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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

252–254

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Scheliha, Arnulf von

Titel/Untertitel:

Protestantische Ethik des Politischen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XI, 422 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-16-152361-8.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Gegenüber Demokratie, der Idee der individuellen Menschenwürde und einem Verständnis von Politik, das die Freiheits- und Beteiligungsrechte der Bürger betont, wahrte der Protestantismus herkömmlich durchweg große Distanz. Evangelische Theologen sowie die evangelischen Kirchen haben zu Staat und Politik autoritäts- und obrigkeitsorientierte Denkmuster geschaffen und sie viel zu lange konserviert. Es ist keineswegs nur die römisch-katholische Kirche, die Demokratie, Religionsfreiheit und individuelle Menschenrechte traditionell abgelehnt hat. Der protestantischen Seite des Problems widmet sich das vorliegende Buch von Arnulf von Scheliha. Es enthält zwei Teile.

Der erste Teil ist historisch angelegt (»Entstehung und Gestalt der protestantischen Ethik des Politischen« [11–218]) und bringt protestantismusgeschichtlich relevante Aspekte des Umgangs mit Staat und Politik in ungewohnt umfassender Weise zur Sprache. Der Vf. beschränkt sich nicht darauf, Ideen der Reformationszeit (Luther, Calvin, »linker« Flügel der Reformation usw.) darzulegen (20 ff.) oder die lutherische Zweireichelehre und den im 20. Jh. von K. Barth präferierten christologischen Monismus einander gegenüberzustellen. Vielmehr behandelt er eingehend das neuzeitliche profane Naturrechtsdenken – u. a. anhand der »Politica« von Johannes Althusius, in der sich der Sache nach schon eine Subsidiaritätsidee findet (55 ff.) – sowie Aufklärungsphilosophen wie John Locke (89 ff.) oder Pierre Bayle (92 ff.). Hierdurch veranschaulicht er, dass die neuzeitliche Entschränkung von Staat, Gesellschaft und Religion und die moderne Toleranzidee im Wesentlichen auf außerreligiöse bzw. außerprotestantische Impulse zurückzuführen sind. Zugleich zeigt er instruktiv auf, wie im 19. und frühen 20. Jh. einzelne Autoren des Protestantismus – Friedrich Schleiermacher, aber z. B. auch Richard Rothe oder Ernst Troeltsch mit seinem Vernunftrepublikanismus oder seiner Vision einer europäischen Kultursynthese – zu modernen freiheitlichen Leitbildern von Politik, Staat und Gesellschaft einen Zugang erschlossen haben (101 ff.132 ff.154 ff.). Insgesamt blieb dies allerdings randständig. Vorherrschend blieb jener Typus des evangelischen Christentums, der auf einem homogen christlichen Staat und einem hierarchisch-obrigkeitlichen Staats- und Politikideal beharrte. Hierfür war etwa Fried­rich Julius Stahl repräsentativ (124 ff.). Noch im 20. Jh. hielten weite Teile des Protestantismus im breiten Spektrum von E. Hirsch (167 ff.) bis zu D. Bonhoeffer (188 ff.) gegenüber einem freiheitlichen, grundrechtsbasierten, demokratischen Politikverständnis Abstand. Erst im Jahr 1985 bekundete die Evangelische Kirche von Deutschland in ihrer Denkschrift »Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie« explizit ein Ja zu Menschenrechten und Demokratie. Der Vf. würdigt die Denkschrift als Symbol dafür, dass sich der Protestantismus von seiner zwiespältigen obrigkeitlich-paternalistischen Vergangenheit jetzt getrennt hat (197 ff.298). Andererseits verkennt er nicht, dass wichtige Voten evangelischer Kirchen auch heute noch inhaltlich rückwärtsgewandt und überdies argumentationsschwach ausfallen (379 f.). Solche skeptischen Hinweise sind mehr als berechtigt. Im vorliegenden Buch stehen sie aber nicht im Vordergrund, weil dem Vf. programmatisch daran liegt, den zukunftsweisenden Gehalt speziell der Demokratiedenkschrift von 1985 hervorzuheben.

Nachdem im ersten Teil des Buches die Ideengeschichte des Protestantismus hinsichtlich Demokratie, Toleranz und Menschenrechten nüchtern und ohne Beschönigung analysiert worden ist, legt der zweite Teil eine evangelisch-theologische Sicht politischer Ethik auf neuer Grundlage dar, zunächst systematisch (»Grundlegung der Politischen Ethik« [219–315]), danach materialethisch anhand ausgewählter Einzelthemen (»Perspektiven der Politischen Ethik« [317–383]). Normativ legt der Vf. hohes Gewicht auf die Gewissensfreiheit, aus der sich Menschenwürde und Menschenrechte ableiten lassen (9.221.224 ff.). Gelegentlich erwähnt er weitere normative Ansätze und hält es z. B. für denkbar, politische Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit auf die neutestamentliche Reich-Gottes-Vorstellung abzustützen (236) – ein Gedanke, der sich geistesgeschichtlich und argumentativ aber nur begrenzt plausibilisieren lässt. Aus Sicht des Rezensenten stellt es einen guten Griff dar, dass das vorliegende Werk vor allem die Gewissensfreiheit als Basisnorm politischer Ethik versteht. Ideengeschichtlich ist sie auf das neuzeitliche rationale Na­-turrecht und die Aufklärung zurückzuführen (93), besitzt jedoch gleichfalls einen protestantischen Hintergrund in der Reformation oder namentlich bei Schleiermacher (112).

Insgesamt erfolgt im zweiten Buchteil die konzeptionelle Entfaltung politischer Ethik mit Hilfe des Dreischritts von Pflichten-, Güter- und Tugendlehre, den sich bereits Schleiermacher zunutze gemacht hatte. Im Sinn der Pflichtenlehre werden »theologische Normen des Politischen« (224 ff.), als Ausdruck der Güterlehre der »sittliche Rahmen des Politischen« (242 ff.) und in der Logik einer Tugendlehre die »ethische Orientierung des politischen Handelns« (291 ff.) behandelt. Im materialethischen Schlussabschnitt konzen triert sich der Vf. auf ausgewählte aktuelle Herausforderungen der Politik, nämlich die Gewährleistung von gerechtem Frieden (324 ff.), den Prozess europäischer Identitätsfindung (342 ff.) sowie »good governance« (370 ff.).

Seine materialethischen Reflexionen regen zu weiterführenden Erwägungen, manchmal auch zu Rückfragen an. So wäre zum Themenfeld Friedensethik/Gewaltanwendung zu erörtern, ob es verfassungsrechtlich tatsächlich ausreicht, dass der Deutsche Bundestag zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr lediglich ein so­genanntes Mandat erteilt (340). Da derartige militärische Einsätze fun­damentale Grundrechte, namentlich das Recht auf Leben be­rühren, geben juristische Stimmen neuerdings zu Recht zu bedenken, ob die Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeit des Parlaments weiter gestärkt und ein Auslandseinsatzgesetz geschaffen werden sollte. Ein anderer Punkt: Angesichts der religiösen Pluralisierungen, die sich zurzeit in der Bundesrepublik Deutschland er­eignen, plädiert der Vf. für eine »Konfessionalierung« des Islam (368), die die Organisation der christlichen Kirchen zum Vorbild nehmen und dem Muster des überlieferten deutschen Staatskirchenrechts folgen solle. Aus Sicht des Rezensenten ist zu diskutieren, wie tragfä hig Re- und Neukonfessionalisierungen dauerhaft sind, ob sie nicht zu neuen Versäulungen und Abschottungen führen könnten und ob aktuelle staatliche Initiativen, die in diese Richtung weisen, mit Religionsfreiheit, weiteren Grundrechten und der staatlichen weltanschaulichen Neutralität hinreichend vereinbar sind.

Normativ lassen sich solche Anschlussdebatten auf der Basis jener Leitideen führen, die der Vf. zu Recht als Kern heutiger politischer Ethik herausgearbeitet hat: Gewissensfreiheit, Toleranz, Menschenwürde und Menschenrechte oder – anders gelagert – ein prozess- und nicht nur institutionenorientierter Begriff von Politik, den der Vf. erwähnt (372). Das Buch bietet eine Konzeption, die für den Protestantismus einen Zugang zur politischen Ethik auf heutigem Niveau aufzeigt. Der Vf. hat mit seinem Werk einen Schritt vollzogen, der überfällig war und bahnbrechend ist: eine protestantische Ethik des Politischen wieder auf ein überzeugendes gedankliches Fundament zu stellen.