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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

652–654

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Horstmann-Schneider, Anjuta

Titel/Untertitel:

Sein und menschliche Existenz. Zu Tillichs philosophischer Anthropologie im Horizont von Theologie und Humanwissenschaft.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. XI, 208 S. gr.8 = Epistemata. Reihe Philosophie, 171. Kart. DM 48,-. ISBN 3-8260-1064-7.

Rezensent:

Hermann Fischer

Das Problem der vorliegenden Studie, einer von der philosophischen Fakultät der Johann-Wolfgang-Goethe Universität zu Frankfurt/M. angenommenen Dissertation, zeigt sich bereits im Untertitel der Arbeit: "Zu Tillichs philosophischer Anthropologie im Horizont von Theologie und Humanwissenschaft". Er suggeriert die Vorstellung, als ließe sich aus Tillichs Werk eine "philosophische Anthropologie" herausfiltern und dann in den Horizont von Theologie (und Humanwissenschaften) einrücken. So ähnlich sagt es die Vfn. in der "Einleitung" (1-10) selbst: "Da es uns in erster Linie um die Anthropologie geht, um die Herauskristallisierung dessen, was das menschliche Sein und Dasein ausmacht, werden die in irgendeiner Weise in Beziehung zu unserem Thema stehenden theologischen Gedanken und Positionen Tillichs angeführt, aber dennoch nur sekundär(!) behandelt" (9). Bei solchem methodischen Vorgehen ist nicht nur der von Hause aus theologische Ansatz der Anthropologie Tillichs, sondern auch die kunstvolle systematische Verzahnung philosophischer Gesichtspunkte und theologischer Argumentation in Tillichs Werk verkannt, obwohl sich die Vfn. durchgehend auf die 3 Bde. der Systematischen Theologie Tillichs bezieht. Der Dissertation ist leider durchweg anzumerken, daß die Vfn. sich hinsichtlich der Theologie auf unsicherem Boden bewegt.

Des weiteren wird man bedauern müssen, daß die Vfn. aus "einem grundsätzlich systematischen Interesse" heraus weitgehend darauf verzichtet, philosophische und theologische Ein-flüsse auf Tillichs anthropologische Grundannahmen (Schelling, Hegel, Kierkegaard etc.) herauszuarbeiten (9). Das eine hätte das andere ja nicht ausgeschlossen. Da gerade an dieser Stelle noch Forschungsbedarf besteht, wäre hier weitere Aufklärung erwünscht gewesen; die Hinweise auf Max Scheler reichen dafür nicht aus.

Das systematische Interesse an Tillichs Anthropologie führt schließlich dazu, innere Entwicklungen in Tillichs eigenem Werk nicht weiter zu verfolgen. Argumente und Texte aus der Früh- und Spätzeit stehen undifferenziert nebeneinander, auch die jeweiligen, entweder stärker philosophisch oder theologisch akzentuierten, Kontexte werden für die Analysen nicht genutzt.

In der erwähnten "Einleitung" bietet die Vfn. nicht einen Bericht über den Stand der Forschung am Gegenstand, um vor solchem Hintergrund Ansatz und Fragestellung der eigenen Arbeit zu profilieren, sondern setzt unvermittelt mit Erwägungen zu Max Schelers Anthropologie ein. Veranlaßt ist das, abgesehen von einigen biographischen Beziehungen zwischen Scheler und Tillich, vermutlich durch das Stichwort "philosophische Anthropologie", die durch Schelers Forschungen in der ersten Hälfte des 20. Jh.s neue Bedeutung erlangt hat. Es charakterisiert geradezu die Arbeit, daß die Vfn. beinahe assoziativ immer wieder auf Scheler verweist, wenn Formulierungen oder Gedanken Tillichs das nahezulegen scheinen. Damit erweckt sie den - unzutreffenden - Eindruck, als habe Scheler eine im Verhältnis zu anderen Autoren herausragende Bedeutung für Tillich gehabt. Für Tillich sind aber andere Autoren und philosophische Strömungen mindestens ebenso wichtig, wenn nicht gar wichtiger gewesen.

Vorrangig ist hier zunächst Schelling zu nennen, über den Tillich theologisch wie philosophisch promoviert und dessen Philosophie er später als Vorform des Existentialismus gedeutet hatte. Sodann wäre an den nachhaltigen Einfluß Nietzsches zu denken, ferner an die Lebensphilosophie (Henri Bergson) und die Existenzphilosophie des 20. Jh.s. Die Konzentration auf M. Scheler verdeckt die Bedeutung dieser anderen, auch anthropologisch folgenreichen, philosophischen Konzeptionen für Tillichs philosophische Theologie. Bei den Verweisen auf Scheler beschränkt sich die Vfn. überdies nur auf dessen kleine Studie "Die Stellung des Menschen im Kosmos", die im Todesjahr Schelers (1928) erschienen ist, und verzichtet darauf, die übrigen gewichtigen Arbeiten Schelers zur philosophischen Anthropologie, auf die er in der Vorrede zur ersten Auflage seines Büchleins von 1928 eigens hinweist, zu Rate zu ziehen. - In der Einleitung formuliert die Vfn. dann auch die für Tillich unspezifische und in ihrem Gehalt schlichte Leitthese der Arbeit, "daß die Auffassung vom Menschen eine Betrachtung des menschlichen Seins verlangt, die dasselbe in seiner Totalität erfaßt und nicht als ein Kompositum von Teilen, das die Zerstückelung des menschlichen Seins zur Folge haben kann" (8).

Unter solchen wenig günstigen Voraussetzungen wird in einem I. Kapitel Tillichs Erkenntnislehre erörtert (11-38: "Erkenntnis und Schicksal"). Hier wie dann auch in den späteren Partien der Arbeit ist wiederholt von Tillichs "metaphysischem" Ansatz bzw. Denken oder von der "metaphysischen" Wahrheit die Rede (u. a. 32 f.; 38), ohne daß der Leser erfährt, was mit diesem - für Tillich wiederum unspezifischen - Begriff präzise gemeint sein soll. Handelt es sich um eine Interpretationskategorie für Tillichs Ontologie? Ist er vorwiegend kritisch oder doch auch positiv gemeint? Es bleibt in der Schwebe.

In einem II. Kapitel kommt die ontologische Korrelation von Selbst und Welt zur Sprache, die Tillich vornehmlich an den ontologischen Polaritäten von Individuation und Partizipation, von Dynamik und Form und von Freiheit und Schicksal entfaltet (39-52). Hier behauptet die Vfn. u. a. (42), daß Tillich nicht zwischen Ontologie und Metaphysik differenziere. Das trifft in dieser Form aber nicht zu.

Nur drei Seiten nach dem für diese Behauptung angeführten Beleg (vgl. 42, Anm. 2) schreibt Tillich (GW XI,157): "Wie unterscheidet sich die Ontologie von dem, was man Metaphysik nennt? Die Antwort darauf lautet, daß die Ontologie die Grundlage der Metaphysik, aber daß sie selbst nicht Metaphysik ist. Die Ontologie stellt die Frage nach dem Sein, d. h. nach etwas, das in allem und jedem in jedem Augenblick gegenwärtig ist. Sie ist niemals ,spekulativ’ in dem (ganz ungerechtfertigt) abwertenden Sinn des Wortes, sondern sie ist immer deskriptiv ...".

Ein III.Kapitel ist der Analyse der Endlichkeit des Menschen gewidmet (53-63: "Sein und Endlichkeit"). Die Vfn. trägt die zu diesen drei Themenkreisen einschlägigen Äußerungen Tillichs zusammen, ohne aber wirklich neue Einsichten zutage zu fördern. Im IV. Kapitel "Der Grund und Abgrund des menschlichen Seins" (64-95) bewegt sie sich in dichten theologischen Problemzusammenhängen, vermag sie aber nicht in ihrer Tiefendimension auszuloten, weil sie sich letztlich nicht auf das theologische Argumentationsgefüge einläßt, sondern vom externen Standpunkt einer "philosophischen Anthropologie" her sieht und urteilt. Die interpretatorische Unbeholfenheit der Vfn. zeigt sich u. a. darin, daß sie erst im Anschluß an dieses Kapitel, in dem schon kontinuierlich von Gott gesprochen war, auf eineinhalb Seiten einen "Exkurs: Die Legitimation einer Rede über Gott" nachträgt (96 f.).

Im V. und umfänglichsten Kapitel kommt "Das Verhältnis der Existenz zur Essenz des Menschen" zur Darstellung (98-174). Die Interpretation des für Tillich zentralen Begriffspaares Essenz - Existenz gerät aber dadurch in eine Schieflage, daß die Vfn. gleich zu Beginn ihrer Arbeit und auch später den Begriff der Essenz synonym mit dem nicht näher spezifizierten Terminus "Ontologie" verwendet und davon spricht, "daß das existentielle Sein ... nur vor dem Hintergrund ontologischer Fundierung des Seins faßbar wird" (8).

Die Undeutlichkeit dieser Interpretation taucht zu Beginn des V. Kapitels in folgender Beschreibung wieder auf: "Die Unterscheidung zwischen einem essentiellen und einem existentiellen Sein des Menschen impliziert Tillichs Bestimmung des Menschen einerseits von seinem Wesen her, d. h. von seiner essentiellen Natur, und andererseits von seiner existentiellen Situation her mit all den in ihr enthaltenen Fragwürdigkeiten. Essentieller und existentieller Zustand werden von Tillich als wahrer und wirklicher Zustand differenziert. Das wahre Sein des Menschen als in sich geschlossenes steht dem wirklichen aktuellen Sein des Menschen ... gegenüber" (98. Hervorh. v. H. F.). Mit der Deutung von "Essenz" als in sich geschlossenem Sein verfehlt die Vfn. die Intention Tillichs. Das gilt entsprechend für andere einschlägige Leitbegriffe, die in diesem V. Kapitel erörtert werden (1. Existenz als Entfremdung, das Seiende im Widerspruch zu seiner Geschöpflichkeit. 2. Existenz als Frage nach Überwindung von Entfremdung unter dem Aspekt der Zweideutigkeit des Lebens. 3. Der Mensch als "endliche Freiheit". 4. Der Mensch als geschichtliches Wesen und die Sinnorientierung), sofern deren theologische bzw. christologische Perspektiven und Implikationen kaum in den Blick treten.

Das VI. Kapitel "Der Mensch als Einheit" (175-192) greift die schon in der Einleitung formulierte These wieder auf und erläutert sie. Nach Tillich sei "der Mensch, trotz der Annahme seines a priori gedoppelten Seins in Essenz und Existenz, seiner Entfremdung von sich selbst, seiner Endlichkeit, die mit Angst vor dem Nichtsein einhergeht, und seines Seins als Zusammensetzung aus verschiedenen Elementen, als eine Einheit zu denken" (175).

Abgesehen davon, daß Tillich sich mit dem Versuch eines einheitlichen Menschenverständnisses in Übereinstimmung mit Grundtendenzen der philosophischen (und auch theologischen) Anthropologie im 20. Jh. befindet, ist die Formulierung "Zusammensetzung aus verschiedenen Elementen" (!) außerordentlich irreführend, weil sie die Einheit, die Tillich zur Ausage bringen will, eher als Konglomerat denn als wirkliche Einheit in den Blick bringt. Tillich spricht - sehr viel einleuchtender - von "Dimensionen", wie die Vfn. auch selbst an anderer Stelle richtig sieht (vgl. 125-130 den Abschnitt: "Die vieldimensionale Einheit des Lebens" und 184-186). Gegenüber der Behauptung einer a priori-Struktur für die Existenz sind ebenfalls Vorbehalte angebracht, da es sich bei Existenz ja gerade nicht um ein Phänomen mit a priori-Charakter handelt, sondern um einen in der Selbstwahrnehmung des Menschen verorteten Sachverhalt.

Auch in sprachlicher Hinsicht wirkt die Arbeit wiederholt unpräzise und unbeholfen. Statt von Voraussetzung ist von "Voraussicht" die Rede (38, 67 u. ö.). Oder man liest: "Wie Schelling will auch Tillich dem Unbedingten als ontologischem Prinzip wieder Gültigkeit zuweisen" (65). Daß Albrecht Ritschl nach Marburg versetzt wird, wo er nie gelehrt hat (58, Anm. 3), mag man zu den verzeihlichen Irrtümern rechnen, könnte aber auch die Unsicherheit der Vfn. in theologischen Gefilden dokumentieren.

Als "wichtigste Konsequenz" des Verständnisses vom Menschen als einer vieldimensionalen Einheit stellt die Vfn. "die Überwindung der dualistischen Gegenüberstellung von Geistigem und Physisch-Leiblichen" (188) heraus. Dem ist zuzustimmen. Im übrigen aber hinterläßt die Dissertation nach Ansatz und Durchführung einen enttäuschenden Eindruck und kann kaum als ein substantiell förderlicher Beitrag zur Tillich-Forschung angesehen werden.