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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

644–646

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Kampmann, Jürgen

Titel/Untertitel:

Von der altpreußischen Provinzial- zur westfälischen Landeskirche (1945-1953). Die Verselbständigung und Neuordnung der Evangelischen Kirche von Westfalen.

Verlag:

Bielefeld: Luther 1998. 658 S. gr.8 = Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 14. Kart. DM 58,-. ISBN 3-7858-0393-1.

Rezensent:

Günther van Norden

Mit diesem voluminösen Werk legt Jürgen Kampmann der Öffentlichkeit seine Habilitationsschrift vor. Es handelt sich um eine ganz vorzügliche, fleißige Forschungsarbeit, faktengesättigt, bis ins Detail genau, fast penibel; aber durchaus nicht nur chronistisch, sondern auch voller interessanter und zum Teil kritischer Interpretationsansätze aus lutherischem, BK-distanziertem Hintergrund.

K. erkennt sehr scharf die Schwäche der BK 1945 in Deutschland, also auch in Westfalen, aber er übernimmt zu schnell den Allgemeinplatz von der "minoritären Gruppe" der Dahlemiten, ohne ihn wiederum kritisch hinsichtlich der sehr unterschiedlichen Stärke bzw. Schwäche in den verschiedenen Regionen und auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen zu differenzieren. Und so beachtet er nicht, daß im Rheinland die bruderrätliche Position viel stärker als in Westfalen ist und damit - trotz "rückwärtsgewandter" Formulierungen und Positionen - die inhaltliche, theologische und kirchliche Neuordnung und Neuorientierung, sowohl von den Gemeinden, wie auch von der Kirchenleitung, wie auch von der neuen Theologischen Fakultät in Bonn her stringenter durchgeführt wird. Immerhin zitiert K. Hans Iwand, der die Neubildung der Kirchenleitung in Westfalen "schäbig und schwunglos" nannte und seine Hoffnung auf das Rheinland richtete (239).

Es erstaunt den Rez. sehr, daß K., der zumeist auf hohem wissenschaftlichen Niveau argumentiert, einen so schwachen Vergleichssatz formuliert, daß die Tendenz 1945 im Hinblick auf das Rheinland mit dem Schlagwort "Wiederherstellung", in Westfalen mit dem Schlagwort "Neuordnung" charakterisiert werden könne - K. schränkt allerdings selbst ein, das sei nur "einigermaßen zutreffend" (233). Im Rheinland ist - wie in Westfalen - bei allen formalen Anknüpfungsversuchen an den alten Rechtszustand weder die Machtstellung des Konsistoriums, noch die des Generalsuperintendenten, noch die des Provinzialkirchenrates "wiederhergestellt" worden, auch wenn sie teilweise nominell kurzzeitig weiter existierten; vielmehr bestimmten die drei "Dahlemiten" Beckmann, Held und Schlingensiepen in der einen, zusammengefaßten Kirchenleitung die Richtlinien der Kirchenpolitik. Zu Recht weist K. darauf hin, daß in der Vereinbarung vom 15. Mai 1945 die Frage des zukünftigen Verhältnisses der rheinischen Kirchenprovinz zur ApU nicht behandelt worden ist (199), sie ist jedoch in der Diskussion der Kirchenleitung über die Vereinbarung am 15. Mai thematisiert worden als "Ablösung" von der altpreußischen Landeskirche.

Sehr instruktiv ist das kritische Kapitel über den Machtzugriff des Generalsuperintendenten Dibelius in der Kirchenleitung der ApU und über die erfolgreiche Behauptung der Selbständigkeit der beiden westlichen Landeskirchen Rheinland und Westfalen aufgrund der Vereinbarung von Treysa, so wie dies K. resümiert (304). Durchgesetzt hat sich die östliche Kirchenleitung nicht (295). Daraus resultierte die fast maßlose Frustration des Berliner Bischofs mit seiner Abqualifizierung Helds, die K. erstmals aufschlußreich dokumentiert (305-308). Es ergibt sich vermutlich aus den unterschiedlichen theologischen Prägungen des Vfs. und des Rez., daß der Rez. die These des Vfs., die Schwäche der BK 1945 zeige sich auch darin, daß sie nicht in der Lage gewesen wäre, die von der BK vorgezeichnete Linie einer konfessionellen Aufgliederung der Unionskirche durchzuführen (345), für falsch hält; im Gegenteil:

Es beweist die Stärke der BK 1945, daß sie die im Kirchenkampf gewonnene Gemeinsamkeit von Lutheranern, Reformierten und Unierten im Bekenntnis von Barmen durchhält, damit auch die Union bewahrt, damit auch die Evangelische Kirche der Union rettet, aus der heraus im Kirchenkampf wichtigere theologische Anstöße der Widersetzlichkeit erfolgten als in manchen lupenreinen Konfessionskirchen. Es ist wohl auch so, daß K. - vielleicht aus seinem Verständnis vom Amt - die "mündige Gemeinde" für eine Chimäre hält, wenn er Niemöllers "Polemik" gegen den lutherischen Konfessionalismus unterstellt, er erkläre "zwischen den Zeilen den Verstehenshorizont der Gemeindeglieder zum Maßstab" und habe mit solchem "auf den Wert geistlicher Einfalt" abhebendem Argumentieren "gerade bei den Laien" Erfolg (368). Diese theologische Arroganz reduziert tatsächlich den Laien zum Unwissenden, den erst der akademische Theologe durch "Schulung" dazu qualifiziert, mitreden und miturteilen zu dürfen. Vielleicht hat der Vf. es nicht so gemeint, aber er hat es so vermittelt.

Der große Wert des Buches liegt darin, daß es Positionen klarmacht, daß der Vf. nicht harmonisiert, sondern zum Diskurs herausfordert. Dazu noch zwei Beispiele: K. behauptet, ohne hinreichende Begründung, für das Scheitern einer einheitlichen Kirchenordnung für Rheinland und Westfalen - wie sie bisher bestanden hatte - trüge die rheinische Kirchenleitung die Verantwortung. Der Rez. sieht nicht, daß die "Hürden" zwischen beiden Positionen, die K. zutreffend benennt (433 ff.), von Westfalen eher als vom Rheinland hätten abgebaut werden können. Sie waren damals noch für beide zu hoch. Der andere Punkt ist das Problem der "Reinigung des Pfarrerstandes", also der Umgang mit den ehemaligen Deutschen Christen.

K. schildert ausführlich die Niedertracht, mit der Bekenntnisleute ihre Pfarrbrüder in den Ausschüssen behandelt haben (524 ff.), er äußert andererseits auch Verständnis für die Kirchenleitung, aber die Frage ist, ob er nicht etwas oberflächlich an die Sache herangegangen ist. Denn es geht ja nicht um Ärger und Not, die manche Deutschen Christen ihren BK-Brüdern bereitet haben (529), sondern z. B. um die Frage, ob Pfarrer tragbar sind, die 1939, als die Juden in unerträglicher Weise drangsaliert wurden, ihren Gemeinden mitteilten, daß der christliche Glaube "der unüberbrückbare Gegensatz zum Judentum" (Godesberger Erklärung) sei, und die damit den konkreten Judenhaß auch noch theologisch begründeten.

Zwei kleine Hinweise noch: 1. Der Anmerkungsapparat ist stellenweise zu umständlich; die archivalischen Fundstellen brauchen nicht immer wieder ausführlich wiederholt werden; sie brauchen auch nicht genannt werden, wenn der entsprechende Text bereits veröffentlicht ist. 2. Bei dem am 17. Juni im Hause Halstenbach anwesenden Eichholz handelt es sich um den Wuppertaler Dozenten lic. Georg Eichholz, nicht um seinen Bruder Wilhelm, Pfarrer in Aachen.

K.s Buch ist nicht nur eine vorbildliche Darstellung und Analyse der westfälischen Kirchengeschichte 1945-1953, sondern darüber hinaus eine Fundgrube wichtiger Diskurspunkte. Das macht seinen besonderen Wert aus. Es ist ihm zu wünschen, daß es viel gelesen wird und zum Gespräch zwischen den Konfessionen und wissenschaftlichen Disziplinen anregt.