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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

258–261

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kienzle, Claudius

Titel/Untertitel:

Mentalitätsprägung im gesellschaftlichen Wandel. Evangelische Pfarrer in einer württembergischen Wachstumsregion der frühen Bundesrepublik.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2012. 413 S. m. 1 Kt. u. Tab. = Konfession und Gesellschaft, 45. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022026-3.

Rezensent:

Norbert Haag

Die am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen entstandene, von dem Historiker Doering-Manteuffel sowie dem Religionswissenschaftler Günther Kehrer betreute Dissertation von Claudius Kienzle geht der Frage nach, wie der sozioökonomische Wandel in der frühen Bundesrepublik von der Funktionselite der evangelischen Pfarrer wahrgenommen und bewertet wurde. Dieses Erkenntnisinteresse schlägt insofern auf den der Studie zugrunde gelegten Untersuchungsraum innerhalb der württembergischen Landeskirche durch, als mit Esslingen, Schorndorf und Waiblingen durchweg im Gravitationsfeld der expandierenden Landeshauptstadt Stuttgart liegende Kirchenbezirke ausgewählt wurde, die der Vf. überzeugend als württembergische Wachstumsregion charakterisiert – geprägt durch die Dynamik der immer stärker auf ihr Um­land ausgreifenden Großstadt, attraktiv zunächst für die im Gefolge des Zweiten Weltkrieges heimatlos gewordenen Flüchtlinge und Vertriebenen, später auch für die im Ausland rekrutierten Gastarbeiter, die jeweils eigene Traditionen und kulturelle Prägungen mitbrachten. Kurz – eine wirtschaftlich prosperierende Region, die vor dem Zweiten Weltkrieg bei allen zu konstatierenden Entkonfessionalisierungstendenzen kirchlich oder zumindest protestantisch geprägt war, sich mithin für die Fragestellung des Vf.s nach der Wahrnehmung von Veränderungsprozessen vorzüglich eignet.

Auch wenn somit die Arbeit als – methodisch sozial- und kulturgeschichtlichen bzw. religionswissenschaftlichen Fragestellungen verpflichtete – Regionalstudie zur Frühgeschichte der Bundesrepublik angelegt ist, macht es die Altersstruktur der im Untersuchungsraum tätigen Geistlichen unumgänglich, bis in das späte 19. Jh. auszugreifen, weil nur so »generationsspezifische Erfahrungen« in den Blick kommen können. Die Gruppenbiographie von insgesamt 245 Pfarrern macht denn auch das erste Hauptkapitel der Arbeit aus (35–121). Konzise herausgearbeitet werden dabei die lebenslaufspezifischen Mentalitätsprägungen der Pfarrer, wie sie sich aufgrund ihrer sozialen und regionalen Herkunft, ihres Bildungsgangs wie ihres Heiratsverhaltens darstellen, ehe dann – im Anschluss an Mannheims Konzept von Generation als sozialkul­tureller Ordnungskategorie (»gemeinsame Lagerung im sozialen Raum«) – der Frage der Mentalitätsbildung im Spannungsfeld von persönlichem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont nachgegangen wird. Bietet der erste Teil wenig Überraschendes, so erweist sich die Bildung der Generationskohorten (entlang der lebensbestimmenden Zeitabschnitte) der Kirchenkämpfer (1870–1910), der 1945er (1920er Jahre) und der Nachkriegsgeneration (die im Verlauf der 1930er und 1940er Jahre Geborenen umfassend) für die folgende Frage nach der gesellschaftlichen Transformation in der kirchlichen Wahrnehmung als durchaus fruchtbar.

Bereits der Umfang des zweiten Abschnittes Gesellschaftliche Transformationen in der kirchlichen Wahrnehmung (122–335) macht deutlich, dass es sich hier um den Hauptteil der Arbeit, ihr Herzstück, handelt. Für diesen Abschnitt kann sich der Vf. auf die überbordende Informationsfülle der Pfarrberichte stützen, die er luzide ausgewertet und mit Hilfe einschlägiger Literatur ergänzt hat. Im ersten Teilabschnitt – Transformationen in der Bevölkerungs-, Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur (141–206) – beschreibt er den ökonomischen Strukturwandel der 1950er Jahre, in dessen Gefolge die Region ihrer agrarische Lebensgrundlage definitiv verlustig ging, um in die Stuttgarter Industrieregion integriert zu werden. Dies implizierte den Verlust der bäuerlichen Vormachtstellung in den Dörfern – mit weitreichenden Folgen für das protestantische Milieu –, endete doch die überkommene Verbindung zwischen protestantischer Kirchengemeinde, pietistischen Gemeinschaften und agrarischer Lebensgrundlage und damit auch die kulturelle Vormachtstellung der Kirche. Befördert wurde dieser Erosionsprozess durch die Migrationsbewegung, die scheinbar »zeitlose« Mentalitäten und Milieus aufbrach und zudem den Katholizismus als neue Größe im Untersuchungsraum heimisch werden ließ. Dominierten in der Begegnung mit ihm zunächst die im 19. Jh. ausgeformten Konfliktmuster, die auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch ihre Bedeutung behielten, so machte das 2. Vatikanische Konzil den Weg frei für eine flächendeckende ökumenische Zusam­menarbeit auf Ortsebene. Alte Konfliktfelder – wie Schule, Ehe oder Kindererziehung – waren damit tendenziell obsolet ge­worden, spielten aber in der verschriftlichten Wahrnehmung zu­mal der älteren Pfarrer durchaus noch eine Rolle. Die Wahrnehmung und Bewertung der Geistlichen änderte sich somit »verspätet«, zumal die Älteren unter ihnen sich mit den neuen Zeiten schwer taten.

Dies gilt auch für den zweiten Unterabschnitt des Hauptkapitels, Lebensstile im sozialstrukturellen und soziokulturellen Wandel (207–335). Insbesondere den Pfarrern der Generation bis 1918 blieb »der Prosperitätsschub der 1950er Jahre […] schlicht suspekt« (347 im Ms.), zumal die – nicht unbedingt neuen – Freizeitvergnügungen (Wirthausbesuch, Tanz, Kino, Vereinsleben, schließlich auch das Fernsehen) – eine bis dato unbekannte Breitenwirksamkeit er­langten, die häufig mit einem mangelnden Interesse vieler Ge­meindemitglieder an kirchlichen Veranstaltungen korrelierte und damit kirchliche Bindungen wenn nicht löste, so doch lockerte. Dementsprechend figuriert »Freizeit« in den Pfarrberichten bis zum Ende der 1960er Jahre nur in den Kategorien des Kulturverfalls, zumal bei älteren Geistlichen.

Cum grano salis gilt dies auch mit Blick auf die Körperlichkeit im kirchlichen Protestantismus. Tanz (vor allem, wenn die Mädchen einen katholischen Tanzpartner hatten), Sport, aber auch Sexualität – Themen, zu denen in den 1950er Jahren nahezu jeder Pfarrbericht Stellung bezog – wurden kritisch bis negativ bewertet, zumal dann, wenn sie mit dem kirchlichen Gebot der Sonntagsheiligung konfligierten. Die 1960er Jahre markieren hier den Um­schwung, befördert durch den Wandel in der theologischen Bewertung von Sexualität. Wenngleich die christliche Sozialethik ihren fraglos konservativen Zuschnitt bewahrte, änderte sich die Bewertung der Geistlichen, ein Sachverhalt, der am deutlichsten dadurch indiziert wird, dass sozial deviantes Sexualleben der Gemeindemitglieder in den Pfarrberichten nicht mehr thematisiert wurde. Ausschlagend hierfür war, dass insbesondere jüngere Pfarrer, die den gesellschaftlichen und ethischen Pluralismus akzeptiert hatten, keine Veranlassung mehr sahen, die Gesellschaft »an den überkommenden Maßstäben der vorhergehenden Generation zu messen« (257). Als nicht mehr zeitgemäß empfand diese Generation auch die patriarchalisch-bevormundende Einstellung ihrer Amtsvorgänger in den Bereichen Ehe, Familie, Geschlechterverhältnisse, so dass auch in der Sozialkultur von einem Wertewandel bis hin zum Traditionsbruch auszugehen ist.

Die Kapitel Ende des Milieus? Zusammenfassende Überlegungen (334 f.) und Schlussbetrachtungen. Identifizierung der Generationen (336–347) bieten die Synthese der breit angelegten Studie. Abgezielt wird dabei auf den durch den sozioökonomischen Transformationsprozess wenn nicht evozierten, so doch beförderten Kohäsionsverlust des protestantischen Milieus, wo sich immer mehr verengende kirchentreue Ingroups einer immer kirchenferneren Gemeindemehrheit gegenüberstanden. Die zu erbringende Integrationsleistung erschwerte die Arbeit der Pfarrer, die in einer sich immer mehr pluralisierenden Gesellschaft einen Autoritätsverlust hinnehmen mussten. Rollenbild, aber auch Selbstwahrnehmung der Geistlichen veränderten sich unter dem Druck der gesellschaftlichen Tatsachen fundamental – Herausforderungen, die von der Generation der 1945er entschieden leichter bewältigt werden konnten als von der Generation der Kirchenkämpfer. Letztere blieben der Vorstellung eines geschlossenen protestantischen Milieus verhaftet, das de facto seinem Ende entgegenging. Kurz – der Vf. hat eine methodisch überzeugend angelegte, materialgesättigte, gleichwohl aber immer gut lesbare Arbeit vorgelegt, die grundlegende Erkenntnisse für die veränderte Positionierung der Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft bietet. Er liefert zugleich einen überzeugenden Nachweis, dass der Milieubegriff nicht nur für die Erforschung des Katholizismus des 19. und 20. Jh.s, sondern auch für den Protestantismus fruchtbar gemacht werden kann.