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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

254–256

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herbst, Michael

Titel/Untertitel:

Beziehungsweise. Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theo­logie 2012. 705 S. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-7887-2588-4.

Rezensent:

Michael Klessmann

Der Greifswalder Praktische Theologe Michael Herbst legt ein neues, umfangreiches Lehrbuch der Seelsorge vor; das erscheint mutig angesichts der verschiedenen Lehr- oder Handbücher, die in den letzten Jahren neu erschienen sind. H. stellt denn auch gleich zu Anfang fest, dass es ihm nicht »um ein weiteres umfassendes Lehrbuch der Seelsorge« geht (22) – und das bei 700 Seiten? Offenbar hat H. ein Anliegen, das er in den anderen Lehrbüchern nicht so verwirklicht sieht, wie er es theologisch für angemessen und notwendig hält. Es geht ihm, kurz gesagt, um eine deutlicher akzentuierte biblische Orientierung der Seelsorge. In der Einleitung richtet H. durch eine Meditation von Ps 121 die Aufmerksamkeit auf den »seelsorglichen Gott«: »Gott wacht und behütet, er schläft nicht. Das ist der Ansatzpunkt der nun vorzustellenden Überlegungen über die Seelsorge« (20). Es gebe so etwas wie einen »christlichen Atheismus«, der nicht mehr ernsthaft mit der Wirklichkeit, mit der Hilfe Gottes rechne. Dagegen will H. durchbuchstabieren, was es bedeutet, »auf die Anwesenheit und Hilfe Gottes in seelsorglichen Situationen zu hoffen« (22). Vor diesem Hintergrund scheint ihm auch der alte Konflikt zwischen kerygmatischer und therapeu­tischer Seelsorge nicht überwunden; im Gegenteil, er verschärft die Kontroverse, indem er von »realistischer« versus »idealistischer« Seelsorge spricht (86 f.). Dabei gehe es nicht um methodische De­tails, sondern letztlich um die Frage, »ob dem religiösen Subjekt sowohl zugetraut werden kann als auch zugemutet werden muss, im Zuge seiner Selbstwerdung religiöse Ressourcen zu aktivieren, die es – wenn auch vielleicht verschüttet – bereits in sich trägt […] oder ob wir (an)gewiesen sind: auf Gottes eigene Seelsorge, indem er ›das Wort ergreift‹, das wir bezeugen« (87).

Damit macht H. leider doch wieder eine Alternative auf, die ich überwunden glaubte: Warum diese Abwertung von Religion, von religiöser Erfahrung, von religiöser Autonomie des Menschen? Was für ein reduzierter Erfahrungsbegriff steht da im Hintergrund! »Religiöse Erfahrung« ist »Resonanz« (mit G. Theißen), sie wird, so verstehe ich es, »von außen« angestoßen, von einem »Gegenüber« geweckt, zugleich ist und bleibt sie eigenes, persönlichkeitsspezifisch geprägtes Produkt. Warum muss man das auseinanderreißen?

H. spielt sein Anliegen im Teil I »Grundlagen der Seelsorge« in den verschiedenen Kapiteln immer wieder durch, konzentriert entfaltet wird es vor allem im Kapitel IV mit der Überschrift missio dei. »Die Mission des beziehungsreichen Gottes« (153) gibt der Seelsorge, wie H. sie versteht, ihr spezifisches Gepräge. In methodischer Hinsicht findet man viele Ähnlichkeiten und Überschneidungen mit den häufig zitierten Lehrbüchern von Jürgen Ziemer, Wilfried Engemann, Michael Klessmann und Christoph Morgenthaler. In theologischer Hinsicht jedoch setzt H. gerade mit dem Stichwort von der missio deials Kern und Quelle der Seelsorge seinen besonderen Akzent. H. formuliert es so: »Es geht also um ein integrales Missionsverständnis, welches das Wohl des Menschen und der Schöpfung im Blick hat, dabei aber nicht vergisst, dass das zerbrochene Gottesverhältnis die Wurzel des Übels ist und darum das Heil des Menschen und der Schöpfung nicht gedacht werden kann, ohne dass der Mensch wieder in das rechte Verhältnis zu Gott zurückfindet […] Aus dem integralen Missionsverständnis er­wächst ein integrales Seelsorgeverständnis: Seelsorge nimmt sich darum […] des Menschen in jeder Beziehung an. Dass auch sie ein Herzstück hat, nämlich die Sorge, dass der Mensch erstmals wieder oder erneut in das rechte Verhältnis zu Gott findet und in der Mitte seiner Existenz versöhnt wird, ist ebenso deutlich.« (159 f.)

Dieser Ansatz wird umgesetzt in einer relationalen Anthropologie, die seelsorglichem Handeln zugrunde liegt: Der Mensch ist Beziehungswesen in vielfachen Bezogenheiten, er ist Sünder, aber durch Christus versöhnt, sein Leben ist fragmentarisch, aber auf dem Weg zur Vollendung. Auch der gefallene Mensch »funktioniert einigermaßen« (208), aber der Seelsorge muss es darum gehen, die Christusbeziehung (wieder) herzustellen. »Die Christusbeziehung, der Glaube, ist also das Ziel der Seelsorge« (211). H. möchte eine »mittlere Linie« (243) zwischen kerygmatischer und therapeutischer Seelsorge entfalten (was angesichts der oben zitierten theologischen Positionierung kaum überzeugt), es soll einerseits keinen »kerygmatischen Leistungsdruck« (211) geben, andererseits sollen Seelsorgende von Psychologie, Psychotherapie und Kommunikationstheorie lernen (H. widmet zahlreiche Abschnitte verschiedenen therapeutischen Ansätzen: Carl Rogers, Schulz von Thun, Persönlichkeitstheorie nach Fritz Riemann, systemische Therapie, Stressbewältigung in der Paarberatung, Validation in der Altenseelsorge etc.) und die soziale und individuelle Lage derer, die sie seelsorglich begleiten, genau wahrnehmen. Die mittlere Linie konkretisiert sich in der Frage, »ob noch ein Dritter im Bund ist« (271), ob unter dem Hören auf den anderen Menschen »ich hören kann, was Gott jetzt und hier zu diesem Menschen sagt, über ihn sagt, für ihn ankündigt und für ihn gegen ihn mahnt« (272).

An vielen Stellen bringt H. Beispiele aus der Seelsorge, aber auch aus Filmen, um die Dynamik menschlicher Problematiken und mögliche seelsorgliche Reaktionen zu veranschaulichen. Gerade hier jedoch, wo es um das Zentrum seines theologischen Ansatzes geht, wo er selbst, im Gespräch mit E. Thurneysen, H. Tacke und M. Seitz, von parakletischer Seelsorge spricht, finde ich keine Beispiele. Die Konkretion des missionarischen Fokus vermisse ich hier.

In Teil II »Praxisfelder der Seelsorge« werden verschiedene Bereiche sehr ausführlich dargestellt: Schuld und Vergebung in der Seelsorge, Gehörlosenseelsorge, Burnout, Depression und Suizid, Seelsorge mit Kindern im Kinderkrankenhaus (fast eine kleine eigenständige Monographie auf 100 Seiten!), Seelsorge mit Ehepaaren, Alter und Altern als Zu-Mutungen der Seelsorge. Diese Kapitel spiegeln eine hohe Kompetenz H.s in seelsorglichen Fragen; sozial- und humanwissenschaftliche Perspektiven werden breit referiert. Die Gliederung der Kapitel nach dem in der Praktischen Theologie bekannten Schema Wahrnehmen – Deuten – Handeln ermöglicht viele relevante Informationen und Unterscheidungen.

Der eigentliche Fokus liegt jeweils auf der theologischen Di­mension – und die wird immer wieder ganz traditionell und gleichsam geschlossen formuliert. Zwei Beispiele für viele: In Kapitel 7 »Schuld und Vergebung in der Seelsorge« werden die Begriffe Schuld und Sünde einander zugeordnet und Sünde wird dann charakterisiert als »Misstrauen gegen die Güte Gottes« (352), woraus weitere Beziehungsstörungen folgen. Eine Existentialisierung oder Anthropologisierung, wie sie P. Tillich oder W. Gräb vorgeschlagen haben, lehnt H. ausdrücklich ab. Sind wir dann in der Seelsorge sprachlos im Kontakt mit Menschen, denen ein solches traditionelles Gottesbild nicht (mehr) zugänglich ist?

In Kapitel 11 (560 ff.) geht es um Seelsorge mit Ehepaaren. Ausdrücklich verteidigt H. die Konzentration auf die Ehe als »ein lebenslanges, exklusives und umfassendes Bündnis einer Frau mit ihrem Mann bzw. eines Mannes mit seiner Frau« (570). Die Ehe ist Mandat und Stiftung Gottes, als solche gilt sie ihm als »Maßstab und Zielbild kirchlicher Bildung« (563). Andere Arten von Paarbeziehungen sind demgegenüber zwangsläufig defizitär; auch der Maßstab der Beziehungsgerechtigkeit reicht ihm für die Gestaltung von Paarbeziehungen ausdrücklich nicht aus (571). Was machen wir dann in der Seelsorge, wenn uns – wie so häufig – Paare mit anderen Lebensformen begegnen?

Neben den unbestreitbaren Stärken des Buches scheint mir das die zentrale Schattenseite zu sein, dass H. keinerlei Versuche unternimmt, die biblische, die theologische Perspektive zu übersetzen und für postmoderne Zeitgenossen anschlussfähig zu machen. Ein bestimmter immer schon feststehender theologischer Maßstab ist der letztgültige; bei allen differenzierten Wahrnehmungen gegenwärtiger Lebenskontexte bleibt dieser Maßstab von hermeneutischen Bemühungen unberührt. Formal gesehen ist das Buch etwas langatmig, stellenweise re­dundant und in der Struktur nicht immer übersichtlich ge­schrieben. Deutliche Straffung und klarer erkennbare Gliederung hätten dem Ganzen gut getan. Und: Ein so voluminöser Band sollte ein Register haben. Das würde es deutlich erleichtern, das Buch zu nutzen und seine Schätze zu entdecken.