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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

640–642

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Heinrich, Volker

Titel/Untertitel:

Der Kirchenkreis Siegen in der NS-Zeit.

Verlag:

Bielefeld: Luther 1997, 282 S. 8 = Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 13. Kart. DM 48,-. ISBN 3-7858-0383-4.

Rezensent:

Norbert Friedrich

In der sogenannten "Walser-Bubis"-Debatte im Herbst 1998 um den Stellenwert des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im öffentlichen Diskurs der Gegenwart wurde von Martin Walser u. a. erklärt, die historische Erforschung des Nationalsozialismus habe ein weitgehend lückenloses Bild der Zeit rekonstruieren können, neue Erkenntnisse seien kaum noch zu erwarten. Diesem Argument ist zu Recht widersprochen worden; zahlreiche neuere Forschungen, etwa zum Holocaust oder auch zur nationalsozialistischen Herrschaftspraxis, widerlegen dies.

Auch die hier vorzustellende Arbeit, eine Marburger kirchengeschichtliche Dissertation, zeigt für die Erforschung der Geschichte des Kirchenkampfes die Notwendigkeit und die Fruchtbarkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte in der Gegenwart.

Dabei orientiert sich Heinrich an den bisherigen Forschungen zum Themenkomplex Nationalsozialismus und Kirche. Durch die Arbeiten von Klaus Scholder und Kurt Meier zum Kirchenkampf bzw. von Bernd Hey zur "Kirchenprovinz Westfalen 1933-1945" liegen Standardwerke vor, deren Ergebnisse im ganzen noch heute ihre Gültigkeit haben und die auch von H. bestätigt werden. Doch hat es in den letzten Jahren zahlreiche Impulse für die Forschung gegeben, die Fragerichtung und Fragestellung auch der kirchengeschichtlichen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit beeinflußt haben und neue Sichtweisen beitragen konnten. Die hier vorzustellende Arbeit weiß sich so einer sozialgeschichtlichen Fragestellung verpflichtet, sie nimmt zugleich explizit bezug auf einen erweiterten Widerstands- bzw. Resistenzbegriff, der durch das Forschungsprojekt "Bayern in der NS-Zeit" beeinflußt worden ist. Unter Widerstand versteht man nun auch "die vielfältigen und alltäglichen Formen des zivilen Ungehorsams und der Nonkonformität" (12).

H. verbindet in seiner Arbeit nun diese verschiedenen Fragestellungen und wendet sie auf eine Region an, die sich durch verschiedene Spezifika auszeichnet: Das Siegerland ist geprägt von einer hohen Kirchlichkeit, konfessionell ist das reformierte Bekenntnis vorherrschend. Wie stark die kirchlichen Bindungen waren, verdeutlicht u. a. der langandauernde Wahlerfolg der kleinen Christlich-sozialen Partei Stoeckers bis zum Ersten Weltkrieg, eine Wählerklientel, die dann relativ geschlossen zur Deutschnationalen Volkspartei und später zum Christlich-sozialen Volksdienst wechselte, bevor 1932 die Nationalsozialisten einen großen Wahlsieg erringen konnten.

In einem ersten Kapitel führt H. ausführlich in die "Vorgeschichte" ein, stellt die sozial-, wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Bedingungen des Siegerlandes vor, dessen Kirchengeschichte und "religiöse Eigenart", führt in die Geschichte der für die Region bedeutsamen Gemeinschaftsbewegung ein. Nur vor diesem Hintergrund können dann auch die in folgenden Kapiteln dargestellten Auseinandersetzungen in der NS-Zeit verstanden werden.

"Der Kirchenkreis Siegen im Jahr der ,Machtergreifung’" (Kapitel 2) war geprägt von lange Zeit offenen, unentschiedenen Situationen. Viele Protestanten und kirchliche Amtsträger begrüßten zunächst die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, die ersten kirchenpolitischen Fronten entstanden erst im Laufe des Sommers und Herbstes 1933. Ein Charakteristikum des Siegerlandes war, daß die Deutschen Christen zunächst kaum über eine Basis verfügten. Der späte organisatorische Aufbau und die vergleichbar geringe Unterstützung aus der Pfarrerschaft waren die wesentlichen Bedingungen für den Verlauf des Kirchenkampfes, da praktisch kein kirchliches Gremium von den Deutschen Christen dominiert wurde. H. orientiert sich in diesem Kapitel an den politischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen auf Reichsebene ("Judenfrage", NS-Rassenpolitik, Arierparagraph in der Kirche, Konflikte um das Bischofsamt etc.), bezieht sie aber konsequent auf das Siegerland. So erfährt man konkrete Einzelheiten zum Gleichschaltungsprozeß der evangelischen Jugend, man findet auch viele bisher unbekannte Informationen zu den Evangelischen Akademien in Westfalen. Das Jahr 1933 zeigt im Siegerland eine gewisse "Schizophrenie des Denkens", indem man die "politische und kirchliche Sphäre ... säuberlich" (92) trennte.

Die folgenden Kapitel behandeln nun die Jahre 1934 bis 1939. Die "Formierung der Bekennenden Kirche im Siegerland (Kapitel 3) konzentriert sich ganz auf die Ereignisse der Jahre 1934 und 1935, auf den Weg von der Tagung der letzten Kreissynode im März 1934 bis zur ersten Bekenntnissynode im Januar 1935. Immer wieder verschränkt H. hier die kirchenpolitische Entwicklung im Reich mit den Vorkommnissen vor Ort. Das Gegeneinander von BK und DC, die schwache Stellung, die die Deutschen Christen trotz der Unterstützung staatlicher Stellen hatten, wird pointiert herausgearbeitet. Im Mittelpunkt steht dabei, direkt und indirekt, die zentrale Rolle, die die kirchlichen Verfassungsfragen, konkret das presbyterial-synodale Prinzip der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung, für die Entwicklung in Westfalen hatten. In der "Zeit der Kirchenausschüsse" (Kapitel 4) waren die Konfliktlinien im Siegerland vorgezeichnet. Neben den Konflikten mit dem Staat und mit den Kirchenbehörden drängen sich nun mehr und mehr auch theologische Fragen in den Vordergrund, die Besinnung auf das reformierte Bekenntnis bestimmt die Auseinandersetzungen stärker als manch andere kirchenpolitische Frage. In einer gewissen Stufenfolge beschreibt H. die Jahre vor Ausbruch des Krieges als "Phase der offenen Gegnerschaft" (Kapitel 5). Ob freilich tatsächlich die Verweigerung des "Treueeids" und die Reaktionen auf die verschiedenen staatlichen Repressionsmaßnahmen so deutlich charakterisiert werden können, erscheint zumindestens fraglich. Nicht umsonst spricht H. auch von einer Stellung der Kirche zwischen "Widerspruch und Staatstreue" (197).

Nachdem H. noch einmal knapp den "Weg junger Theologen in die Illegalität" (Kapitel 6) beschrieben hat, schließt er seine Darstellung mit einem Kapitel über den "Kirchenkreis Siegen im Zweiten Weltkrieg" ab, wobei er einen kurzen Blick auf die Situation nach 1945 wirft. In einem "Rückblick" werden die Ergebnisse noch einmal zusammengefaßt.

Insgesamt kann das Buch überzeugen. H. beschreibt einen, so sein Urteil, "intakten" Kirchenkreis (256), in dem die BK ihren Einfluß auf das kirchliche Leben weitgehend erhalten konnte. Dies scheint auch das wesentliche Ergebnis der vorliegenden Arbeit zu sein: Wenig herausragende Ereignisse, wie etwa in Dortmund oder Bochum, aber eine insgesamt gut verankerte Bekennende Kirche, die ihre Anliegen erfolgreich verteidigen konnte.

Der regionalgeschichtliche Ansatz hat die große Bedeutung der Ereignisse in einzelnen Kirchenkreisen für die Geschichte des Kirchenkampfes erneut veranschaulicht. H. hat sich konsequent in seiner Darstellung auf die kirchenamtliche Ebene konzentriert, demgegenüber kommen herausragende Ereignisse in einzelnen Gemeinden bzw. exemplarische Lebenswege einzelner Pfarrer nur am Rande vor. Hier hätte die insgesamt überzeugende Darstellung durch einige Ergänzungen und Exkurse, beispielsweise zum Lebensweg Theodor Noas, noch größere Plastizität gewinnen können. Das Buch ist ein Beleg für die bleibende Notwendigkeit, sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, über die niemals alles gesagt ist.