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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

47–49

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frankemölle, Hubert

Titel/Untertitel:

Matthäus Kommentar, 2.

Verlag:

Düsseldorf: Patmos 1997. 560 S. gr.8. Pp. DM 78,-. ISBN 3-491-77026-2.

Rezensent:

Wolfgang Wiefel Ý

Mit dem hier vorzustellenden zweiten Band des Matthäuskommentars, dessen erster Teil bereits angezeigt wurde (ThLZ 120, 1995, 883-885), liegt das in deutscher Sprache derzeit bedeutendste Werk der synoptischen Forschung jenseits des maintreams vor. Äußeres Zeichen der Sonderposition: Es erscheint in keiner der eingeführten Reihen; es wird präsentiert vom Patmos Verlag, der sich seit langem als Zufluchtsort für risikobereite katholisch-theologische Autoren erwiesen hat.

Blickt man auf den Gang neutestamentlicher Arbeit in den letzten Jahrzehnten zurück, so ist die Hauptstraße durch die Stationen Quellenkritik, Formgeschichte, Redaktionsgeschichte gekennzeichnet. Am Ende hatte sich eine von den konfessionellen Grenzen unabhängige dominante Methodologie herausgebildet, die auch fähig schien, sozialgeschichtliche Anstöße zu integrieren, die durch Angehörige der um 1968 geprägten Wissenschaftlergeneration vermittelt wurden.

Abseits davon gab es die Versuche, den linguistic turn in den Geisteswissenschaften nachzuvollziehen und bereits den Ansatz der Formgeschichte kritisch zu hinterfragen. In Deutschland war es der unermüdliche Ehrhardt Güttgemanns, der mit seinen studia linguistica neotestamentica und der von ihm inaugurierten Reihe seit den siebziger Jahren für sein Konzept zu werben versuchte. In Frankreich, wo der Strukturalismus eine Zeitlang zur herrschenden Philosophie geworden war, hat man vor allem die Anregungen der älteren Generation der Vordenker (Levy-Strauss, Barthes, daneben Greimas) aufgenommen, etwa bei L. Marin in seiner Semiotik der Passionsgeschichte. In deutscher Sprache trat den moderaten Versuchen, der Synchronie vor der Diachronie den Vorzug zu geben (F. Stenger, M. Theobald, W. Egger) das noch entschiedenere neue Programm einer literaturwissenschaftlichen Exegese an die Seite. Eine Art Initialzündung dürfte der vor allem im katholischen Raum viel beachtete Aufsatz des Bielefelder Romanisten Harald Weinreich, Narrative Theologie (Conc 9, 1973, 329-334) gewesen sein - auch für den im benachbarten Paderborn wirkenden Frankemölle. Der Durchbruch zu einem der Rezeptionsästhetik verwandten Ansatz in der neutestamentlichen Arbeit erfolgte dann unter Einfluß einer von der Romanistik inspirierten Literaturtheorie, für die die Namen H. R. Jauss und Umberto Eco stehen.

Bereits im ersten Teil der Matthäusauslegung war es die Zielsetzung des Kommentars, rezeptionsorientiert, d. h. unter der Perspektive der ersten Leser zu interpretieren, also: Sinnerschließung nicht von einer vorgegebenen Intention des biblischen Autors her, sondern im Dialog zwischen Text und Leser zu ermöglichen, wo sich der Sinn erst im Akt sukzessiven Lesens unter den lebensgeschichtlichen Bedingungen des Lesers je neu konstituiert (II,59). So wird der Text zum "offenen Text", der "unterschiedlich viele Interpretationen anregen kann, aber nicht jede beliebige Interpretation erlaubt" (II,60). Von da aus erscheint die Entscheidung des Exegeten Frankemölle für Matthäus keineswegs zufällig. Die Lektüre des Matthäusevangeliums ist geeignet, den Dialog mit dem Judentum, besser: die Wahrnehmung der von Verdunkelung bedrohten jüdischen Tradition durch einen Heidenchristen möglich zu machen, eine Position, die der Verfasser seit seinem Erstling Jahwe-Bund und Kirche Christi (1974) unermüdlich vertritt. Das schlägt durch bis zu der im neuen Band gegenüber U. Luz ausdrücklich festgehaltenen Sicht, daß es sich bei Matthäus keineswegs um die Verteidigung der Heidenmission gegenüber der eigenen Gemeinde handelt (63), sondern um eine universale Orientierung, in der Jesus als Immanuel für die (Heiden)Völker wie für Israel aufscheint. "Im MtEv. haben wir einen historisch-theologischen Text zu interpretieren, der eine innergemeindliche Gesprächssituation wiedergibt."

Diese Feststellungen sind Teil eines Rückblicks, der "zur lesenden Vergewisserung" (59-70) die Ergebnisse des ersten Bandes zusammenfaßt und zwischen Übersetzung (19-58) und Kommentierung (ab 71) ihren Platz hat. Die dem rezeptionsorientierten Prinzip der Intertextualität korrespondierenden "Leserlenkungen", durch die die Leser bei der Texterschließung Orientierung erfahren, sollen die Schriftgemäßheit von Person und Werk Jesu dartun (62). Sie sind bevorzugt, aber keineswegs ausschließlich unmittelbare Schriftzitate. Es treten hinzu die durchgängigen Bestimmtheiten wie die Einheit von Sprachlichem und Nichtsprachlichem im Handeln Jesu, seine Rolle als Nachfolger des Täufers, die in Transparenz zur Gegenwart aufgefaßte Aufgabe der Jünger, wie sie im ersten Teil bereits aufgewiesen wurden und die nun als Basis der weiteren Rezeption dienen.

Noch weniger als beim ersten Band ist es möglich, den Gang der Exegese nachzuzeichnen und die Fülle der Anregungen zu benennen, die auch den mit anderem Instrumentarium arbeitenden Bibelleser die Kenntnisnahme dieser Auslegung unverzichtbar macht. Hier wird sichtbar, in welchem Maße die Gesamtkonzeption die Interpretation des Einzelnen bestimmt. Einige wenige markante Beispiele mögen genügen.

Der Vers 10,23 ist nicht erratisches Zeugnis der Parusieverzögerung, denn es meint nicht die Städte Palästinas, sondern der Diaspora und erinnert die Leser an die dauernde missionarische Aufgabe der Gemeinde (85). Der "Stürmerspruch" 11,12 zielt auf Menschen, die sich "basileiagemäß verhalten" (112). - Die Nennung der Unmündigen, denen nach den Worten des Preisgebets 11,25 die Offenbarung gilt, soll keine sozialgeschichtlichen oder religiös-intellektuellen Assoziationen auslösen, sondern an Gestalten erinnern, "die im bereits erzählten Evangelium Gottes Offenbarung annahmen: Maria und Joseph, die Sterndeuter, Johannes der Täufer, die Jünger, Kranke, Zöllner, Sünder ..." (122). - In der sog. Primatstelle Mt 16,16-19 steht nicht Petrus im Mittelpunkt, sondern das christologische Zeugnis (224). Die Petrusgestalt bei Matthäus ist Teil des allgemeinen Jüngerbilds, das transparent für alle Christen ist, dies aber "braucht eine typologische Petrus-Figur für alle Gemeindeleiter nicht auszuschließen" (222). Wie schon mehrfach in früheren Arbeiten möchte der Vf. für die ekklesia einen auch den ersten Lesern vertrauten deuteronomischen Hintergrund zur Geltung bringen, einen Aspekt, der sich durch die Bedeutung der Zeugenfunktion in der als Parallele verstandene Gemeindeordnung 18,15-17 verstärkt (259).

Ungeachtet der Frage nach einem an die markinische Vorlage angelehnten zweiten Streitgesprächszyklus wird die Komposition 22,1-22,46 (302-359) als ein Konstrukt beschrieben, das alle aktuellen Kontroversfragen der Leser aufnimmt, die als Judenchristen den Messias Jesus gegenüber den anderen jüdischen Gruppen abgegrenzt sehen wollen (304). - Die Frage nach dem Aufbau des ganzen Evangeliums stellt sich noch einmal, wenn die gesamte Redefolge 23-25 als Einheit begriffen und als letzte Rede der ersten 5-7 gegenübergestellt wird (389). Die Vv. 1,2-4,22 und 26,1-28,15 erscheinen dann als flankierende Komplexe (435).

In der Passionsgeschichte geht es immer wieder um die Spannung von Judentum und Christentum. Auf zwei Höhepunkte sei verwiesen: Das Bekenntnis vor dem Hohen Rat 26,63-65 ist so formuliert, daß es die differentia specifica zwischen christusgläubigen und nichtchristusgläubigen Juden deutlich macht (463-468). - Die Blutübernahmestelle (27,25), die eine ungeheuerliche Wirkungsgeschichte haben sollte, wird im Zeichen intertextueller Leserlenkung in einer Weise aufgefaßt, die jeden Mißbrauch fernhält: "Die Konsequenz der Übernahme ist mit der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem im Jahre 70 abgegolten" (484). Die in der Lektüre des ganzen Evangeliums durchgehaltene Sicht bleibt unverrückt bestehen: Es gibt kein Ende Israels als Gottesvolk (487).

Hält man sich den literaturwissenschaftlichen Ansatz des Auslegungswerkes vor Augen, so ist mehr noch als der Bucheingang der Schluß für die Konstituierung des "offenen Textes" von Bedeutung. Die narrative Perspektive "bis zum Ende der Weltzeit" (28,20) erweist sich nur als die eine Seite. Neben ihr steht die christologische Mit-sein-Aussage, die das Wirken Jesu mit einer als Bundesgeschichte verstandenen Geschichte der Kirche aus Juden und Heiden verknüpft (553).

Daß es sich bei diesem Kommentar um ein Werk von großer Geschlossenheit handelt, dem mit Kritik von außen nur schwer beizukommen ist, zeigte sich bereits am ersten Teil. Trotz reichhaltiger Bibliographie und souveräner Literaturbeherrschung sind der Integration dessen, was innerhalb des mainstreams der synoptischen Forschung erarbeitet wurde, Grenzen gesetzt. Die mit allen eingangs charakterisierten alternativen Richtungen geteilte Skepsis gegenüber dem autorzentrierten Zugriff lassen selbst Fragen wie der nach dem Verhältnis zu Markus und zu Q weitgehend ausgeblendet. Die Arbeit Rudolf Bultmanns (und seiner unmittelbaren Schüler) scheint versunken und vergessen. Der Leser freilich, der der Kompliziertheit und Hypothesenfreudigkeit moderner deutscher Exegese überdrüssig geworden ist, wird vielleicht gerade in der mit diesem Kommentar gegebenen Alternative ein Angebot sehen, das Evangelium neu lesend, die Schrift beider Testamente als Einheit zu begreifen.