung zugeführt wird. Daher kann das Prinzip der Subjektivität nicht umgangen werden, und insbesondere kann die mit ihm verbundene historische Entzweiung zwischen Allgemeinem und Besonderem in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht übersprungen werden. Auch am Ort der Sittlichkeit muß daher das Verhältnis von Endlichem und Unendlichem als reale Einheit bestimmt werden, so daß wiederum Logik, Religionsphilosophie und Gesellschaftstheorie in einer Grundaufgabe zusammenfallen (241).

Diese "Einheit von religions- und rechtsphilosophischen Überlegungen" wird dann im dritten Teil, der zugleich den Untertitel der Arbeit abgibt, ausgeführt: "Formierung der Sozialphilosophie und Genese der spekulativen Religionsphilosophie" (257-496). Es kann an dieser Stelle auf Sch.s akribische Interpretation der ersten Systementwürfe nicht näher eingegangen werden. Doch sei wenigstens ein entscheidendes Argument hervorgehoben. Die zuerst im Naturrechtsaufsatz gebrauchte Wendung "Gegenteil seiner selbst" wird eingeführt, um Fichtes Fassung einer unendlichen Selbstbeziehung des reinen Selbstbewußtseins und um die kantisch-fichteschen Naturrechtslehren als Unterbestimmung eines relationslogischen Verhältnisses zu kritisieren. Dieses wird als Einheit zweier triangulärer Verhältnisse bestimmt (272 ff.), die einerseits durch gegenseitige limitative Abgrenzung gekennzeichnet, andererseits privativ auf einem gemeinsamen Grund bezogen sind (in Anschluß an M. Wolff: 315). Bei Hegel werde in der Folge aber die Eigenart der privativen Negation beständig vernachlässigt, so daß er das Verhältnis von Einzelheit und Allgemeinheit tendenziell nach dem Muster einer limitativen Entgegensetzung denkt (317). Darin liege der systematische Grund der für die spätere Rechtsphilosophie konstitutiven Höherstellung der staatlichen Institutionen gegenüber der sich in diese auflösenden Subjektivität und insbesondere der bellizistischen Auffassung Hegels, die die Gesundheit des Allgemeinen von dem Krieg erwartet, der den einzelnen Subjekten die Bereitschaft zum Tode abverlangt (296). Der Konflikt zwischen Einzelheit und Allgemeinheit kann nur zu Lasten des einzelnen gelöst werden, auch wenn diese Lösung "Aufhebung" verheißt. Entsprechend muß das System der Sittlichkeit den demokratischen Bildungsprozeß des Volkes durch die "Polizei als Zucht im Einzelnen" stützen und im Außenverhältnisse die anderen Völker kolonialisieren. "Am Ende eines sozialphilosophischen Konzepts, das die institutionellen Bedingungen der Verwirklichung von Freiheit rekonstruieren will, steht die Bestimmung systematischer Unterdrückung" (383). Sch. notiert dieses Ende nicht mit Entrüstungsabsicht, sondern um die logische Struktur aufzuweisen, durch die solche Überzeugungen eröffnet werden. Hegel entfalte nämlich die eigene relationslogische Figur und damit den zentralen Begriff des Gegenteils seiner selbst inkonsequent, weil er das Einzelne immer nur unmittelbar mit dem Allgemeinen zusammenschließt, am deutlichsten dort, wo er dieses Allgemeine (wie im Plädoyer für die konstitutionelle Monarchie) aus der Perspektive des Einzelnen entwirft (470). Demgegenüber müsse die Doppelheit von Unterscheidungs- und Beziehungsgrund in ihrer prinzipiellen Asymmetrie zur Geltung gebracht werden (485 f.), gründe doch die systematische Übervorteilung des Einzelnen "in einer Mißachtung und mangelnden Entfaltung der von Hegel logisch selbst in Anspruch genommenen Asymmetrie des limitativen Verhältnisses der Individuen zueinander und ihres privativen Verhältnisses zu[m] allgemeinen" (487; cf. 493).

Sch. verbindet diesen Vorschlag zum Umbau des Hegelschen Systems, der sich auf Arbeiten L. Sieps, K. H. Iltings und K. Hartmanns berufen kann, mit Überlegungen zur Stellung der Religionsphilosophie. Hier kritisiert er den Übergang von einer tetradischen Einteilung des philosophischen Systems, die der Doppelheit des Grundes präziser entspricht, zu einer triadischen Gliederung, die zu einer hierarchischen Unterordnung der Religion (und der Sittlichkeit) unter die Philosophie führt. Auch in dieser Kritik bestätigt sich die Zusammengehörigkeit von Religions- und Gesellschaftstheorie: die Subordination der Religion unter die sie aufhebende Philosophie fällt mit der Preisgabe der Differentialität intersubjektiver Verhältnisse zugunsten eines monologisch konzipierten Absoluten zusammen.

Die vorgelegte Arbeit gehört zu den seltenen unprätentiösen Hegeldarstellungen und vermag zudem immer wieder Brücken zwischen dem Niveau der Hegelforschung und den aktuellen sozialphilosophischen Diskussionen zu schlagen (dies betrifft vor allem die Stellung des Anerkennungsbegriffs, auf die hier nicht eingegangen werden konnte). Das Buch, das sich den Anspruch stellt, "den absoluten Geist im Kleingeld des konkreten Begriffs auszuzahlen" (9 f.), hat nur einen, freilich weitverbreiteten, Mangel: Für Kleingeld ist es nicht zu haben.