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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

642–644

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hoffmann, Barbara

Titel/Untertitel:

Radikalpietismus um 1700. Der Streit um das Recht auf eine neue Gesellschaft.

Verlag:

Frankfurt/M.-New York: Campus 1996. II, 318 S. 8 = Geschichte und Geschlechter, 15. Kart. DM 78,-. ISBN 3-593-35499-3.

Rezensent:

Horst Weigelt

Bei dieser Monographie - der überarbeiteten Fassung einer Dissertation, angenommen vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Gesamthochschule Kassel - handelt es sich um eine Darstellung der Philadelphischen Sozietät Eva von Buttlars und der in dieser Gemeinschaft praktizierten radikalpietistischen Religiosität. Hierbei stehen - in allen Kapiteln - letztlich drei Frauen im Mittelpunkt: Eva von Buttlar, Catharina Uckermann und Clara von Calenberg. Methodisch entscheidet sich die Vfn., Barbara Hoffmann, dabei für die Perspektivenvielfalt; d. h. sie will sich den verschiedenen Aspekten dieser radikalpietistischen Gemeinschaft mit Hilfe der wissenschaftlichen Instrumentarien der Sozialgeschichte, Religionsgeschichte und -psychologie, Politikgeschichte und Geschlechtergeschichte nähern (11-13).

Im ersten Kapitel (20-55) werden die Lebensläufe ihrer wichtigsten Mitglieder bis zu ihrer Begegnung mit Eva von Buttlar skizziert. Sodann werden die verschiedenen Aufenthaltsorte dieser Sozietät von Allendorf (1700) bis Altona (1707-1721) verfolgt, wobei auch den sich wandelnden Gemeinschaftsformen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Da die Aufenthalte der Sozietät in den einzelnen Orten wegen alsbald einsetzender Streitigkeiten stets relativ kurz waren, stellt sich die Frage nach deren Gründen. Sind diese in der radikalpietistischen Frömmigkeit selbst zu suchen oder haben diese möglicherweise nur bereits vorhanden gewesene gesellschaftliche, herrschaftliche oder politische Konflikte katalysiert und dynamisiert? Diesem Problem wird im zweiten Kapitel (56-82) nachgegangen, wobei allerdings - ohne nähere Begründung - die sozialgeschichtlich und psychologisch perspektivierte Untersuchung auf die "Konflikte in Laubach 1699/1701" beschränkt wird.

Dabei kommt H. zu dem Ergebnis, daß hier die Konflikte mit der Bevölkerung zwar durch die Verhaltensweisen der radikalen Pietisten (Sakramentsverweigerung, Konventikel etc.) veranlaßt wurden, aber in dem labilen sozial-gesellschaftlichen Gefüge ihre Ursache hatten. Die regierenden Grafen hätten in dieser Konfliktsituation ihr herrschaftspolitisches Instrumentarium (Polizeiordnung) eingesetzt, um die Ordnung wieder herzustellen oder eine "Erweiterung von Herrschaftsrechten" (57/ 58) zu erzielen. Im dritten Kapitel ("Erweckung und Wiedergeburt: Wandlung und neuer Mensch", 83-87) werden zunächst "Erweckung" und "Wiedergeburt" unter religionspsychologischer Perspektive - recht eigenwillig - voneinander abgegrenzt. Demnach sei unter Erweckung (Bekehrung) die individuelle Wende des Lebens, d. h. Herauslösung aus bisherigen Lebenszusammenhängen und Etablierung eines neues Gottesverhältnisses, zu verstehen. Wiedergeburt sei dagegen zu definieren als Herausbildung einer eigenen religiös-sozialen Lebenspraxis, d. h. als religiöse Identitätsfindung. Sodann versucht die Vfn. bei von Buttlar, Uckermann und Calenberg - unter Berücksichtigung ihrer curricula vitae - zu eruieren, in welchem konkreten lebensgeschichtlichen Kontext und auf welche Weise sie ihre religiöse Erweckung jeweils erfahren haben. Wie die drei Frauen diese dann in ihrer Lebenswirklichkeit und Weltgestaltung realisiert haben ("Wiedergeburt"), thematisiert das vierte Kapitel ("Theologische Konzepte und religiöse Praxis", 98-135).

Während Uckermann und von Buttlar - so konstatiert die Vfn. - "durchaus eigenständige gestalterische Leistungen vollbracht" haben - Uckermann intendierte eine Verchristlichung der Gemeinde, von Buttlar unter Rezeption böhmischen Geistesgutes die "Rückkehr zum Garten Eden" durch Überwindung der "Gebärfähigkeit" der Frauen und der fleischlichen Lust der Männer nach Vermischung mit der "reinigenden Eva" - (109), "unterdrückte" von Calenberg "ihre eigenen Gestaltungswünsche" (135). Sie überließ ihre Lebensführung Hector von Marsay, mit dem sie seit 1712 verheiratet war. Das fünfte Kapitel (136-162) läßt die Rezeptionsgeschichte dieser Philadelphischen Sozietät vom 18. Jh. bis in die Gegenwart Revue passieren. Hierbei meint die Vfn. in "Kirchengeschichtlichen Werken" und in "Fachwissenschaftlicher Literatur" (!) durchgängig eine negative Beurteilung dieser Gemeinschaft radikalpietistischer Frommer als "Buttlarsche Rotte" konstatieren zu müssen. Insbesonders erfahre in einer großen Anzahl von Publikationen das gesamte Handeln Eva von Buttlars "als Verführerin" eine aburteilende Bewertung. (162). Das letzte Kapitel (163-182) stellt die erzielten Ergebnisse in sechs Abschnitten "in den Kontext übergreifender Kategorien" (163). Hierbei wird vor allem auf die "Häretisierung und Diskriminierung radikal religiöser Lebensgestaltung", auf die Bedeutung des Geschlechts für die religiöse Lebenspraxis und auf politische und gesellschaftsverändernde Aspekte radikaler Religiosität eingegangen.

Nach dem kurzen Ausblick (Ergebnisse, Thesen), der nochmals die Schwerpunkte der Darstellung benennt, bietet die Monographie neun Tabellen über die Mitglieder und Paarbeziehungen der Philadelphischen Sozietät (die einer eigenen territorialhistorischen Besprechung bedürften) und zwei Dokumente.

Methodisch ist die von der Vfn. dezidiert angemahnte Perspektivenvielfalt grundsätzlich zu begrüßen. Nur so ist es sicherlich möglich, ein komplexes Phänomen wie die Philadelphische Sozietät Eva von Buttlars adäquat darzustellen und zu beurteilen. Jedoch muß man dann nach der Lektüre konstatieren, daß der theologische und theologiegeschichtliche Zugriff keine angemessene Berücksichtigung gefunden hat.

Dies gilt insbesondere für das dritte und vierte Kapitel, in denen so zentrale, theologisch qualifizierte Grundbegriffe wie "Bekehrung" und "Wiedergeburt" zur Darstellung gelangen. Auch hätte die reichsrechtliche Perspektive insgesamt, besonders aber im ersten und zweiten sowie im vierten Kapitel, stärker beachtet werden müssen. Außerdem wäre es methodisch gut gewesen, wenn die Vfn. in der Einleitung ihr hermeneutisches Vorverständnis noch eingehender dargelegt hätte. Dies wäre für das Verständnis ihrer - des öfteren sehr eigenwillig anmutenden - Quelleninterpretation hilfreich gewesen. In dem Zusammenhang stellt sich übrigens die Frage nach der Solidität der benutzten Quellen. Warum wird beispielsweise bei der Lebensbeschreibung Hector de Marsays auf den von Joseph Gustav de Valenti (System der höheren Heilkunde für Ärzte, 1827, 156-392) gebotenen Text zurückgegriffen und nicht auf die Handschrift, die sich im Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland befindet und die von dem des Druckes vielfach abweicht?

Sachlich ist zunächst zu kritisieren, daß sich die Vfn. mit dem "Forschungsstand" des radikalen Pietismus, der keineswegs so desolat ist, wie vorliegende Monographie zu suggerieren versucht, nicht intensiver auseinandergesetzt hat. Insbesondere werden die Forschungsergebnisse zur Philadelphischen Sozietät vielfach (tendenziös) verknappt präsentiert. Sodann kann vor allem das Verständnis der Buttlarschen Sozietät - aus historischen Gründen - nicht überzeugen. Ging es deren führenden Mitgliedern tatsächlich nur "um das Recht auf eine neue Gesellschaft" (Untertitel des Buches)? Intendierten sie nicht vielmehr ein neues Gottes- und Menschenbild? Sind die mannigfachen Konflikte, in die sie permanent gerieten, nicht zuerst und vor allem darauf zurückzuführen, daß sich ihre Ehe- und Familienauffassung sowie ihr Geschlechtsverständnis grundsätzlich von dem der damaligen Gesellschaft unterschied (vgl. Willi Temme, Die Buttlarsche Rotte. Ein Forschungsbericht, in: PuN 16, 1990, 53-75, bes. 74).

Abgesehen von diesen grundsätzlichen Anfragen reizen manche historischen und theologiegeschichtlichen Einordnungen, die die Vfn. vornimmt, zum Widerspruch. So ist es m. E. angesichts der Forschungslage unmöglich zu behaupten, daß die "Böhmischen Brüder in der gleichen Tradition stehen, wie die radikalen Pietisten" (83). Ein solches Urteil wird weder der Tradition der Böhmischen Brüder noch der großen theologischen, geistigen und sozialen Vielschichtigkeit des radikalen Pietismus gerecht. Auf spezielle territorialgeschichtliche Probleme kann und soll in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden.

Angemerkt sei noch, daß das Werk, dem weder Personenverzeichnis noch Ortsregister beigegeben ist, redaktionell nicht hinlänglich sorgfältig betreut wurde. Es begegnen relativ viele Syntax-, Interpunktions- und Trennungsfehler. Bei manchen Wörtern finden sich Buchstabenausfälle, während andere Wörter doppelt gesetzt sind. Ärgerlicher sind Textlücken: So bricht der Schluß von Kapitel 5 auf S. 162 mitten im Satz ab! Auch der Anmerkungsapparat weist vielfache Mängel auf: In Kapitel 5 differieren die Anmerkungszahlen numerisch im Text (153-155) und Anmerkungsteil (260).

Das Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis hätten gleichfalls größere Sorgfalt verdient. So ist es - um nur jeweils ein Beispiel herauszugreifen - nicht nur unüblich, sondern unzutreffend, das Sigle Jes. mit: "Der Prophet Jesiah im Alten Testament" (273) wiederzugeben; der Buchstabe q bei Quellenangaben sollte mit q[uart] oder 4 aufgelöst werden (274); und Rudolf Ottos religionsphilosophisches Hauptwerk "Das Heilige" ist nicht erstmals 1963 in München erschienen, sondern 1917 in Breslau; deshalb wäre die Auflagenzahl (31. bis 35.) und vielleicht der Hinweis auf die Erstausgabe bibliographisch unerläßlich gewesen.