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Ausgabe: | Februar/2014 |
Spalte: | 261–262 |
Kategorie: | Praktische Theologie |
Autor/Hrsg.: | Kranemann, Benedikt [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Liturgie und Migration. Die Bedeutung von Liturgie und Frömmigkeit bei der Integration von Migranten im deutschsprachigen Raum. |
Verlag: | Stuttgart: Kohlhammer 2012. 240 S. m. Abb. = Praktische Theologie heute, 122. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-17-022154-3. |
Rezensent: | Anna-Katharina Lienau |
Im Einführungsbeitrag stellt der katholische Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann fest, dass die Theologie sich zwar des Themengebietes »Migration« immer wieder angenommen habe, dabei aber dem »Feiern der Liturgie«, trotz der großen Bedeutung, die dem gottesdienstlichen Feiern für die Identität und die Beheimatung von Migranten (von päpstlicher Seite) zugesprochen wurde, bislang überraschenderweise kaum Beachtung geschenkt habe (9). Der vorlie-gende Tagungsband (hervorgegangen aus einer Tagung des Theo-logischen Forschungskollegs in Erfurt im November 2010) möchte daher das Feld zwischen Liturgie und Migration im deutschsprachigen Raum des 19. und 20. Jh.s bearbeiten und zur Diskussion über Quellen, Methoden und erste Thesen (7) einladen.
Kranemann umreißt mit Hilfe konkreter Beispiele (Bilder/Ikonographie, Gebete, Ritualien, Wallfahrten, Heiligenverehrung) eindrücklich, wie unterschiedliche, »transferierte« Bestandteile der Liturgie eine Brücke zwischen Räumen und Zeiten schlagen können (20). Er benennt übergreifende Aspekte (Zusammenkommen von Individuum und Gemeinschaft, Abgrenzung und Sakralisierung von Lebensbereichen, regionale Verbindung zwischen alter und neuer Heimat, Vieldimensionalität, Verbindung der Generationen und Stabilität) und kommt zu dem Schluss, dass die Berücksichtigung neuer/anderer Quellen einen neuen Blick auf die Liturgie insgesamt ermögliche und letztlich zu einem veränderten Forschungsprofil der Liturgiewissenschaft führen könne (23 f.). Mit der Frage nach der »tatsächlichen gottesdienstlichen Praxis« seien liturgiewissenschaftliche Forschungen zur Identität von Migran ten, dem Zentralen der Liturgie, der Perspektive der Rezipienten, dem Verhältnis von Ortsgemeinde und Migranten, Akkulturations- und Inkulturationsprozessen sowie zur Veränderung von Kultur verbunden, denen im vorliegenden Band anhand von Beispielen in drei Themenblöcken nachgegangen werden solle.
Ratzmann (26–38) konstatiert auch aus evangelischer Perspektive, dass der Zusammenhang von Migration und Liturgie bislang in der Forschung vernachlässigt worden sei. Er benennt mögliche neue Forschungsfelder und erläutert anhand von zwei Beispielen die evangelische Integrationsstrategie, wobei die Liturgie als Integrationsaspekt bislang noch zu wenig gewürdigt werde.
Fendl (39–57) beschreibt auf der Folie des Fremden aus volkskundlicher Perspektive den Beitrag von Liturgie zur Integration von Migranten in der Zeit nach 1945. Das individuelle, ideelle »Gepäck« jedes Migranten habe zu Konflikten in der neuen Umgebung führen können. Die hierbei häufig zelebrierte Betonung des »Fremden« und die damit verbundenen Konflikte dürften aber nicht den Blick auf ein (vorsichtiges) liturgisches Miteinander in dieser Zeit verstellen.
Pilvousek (58–74) stellt ein beträchtliches kirchenhistorisches Forschungsdesiderat fest, das er insbesondere anhand der Ergebnisse zur Entstehung von Gemeinden in der mitteldeutschen Diaspora des 19. Jh.s, der Erforschung der Seelsorge an Saison- und Landarbeitern im 20. Jh. und der Seelsorge an Zivil- und Zwangsarbeitern in der Zeit des Nationalsozialismus verdeutlicht.
Nagel (75–98) vertritt in seinem hervorragend geschriebenen Aufsatz die These, dass »ein adäquates Verständnis von Liturgie und Migration in modernen Einwanderungsgesellschaften auch eine neue Perspektive auf Diaspora voraussetzt« (77), und möchte Diaspora daher »nicht als Leidensgeschichte, sondern als aktivistisches Projekt transnationaler religiöser Vergesellschaftung« (77) verstanden wissen. Hierzu arbeitet er die grenzüberschreitende Bedeutung von Diaspora-Gemeinden sowie die Diaspora-Situation als »Motor« für religiöse Dynamisierung (82.96) heraus. Als Beispiel für die grenzüberschreitende Selbstorganisation und religiöse Selbstvergewisserung erläutert er ausführlich die Praxis des European Council for Fatwa and Research (ECFR).
Jähnichen (99–119) stellt ein Forschungsdesiderat bezüglich der historischen und der komparativen Dimension fest. Exemplarisch geht er daher anhand des Integrationsprozesses dreier protestantischer Migrationsgruppen im Ruhrgebiet (Masuren ca. 1890–1914, Flüchtlinge um 1945, Spätaussiedler seit Mitte der 1980er) der Frage nach der »Bedeutung von Frömmigkeitskulturen für die Lebensführung von Migranten« (99) nach.
Bärsch (120–139) betrachtet aus katholischer Perspektive die Bedeutung des gottesdienstlichen Lebens für die Polenseelsorge (1871–1914) und die Aussiedlerseelsorge (1958–1990) und kommt zu dem Ergebnis, dass Liturgie bis zum II. Vaticanum durchaus als emotionale Brücke wahrgenommen wurde, danach aber keineswegs die Beheimatung erleichterte (137), wobei diesem ersten Befund in weiteren Detailstudien näher nachzugehen sei (138).
Müller (140–156) erörtert am Beispiel des Eichsfeldes die trotz günstiger Voraussetzungen aufgetretenen, teils massiven Spannungen der Migration katholischer Vertriebener nach 1945 in eine katholische Mehrheitsgesellschaft.
Franz (157–171) widmet sich am Beispiel des Gesangbuchs des Bistums Mainz von 1952, das die sudetendeutschen Lieder der Migranten nicht im Hauptteil, sondern im Anhang aufnahm, dem Verhältnis von Kirchenlied und Identität.
Schädler (172–187) beschreibt die architektonische Entwicklung der neu entstandenen katholischen Kirchenbauten in der SBZ und der DDR nach 1945. Die schlichten Sakralbauten seien Ausdruck der »Lebens- und Glaubenswelt dieser Zeit« (187).
Prosser-Schell (188–216) schildert anhand der Flüchtlings- und Vertriebenenwallfahrten in der Diözese Freiburg und Olschewski (217–237) anhand der Vertriebenenwallfahrten in der Erzdiözese Paderborn die Bedeutung der Heimatvertriebenen-Wallfahrten für Migranten der Nachkriegszeit.
Insgesamt bearbeitet der Band das benannte Feld in beeindruckender und vielseitiger Weise und ermöglicht einen sehr guten ersten Überblick, wobei der Schwerpunkt auf christlichen Migranten liegt (Ausnahme: Nagel). Er weist dezidiert auf mögliche Forschungsde-siderate im Feld von Migration und Liturgie im deutschsprachigen Raum hin und lässt somit Folgestudien erhoffen.