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Ausgabe:

Juni/1999

Spalte:

625–627

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gräßer, Erich

Titel/Untertitel:

An die Hebräer. 3: Hebr 10,19-13,25.

Verlag:

Zürich: Benziger; Neukirchen-Vluyn: Neukirchen Verlag 1997. X, 429 S. gr.8 = Evang.-Kath. Kommentar zum Neuen Testament, 17,3. Kart. DM 148,-. ISBN 3-545-23150-5 u. 3-7887-1626-6.

Rezensent:

Claus-Peter März

Mit dem dritten Teilband schließt Gräßer seine große Auslegung des Hebräerbriefes in der Reihe "Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament" ab (1. Bd. 1990, vgl. ThLZ 111, 1992, 749-754; 2. Bd. 1993, vgl. ThLZ 120, 1995, 791-793).

Der Band, der den Schlußteil des Schreibens auslegt, führt dabei einmal mehr vor Augen, daß Hebr 10,19-13,25 keineswegs nur einen "paränetischen Ausklang" des Hebr, sondern Argumentationsgänge von beachtlichem theologischen Gewicht bietet. Thematisch orientiert sich dieser dritte Teil auf den "Weg des Glaubens" als "Folgerung" aus dem christologischen Hauptteil, schlägt aber so auch "den Bogen zurück. zur christologischen Grundlegung in c. 1 und 2, vor allem aber zur Eröffnungsparänese in Hebr 3,7-4,13 und 5,11-6,12" (VII). Der Abschnitt ist nach G. zwar nicht so streng disponiert wie die beiden ersten Teile, dennoch werden die "eher locker aneinandergereihten Themen" durchaus "von einer gemeinsamen Grundvorstellung zusammengehalten" (10), wie sie sich etwa in 10,36 zur Sprache bringt. Thematisch weist der Kommentar vier große "Ebenen" aus: I. "Konsequenz: Werft euer Vertrauen nicht weg" (10,19-39); II. "Die Wolke der Zeugen" (Kap. 11); III. "Die Bewährung im Glauben" (12,1-29); IV. "Schlußparänese" (13,1-21). 13,22-25 faßt G. als später hinzugekommenen brieflichen Abschluß, der das Schreiben nachträglich als Paulusbrief ausweisen und seine Aufnahme in den Kanon sichern soll.

Die folgenden Hinweise mögen exemplarisch einige Ansätze und Akzente der Auslegung vor Augen führen: G. erhebt 10,19 als Beginn des dritten Teiles und arbeitet für 10,19-39 eine Art "Leittext-Funktion" heraus: An 10,19-39 werde deutlich, daß die nachfolgenden Paränesen sich aus den christologisch-soteriologischen Aussagen in 7,1-10,18 herleiten und insofern "Schlußfolgerungscharakter" (12) haben. Der Abschnitt (vgl. V. 19) "wahrt" dabei mit dem Gedanken der nunmehr eröffneten Möglichkeit des Eintritt in das himmlische Heiligtum "beides, Heilspräsenz und eschatologischen Vorbehalt: Der Weg ist gebahnt, aber das Ziel liegt noch voraus." (13) Hebr 10,19-39 erweist sich zudem als "Schlüsseltext" hinsichtlich der Motive, die den Vf. zur Abfassung seines Schreibens bewogen haben könnten. Der parakletische Ansatz seiner Theologie weist dabei den Hebr als Spätschrift aus, "ziemlich deutlich an der Schwelle zum Frühkatholizismus" (84); das kirchlich-theologische Interesse hat sich "auf die Konservierung des geistlichen Besitzstandes verlagert" (84); nicht die Naherwartung, sondern der "Gerichtsernst" motiviert die Paränese. Die sehr konkret wirkenden Hinweise auf die Geschichte der Adressaten in 10,32-34 versteht G - entsprechend seiner Grundentscheidung, daß der Hebr nicht eine Einzelgemeinde oder -gruppe vor Augen habe, sondern auf eine übergreifende Leserschaft abziele - als Beispiele für Bedrohungen, die in der Verfolgungszeit nicht an einen Ort gebunden waren, sondern allgemein erfahren wurden. Trotz schlüssiger Argumentation wird freilich hier von einer anderen Grundentscheidung auch weiterhin die Gegenposition zu begründen sein, zumal die Tatsache, daß über die in 10,32-34 angesprochenen Umstände sonst nichts berichtet ist, die Vorstellung, es handle sich dabei um konkrete Erfahrungen einer Einzelgemeinde, keineswegs tangiert. Auch eine andere, für die vorliegende Hebr-Auslegung bezeichnende Linie wird im Zusammenhang von 10,19-39 nochmals akzentuiert: Die an E. Käsemann anknüpfende Annahme der Rezeption gnostischen Gedankenguts. Für den schwierigen V. 20 erörtert der Kommentar zwar alle gängigen Interpretations-"Typen", sieht aber in der "gnostischen Interpretation" am ehesten die Möglichkeit einer textgemäßen Auslegung gegeben (vgl. ähnlich auch 239-241 zu 12,2). Auch hier scheint m. E. zu gelten, daß von einer anderen Grundentscheidung her, 10,20 geradezu als Argument gegen gnostischen Einfluß gewertet werden könnte - und zwar im Hinblick auf das Verständnis von "sarx". Dieses ist sicher - wie G. völlig zu Recht herausstellt - keineswegs einheitlich, aber als im gnostischen Sinn "heilshindernde Sperre" (17) und "Exponent der Materie" kommt die "sarx" wohl doch nicht zur Sprache (auch nicht 2,14f.; 5,7).

Kap 11 und das dort entfaltete Verständnis des Glaubens verlangt von jeder Hebr-Kommentierung einen "Offenbarungseid" hinsichtlich der generellen theologischen Einordnung des Schreibens. G., dessen Bemühen um den Hebr einst mit einer Studie zum Glaubensverständnis des Hebr einsetzte,1 widmet der Auslegung des "tractatus de fide" in Hebr 11 denn auch fast genau ein Drittel des vorliegenden Bandes (85-224). Er stellt heraus, daß Kap 11 fest in den Kontext eingebunden und "nur von den umrahmenden Texten, 10,32-39 und 12,1-3, her recht zu würdigen" (223) ist. Damit ist bereits ein bestimmtes Verständnis von Hebr 11 und der dort entfalteten Glaubensvorstellung grundgelegt: "Basis ... ist der im vorangehenden Abschnitt als Standhaftigkeit bestimmte Glaube des Gerechten (10,38=Hab 2,4 LXX). Ziel ist Jesus, der nicht nur das exemplum fidei im so bestimmten Sinne ist (12,2b.3), sondern auch dessen Ermöglichungsgrund und Vollender (12,2a). Daraus erklärt sich sogleich die parakletische Intention der Paradigmenreihe" (223).

Konstitutiv zur Existenz aus dem Glauben gehört dabei die ",unweltliche Existenz’ (V. 13), die sich festgemacht hat ... im Jenseitigen als der Gestalt der Dinge selbst" (224). In diesem Sinn "definiert" Hebr 11,1 "Glaube ist als Pistis ein Überführtsein von nichtwahrnehmbar Seiendem..., welches zu einem Feststehen ... bei Gehofftem ... als einem noch nicht Seienden führt" (94f.). Als Paradox des Glaubens erscheint deshalb die "Unverfügbarkeit, nicht speziell der Gekreuzigte" (224 unter Bezug auf H. Braun). Angezielt ist die Haltung des sich in dieser Unverfügbarkeit bewährenden Glaubens, die sich freilich "dem durch Jesus erschlossenen ... Zugang zum jenseitig ,Besseren’" verdankt (224). Stärker als in früheren Aussagen würdigt G. dabei die theologische Legitimität dieser eigenen Prägung des Glaubensbegriffes im Hebr. Obwohl er den auctor ad Hebraeos bei anderen Ansätzen durchaus im Widerspruch zur zentralen Verkündigung des NT sieht (Verweigerung der zweiten Buße, Konventikel-Ethik), für die "Formulierung des Glaubensbegriffs in 11,1, den man eben nicht dem Diktat der paulinischen Pistis unterwerfen darf" (419), gilt dies seiner Meinung nach nicht: "Abseits des paulinischen Traditionsstromes folgt Hebr einem alttestamentlich-frühjüdischen und urchristlich (synoptischen) Glaubensverständnis, das in der Sache nicht minder wichtig ist" (84).

Zu Recht würdigt G. die Bedeutung von 13,7-19 als "Höhepunkt des Hebr." Ehe der Vf. "seinen Sermon mit einem Segenswunsch abschließt (13,20 f.), wird in abgekürzter Form noch einmal die ganze Hohepriestertheologie geboten und zwar so, daß Konsequenzen für die Gemeinde besonders akzentuiert werden" (399). Von bewundernswerter Prägnanz ist dabei gerade auch die das ganze Schreiben noch einmal aufnehmende Auslegung des Abschnitts 13,10-16, von dem G. mit Recht vermerkt: "Umstrittener und rätselhafter als unser Abschnitt sind im Neuen Testament nur wenige Texte" (376). Er arbeitet gegen eine weit zurückreichende Traditionslinie heraus, daß in dem Abschnitt nicht die Eucharistie, sondern das einmalige Opfer Christi angesprochen sei, das zugleich die Abrogation allen menschlichen Kultes bedeute: "Der Tod Jesu draußen vor den Toren der Stadt ,stiftet eine Gemeinde, die keine weltliche Gebundenheit’ und keinen Opferkult mehr hat" (389). Das Bild wird zugleich hin auf eine "bemerkenswerte existentiale Interpretation christlicher Nachfolge" geöffnet: "Wie die Hinrichtung Jesu außerhalb des Tores ein Stück seiner Schmach war, so gehören zur Nachfolge Jesu die Übernahme solcher Schmach und das Setzen auf die unanschauliche Gnade inmitten der irdischen Welt" (385). 13,7-19 erfährt so eine angemessene Erklärung im Hinblick auf das Schreiben insgesamt und wird einmal mehr aus dem Tal der vergeblichen Mühen um die Aufhellung religionsgeschichtlicher Hintergründe herausgeführt. Nicht voll gedeckt scheint mir die generelle Konsequenz, "daß die ... urchristliche Tradition des Herrenmahls außerhalb seines (= des Hebr) theologischen Gesichtskreises liegt" (380) - und das um so mehr, als mit G. festzuhalten ist, daß "zur Zeit des Hebr das Abendmahl noch nirgends in der Kirche als ein Opfer" galt (379).

G.s Frage nach dem brieflichen Schluß des Hebr (die schon im ersten Band grundsätzlich angesprochen ist) setzt mit Überlegungen zum Genus von Kap. 13 ein, das sich in vielerlei Hinsicht von Kap 1-12 abhebe, aber dennoch so deutlich mit dem Vorhergehenden verbunden sei, daß es nicht als Ganzes abgetrennt und als spätere Anfügung verständlich gemacht werden könne. Er sieht freilich nach 13,20 f. - dem "solennen Abschluß der gesamten Homilie" - einen deutlichen Einschnitt. Der briefliche Schluß in 13,22-25 erweise sich deshalb und wegen dem deutlich erkennbaren Bemühen, das Schreiben nachträglich als Paulusbrief auszuweisen, als "kanonpolitisch bedingter Zusatz von fremder Hand" (345). Damit bezieht der Kommentar nochmals klar in einer traditionell umstrittenen Frage Stellung. Er wird freilich m. E. die Gegenposition, die diese Verse - bei durchaus unterschiedlichem Verständnis - dem auctor ad Hebraeos zuordnet, nicht wirklich "aus dem Rennen" werfen können. Der Grund dafür liegt m. E. darin, daß für die vorausgesetzte "kanonpolitische" Intention die Aussage von 13,22-25 zu "unbestimmt" wirkt und sogleich die Frage aufkommen lassen muß, warum ein solches "kanonpolitisches" Bemühen - wie immer man es dann im einzelnen auch noch "verortet" - nicht zumindest den Namen des Paulus aufgenommen und/oder eine viel deutlichere Verbindung mit dem paulinischen Schrifttum gesucht hat. G. selbst vermerkt im abschließenden "Ausblick", daß hier, wie bei anderen Problemen auch, Fragen offen bleiben werden und auch offen bleiben dürfen, "weil sie den Zugang zu dem theologisch gewichtigen Inhalt des Hebr, der für sich selbst spricht, nicht unmöglich machen" (419).

Der abschließende "Ausblick" nimmt auch auf den "Hebr in unserer Zeit" Bezug und hält dabei zwei in der Tat gravierende Tatsachen fest: "Einmal: Er (=Hebr) holt gegenüber Paulus auf. Zum anderen: Die früher übliche antijudaistische Auslegung ist weitgehend erledigt" (419). Angesichts des aktuell erfahrenen Vertrauensschwundes gegenüber dem gepredigten Wort, beansprucht der Ansatz des Hebr wie von selbst neue Aufmerksamkeit: "Er weiß, was Kirche zur Kirche macht und sie Kirche bleiben läßt: das Verheißene empfangen und den Willen Gottes tun" (420). Daß dabei - gerade angesichts einer durchaus problematischen antijudaistischen Wirkungslinie - darauf zu achten ist, die Auseinandersetzungen des Schreibens nicht als "direkte Polemik", sondern als "als ein Stück christlicher Selbstbesinnung" aufzunehmen, schuldet der Ausleger nach G. nicht nur der Situation der Theologie "nach Auschwitz", sondern auch der Intention des Hebr.

Gräßer hat sich mit dem dritten Band seines Kommentars faktisch nochmals der Theologie des Hebr insgesamt gestellt, diese aber nun von ihrer paränetischen Intention her erschlossen. Dies gibt dem Band sein besonderes exegetisches Gepräge und bibeltheologisches Gewicht. Er bestätigt so, was auch die schon erschienenen Bände erkennen ließen: G. hat mit seiner dreibändigen Kommentierung des Hebr eine profilierte, theologisch engagierte und dabei immer exegtisch präzise Auslegung dieses aus unserer Perspektive so merkwürdig wirkenden Schreibens vorgelegt.

Der Kommentar, der schon jetzt als eine der wichtigsten neueren Auslegungen des Hebr seinen Platz in der Forschung gefunden hat, gibt jener Auslegungslinie, die das Schreiben dem von vielen Einflüssen bewegten jüdisch-hellenistischen Horizont zuordnet, weiteren Rückhalt und Profil. Er versucht dar-über hinaus, den Leser immer neu in ein über die Ursprungssituation hinausführendes theologisches Gespräch zu verwickeln, das über die Wirkunsgeschichte auch immer auf jene theologischen Grundfragen abzielt, denen sich die Theologie heute zu stellen hat. G. selbst bestimmt im Vorwort seine Intention dahingehend, daß er "der Interdependenz zwischen exegetischer Text-Erschließung und theologischem Erkenntnis-Interesse besondere Aufmerksamkeit" schenken wolle. Seine Kommentierung empfiehlt sich ganz in diesem Sinne als profunder exegtischer und theologischer Begleiter bei der Lektüre des Hebräerbriefes.

Fussnoten:

1) E. Gräßer, Der Glaube im Hebräerbrief (MThSt 2) Marburg 1965.