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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

256–258

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kaiser, Jochen

Titel/Untertitel:

Religiöses Erleben durch gottesdienstliche Musik. Eine empirisch-rekonstruktive Studie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 311 S. m. Abb. u. Tab. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 71. Kart. EUR 59,99. ISBN 978-3-525-62418-0.

Rezensent:

Katharina Scholl

Mit dieser Arbeit legt Jochen Kaiser einen Beitrag zur Frage nach dem Zusammenhang von ästhetischer und religiöser Erfahrung vor. – Hans Blumenberg beschreibt in seiner »Matthäuspassion«, in­wiefern die Religion in ihren ästhetischen Dimensionen eindrück­lich bleibt, selbst wenn sie in ihren Begriffen zunehmend uneinsichtig wird für den modernen Menschen. Vor dem Hintergrund von Blumenbergs These stellt sich die Frage, wie diese Erlebnisqualität, die die Musik bereithält, näher zu beschreiben ist und inwiefern sie sich empirisch belegen lässt. Der Aufgabe, nach Antworten auf diese Fragen zu suchen, stellt sich K. in seiner Dissertation.

Als empirisches Material dienen ihm dabei 64 Erlebniserzählungen von Gottesdienstbesuchern, die er mit Hilfe der Dokumenta­rischen Methode auswertet. Durch einen Schreibaufruf wurden Gottesdienstbesucher angeregt, von musikalischen Erlebnissen in Gottesdiensten zu erzählen. 64 Erlebniserzählungen wurden von K. analysiert. Anhand dieses Materials begibt er sich auf die Suche nach gemeinschaftlichen sowie individuellen Dimensionen von Musik im Gottesdienst. Zwar bezieht er sich auf individuelle Erlebniserzählungen, ist aber im Verlauf seiner Arbeit immer wieder bestrebt, durch Typisierungen Generalisierungen aufzudecken. Ziel der Arbeit ist es, den Zusammenhang von Musik im Gottesdienst und dem Glauben bzw. der Religiosität der Menschen zu erhellen.

Musik im Gottesdienst versteht K. als »präsentative Glaubensexemplifikation«, durch die die Aufführung des Evangeliums zum Erlebnis wird. Durch Musik oder Lieder im Gottesdienst bekommt man ein präsentatives Beispiel christlichen Glaubens gezeigt – präsentativ deshalb, weil immer ein Überschuss an Bedeutung im Glauben des Einzelnen liegt, der nicht rational (diskursiv) eingefangen werden kann. In der Musik wird der Glaube nicht erklärt, sondern erlebt. – Weiterhin versteht K. Musik als »Aufführung des Evangeliums«, weil sich an dieser Begrifflichkeit seiner Ansicht nach am besten zeigt, dass musikalisches Erleben eine bestimmte Form von Gegenwärtigkeit erzeugt, indem die Aufführung Kontakt mit der Lebensgeschichte der Individuen aufnimmt.

Im empirischen Teil der Arbeit erscheint die Bemühung K.s be­sonders eindrücklich, die alltagsästhetischen Schemata, entwickelt von Gerhard Schulze, anhand der Erlebniserzählungen herauszuarbeiten. Diese Schemata stellen Kodierungen des Erlebens dar, durch die die hohe Zahl an Erlebnismöglichkeiten in eine übersichtliche Zahl an Routinen reduziert wird. Schulze analysierte drei alltagsästhetische Schemata, nämlich eines, das sich durch Zurück­nehmen des Körpers und Kontemplation auszeichnet (Hochkulturschema), eines, bei dem der Körper eine aktivere Rolle einnimmt durch Mitschunkeln, Mitklatschen etc., Harmonie und Gemütlichkeit haben bei diesem Schema einen hohen Stellenwert (Tri­vial-schema), und ein drittes, welches durch Enthemmung von Bewegung und Individualität gekennzeichnet ist, Musikstil ist hier die Popmusik als Ausdruck von Gegenkultur (Spannungsschema). – In seiner Analyse belegt K., dass das Erleben im Modus eines Schemas nicht die Ablehnung eines anderen Schemas bedeutet. Über Schulze hinaus macht er die wichtige Feststellung, dass eine personale Einordnung in die alltagsästhetischen Schemata Grenzen hat. Es werden nicht mehr nur Personen, sondern Veranstaltungen in diese Schemata eingeordnet und von Menschen nach Bedarf genutzt.

Für den Gottesdienst erhebt er weitestgehend eine Einordnung in das Trivialschema, weil viele Befragte Gemeinschaft, innere Zu­friedenheit oder Ähnliches suchen. Aufzunehmen seien aber auch die Anschlüsse zum Hochkulturschema, wodurch deutlich würde, dass Meditation eine gewünschte Form der Selbsttranszendierung sei, und zum Spannungsschema, da rhythmische Musik und körperlicher Einsatz insbesondere für jüngere Gottesdienstteilnehmer von großer Bedeutung sein. In Bezug auf die religiösen Komponenten der Erlebniserzählungen untermauert K. unter Be­zugnahme auf die fünf Dimensionen der Religiosität nach Charles Glock empirisch insbesondere die Bedeutung der Erfahrung und des Rituellen für die Menschen im evangelischen Gottesdienst. Ein Schwerpunkt der musikalischen Religiosität liegt im Gottesdienst auf dem Singen als Gemeinschaftserlebnis, Herzensausdruck, Sehnsuchtserfüllung, Ausdruck der Freude und christlicher Hoffnung, Segenszuspruch sowie Emotionsbewältigung.

In seinem abschließenden Ergebniskapitel schlägt K. vor, Musik im Gottesdienst als eigenen Kulturraum zu begreifen, und führt dafür den Begriff der Lebenswelt ein. Der Gottesdienst als religiöse Lebenswelt könne nur im Plural gedacht werden, insofern diese im­mer in Beziehung auf mannigfaltige Alltagswelten von Individuen gedacht werden müsse. Musikalische Stilfragen werden durch diese gemeinsame religiöse Lebenswelt aufgeweicht, so dass sich die religiöse Lebenswelt des Gottesdienstes als Schwellenraum darstellt. – In Bezug auf den Ritualbegriff schlussfolgert K., dass es notwendig sei, diesen durch die Dimension der temporären Ge­meinschaft, die aus dem Eventbegriff stammt, zu erweitern. Diese Neuformulierung verstärke auch das Verständnis von Musik und Gottesdienst als Aufführung. Auch seine These vom Singen als präsentativer Glaubensexemplifikation findet K. in den Erzählungen bestätigt. Im Singen geschehe Glaubensexemplifikation, an der sich alle beteiligen können, ohne selbst die Worte dafür erfinden zu müssen.

Am Schluss der Arbeit steht die Frage, wie ein Weg aussehen könne, der die Vielfalt der Erlebnisweisen und der Lebensgeschichten im Gottesdienst aufnimmt. K. schlägt vor, die Theorie des Thirdspace und den Gottesdienst zusammen zu denken. Indem K. diese Theorie ins Spiel bringt, gewinnt sein Begriff des Gottesdiens­tes als Schwellenraum Kontur, insofern in der Theorie des Thirdspace die Synchronie von differenten Lebenswelten zur Darstellung kommt. Die Vielstimmigkeit der musikalischen Stile und Alltagswelten finde im Gottesdienst ihre Einheit im gemeinsamen Ansinnen, den Glauben auszudrücken. Gerade die Musik hat hier eine herausragende Rolle, insofern sie in ihrer Exemplifikation bleibende Distanz und Fremdheit zulässt. In der Musik findet sich das Potential, Menschen so in den Gottesdienst einzubinden, dass kulturelle und lebensgeschichtliche Differenzen für kurze Zeit ihre Bedeutung verlieren, weil alle gemeinsam singen.

Beeindruckend an der Arbeit ist die Beobachtungsgabe, die K. an den Tag legt. Mit großer Sorgfalt spürt er den Erlebniserzählungen nach und sucht nach adäquaten Interpretationen. Fragen bleiben allerdings offen in Bezug auf das Verhältnis von Theorie und Empirie. So scheint der Rezensentin sein abschließender Vorschlag, die Theorie des Thirdspace als Vermittlungsmodell für seine empirischen Ergebnisse ins Spiel zu bringen, weniger überzeugend. In K.s empirischer Untersuchung zeigt sich eine solche Vielfalt differenter Erlebnisweisen von Gottesdienstbesuchern, dass es fraglich ist, ob ein solcher Thirdspace in Gestalt des Gottesdienstes möglich ist, zumal Fragen des persönlichen Stils untrennbar mit dem Musikgeschmack verbunden sind und eben auch mit der Ablehnung von Stilen, die kein authentischer Ausdruck des Selbst sind. Bei aller Wertschätzung traditioneller Gesangbuchlieder scheinen doch die Anforderungen der modernen Individualkultur nicht einfach im Singen eines Chorals aufgehoben zu sein.