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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

646 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Rink, Sigurd

Titel/Untertitel:

Der Bevollmächtigte. Propst Grüber und die Regierung der DDR.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1996. 259 S. gr.8 = Konfession und Gesellschaft, 10. Kart. DM 59,-. ISBN 3-17-014012-4.

Rezensent:

Damian van Melis

Obwohl Heinrich Grüber (1891-1975) zu den wichtigsten Kirchenvertretern in der DDR gehörte, ist die Erinnerung an ihn weitgehend verblaßt. Sigurd Rink hat eine Teilbiographie über ihn vorgelegt, die sich auf seine Tätigkeit als Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Regierung der DDR von 1949 bis 1958 konzentriert.

Einleitend stellt R. in groben Zügen die mentale und politische Prägung Grübers aus der Zeit des Kaiserreichs, dessen Monarchie er sich bis in die vierziger Jahre verpflichtet fühlte, und den weiteren Lebensweg Grübers bis 1945 dar. Seit 1920 Pfarrer und Leiter pädagogischer Einrichtungen, gründete er 1937 die Evangelische Hilfsstelle für nichtarische Christen, die NS-Verfolgten bei der Auswanderung half. Er leitete dieses ,Büro Pfarrer Grüber’ bis zu seiner Internierung in den KZs Sachsenhausen und Dachau seit 1940. 1945 wurde er Propst in Berlin und - dank seiner Sprachkenntnisse und zahlreichen ökumenischen Kontakte - Pfarrer der dortigen niederländischen Gemeinde. Daneben übernahm Grüber 1945 weitere kirchliche und politische Aufgaben, von denen R. vor allem die leitende Tätigkeit im Berliner Hilfswerk, seine Teilnahme an der CDU-Gründung und seine Tätigkeit im Berliner Magistrat darstellt. Wiederum kümmerte sich der kirchliche, politische und soziale Multifunktionär in besonderer Weise um die Not von Migranten und arbeitete dabei mit zahlreichen Kommunisten in den neuen Institutionen der sowjetischen Besatzungszone zusammen. Für seine spätere Tätigkeit war es wertvoll, daß er dabei viele einflußreiche KPD/SED-Funktionäre und deren politisches Handwerkszeug kennenlernte.

Grübers Spiritualität und Praxis orientierte sich fundamental am Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Nicht zuletzt diese Erzählung begründete seine ausgeprägte Kontaktfreude und "Anschlußfähigkeit" (242) gegenüber Zeitgenossen der unterschiedlichsten politischen und konfessionellen Richtungen, die er in zahlreichen politischen und sozialen Initiativen praktisch werden ließ. Daß Grübers fast ausschließlich pastorale Ausrichtung ihm wiederholt den Blick für die Ziele seiner (Ansprech-) Partner versperrte, führt R. auf dessen weitgehendes Desinteresse an fundierten theologischen und politischen Reflexionen zurück. Sein an den Leidenden orientierter Pragmatismus führte ihn daher zuweilen in eine große Nähe zu SED und DDR-Regierung, denen es nie schwerfiel, die eigenen Maßnahmen sozial(-politisch) zu begründen.

Einen weiteren Anknüpfungspunkt zur DDR-Führung fand Grüber in deren gesamtdeutscher Rhetorik, da auch ihm - ähnlich wie vielen anderen evangelischen Christen seiner Zeit - die deutsche Einheit wichtiger war als die Westintegration und das Beharren auf rechtsstaatlichen Standards. So versuchte er in den verschiedenen Phasen der Gesellschafts- und Kirchenpolitik der DDR bis zum endgültigen Bruch seitens der DDR-Führung 1958 immer wieder als Botschafter der Kirche die Fühlungnah-me und den Informationsaustausch mit dem Staat aufrechtzuerhalten, obwohl die Liste von Fehlschlägen lang ist und er immer wieder seine Einflußlosigkeit und Ohnmacht zu spüren bekam.

Zu Unrecht ist Grüber in weniger prominenter Erinnerung geblieben als andere EKD-Politiker wie Gustav Heinemann und Martin Niemöller, die sich ebenfalls um Entspannung und Verständigung zwischen Kirche und Staat in der DDR bemühten, oder Grübers kircheninterner Gegen- und Mitspieler, der Berliner Bischof und EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius, "der geradlinig und strikt gegen den neuen DDR-Staat in Opposition ging" (11). Trotz der zahlreichen Differenzen und Verstimmungen zwischen Grüber und dem in der SED verhaßten Dibelius nahm die Regierung gerade Grübers öffentliche Solidarität mit seinem Bischof zum Anlaß, ihre Zusammenarbeit mit dem Bevollmächtigten aufzukündigen.

Trotz einleitender Absätze über die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen vor jedem Kapitel leidet R.s materialreiche Darstellung an einer stark binnenkirchlichen Orientierung. Ebenso wie sein großes, mit Grübers Haltung vergleichbares Bemühen um Verständnis gegenüber der DDR-Regierung führt dies zu manchen inhaltlichen Schlagseiten, die der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR nicht gerecht werden. Beispielsweise stellt R. die "Differenzierung" zwischen ,fortschrittlichen’ und ,reaktionären’ Pfarrern einerseits eindeutig als Herrschaftsstrategie der SED dar, verteidigt sie aber gleichzeitig als "Notbehelf der Regierung, mit der sie auf die starke Stellung der Kirche und ihre massive Unterstützung in der Bevölkerung zu reagieren versuchte" (131 ff.). Sinnvoller als R.s Konstrukt, daß die SED nur zwischen dieser "Differenzierungsstrategie" und "tatenlos[em] Zuschauen" (133) hätte wählen können, wäre eine eingehende Reflexion über die Legitimation der von sowjetischen Bajonetten geschützten Herrschaft und über Grübers weitgehendes Desinteresse an dieser Frage gewesen.