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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

247–249

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Baltes, Dominik

Titel/Untertitel:

Heillos gesund? Gesundheit und Krankheit im Diskurs von Humanwissenschaften, Philosophie und Theologie.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg/Freiburg i. Br.: Herder Verlag 2013. 384 S. = Studien zur theologischen Ethik, 137. Kart. EUR 65,00. ISBN 978-3-7278-1735-9 (Academic Press Fribourg); 978-3-451-34171-7 (Herder).

Rezensent:

Hans-Martin Rieger

Die Höchstschätzung der Gesundheit und die ausufernden Ge­sundheitsvorstellungen der Gegenwart haben manche bereits da­zu veranlasst, von einer Gesundheitsreligion zu reden. Gesundheit wäre als säkulares Substitut dessen, was theologisch Heil ge­nannt zu werden pflegt, zu begreifen. Vor dem Hintergrund einer solchen Sichtweise unternimmt es die als Dissertation bei E. Schockenhoff in Freiburg angefertigte Studie von Dominik Baltes, den Begriffsumfang und die Normativität verschiedener Gesundheitsvorstellungen kritisch zu rekonstruieren. Bei dieser Ausein andersetzung findet der Vf. Bündnispartner im Bereich philosophisch-anthro- pologischer Reflexionen, welche Gesundheit und Krankheit als zur Grundkonstitution des Menschen zugehörig betrachten.

In einem ersten Schritt wird eine Annäherung an den Gesundheitsbegriff über eine gegenwartssoziologische Deutung skizziert, die die Position des Vf.s in aller Deutlichkeit bereits enthält (26: »Versuch einer Selbsterlösung des Menschen aus seiner Endlichkeit«, ähnlich auch 126). Im Rahmen eines kurzen geschichtlichen Rückblicks (34–62) wird vorwiegend anhand der Sekundärliteratur (Bergdolt, Schipperges, Lanzerath) die dem Steigungsprojekt der Moderne zugrundeliegende naturwissenschaftliche Verobjektivierung mit den Vorstellungen der Humoralpathologie und des christlichen Mittelalters kontrastiert.

Ein größeres Kapitel (63–132) zeigt Facetten des gegenwärtigen Gesundheitsbegriffs zunächst im Rückgriff auf humanwissenschaftliche und philosophische Beiträge auf. Zum Zuge kommen kurz dargestellt: der Gesundheits- bzw. Krankheitsbegriff T. Parsons, das Gesundheitsverständnis K. Hurrelmanns, das salutogenetische Modell A. Antonovkys und das biostatische Modell von Ch. Boorse. Etwas ausführlicher dargestellt wird die Gesundheitsauffassung von L. Nordenfelt, welche auf die evaluative Fähigkeit des menschlichen Subjekts abhebt, vitale Ziele zu verwirklichen. Die Fähigkeit einer biologisch aufgefassten Normativität steht im Mittelpunkt der Begriffsbestimmung von G. Canguilhem.

Die konstatierten Defizite münden in die Kritik, die dargestellten Ansätze ermangeln eines umfassenden Verständnisses der Konstitutiva menschlichen Daseins. Damit ist für den Vf. zugleich die Aufgabe für die nächsten Kapitel vorgegeben: Im Rückgriff auf V. von Weizsäcker, H. Rombach und W. Kamlah wird insbesondere der Destruktion eines handlungsorientierten und autonomie-zentrierten Menschenbilds vorgearbeitet (133–194), auf deren Hin­-tergrund dann eine theologische Verhältnisbestimmung von Ge­sundheit und Heil erfolgt (195–271). Positiv aufgenommen werden insbesondere von Weizsäckers teleologische Zuordnung von Ge­sundheit bzw. Krankheit zur letzten Bestimmung des Menschen und seine Auffassung des Transzendenzcharakters der pathischen Existenz. Die damit einhergehende Sinngebung von Krankheit im Sinne einer Instrumentalisierungstheorie scheint dem Vf. aus seiner theologischen Position heraus unbehaglich, sie wird indes keiner tiefgreifenden kritischen Reflexion unterzogen. Angesichts der Verbreitung der Instrumentalisierungsvorstellung auch in religiösen Diskursen mag man dies bedauern. Im Rückgriff auf Jaspers wird jedoch zu Recht gefragt, ob die Bearbeitung der Sinndimension grundsätzlich nicht schon eine Ganzheitsperspektive voraussetzt, die die Profession des Arztes übersteigt. Dem Vf. geht es an dieser Stelle allerdings nicht um die Selbstbeschränkung einer Profession, sondern um die Lücke für den theologischen Diskurs. Das theologische Kapitel über das Verhältnis von Gesundheit und Heil arbeitet anhand eines etwas lang geratenen Thomas-Referates die Differenz und die Zuordnung von irdischem Glück und ewigem Glück heraus. Der Schablone eines modernen Menschen, dessen Sorge um Gesundheit bereits Züge einer Selbsterlösungsideologie zeige (197.267.342 f.), wird im Anschluss an B. Welte und Th. Pröpper eine transzendentale Begründungsposition gegenübergestellt: Des Menschen Leiblichkeit müsse als Hinweis auf das ewige Glück, seine Freiheitsvollzüge als Hinweis auf den unbedingten göttlichen Freiheitsvollzug als Bedingung ihrer Möglichkeit dechiffriert werden. Die Fragestellung einer solchen Erlösungslehre wird nicht mehr von der Sündhaftigkeit des Menschen be­stimmt, sondern vom apologetischen Anliegen, den nach Gesundheit verlangenden Menschen über sein angeblich aporetisches Dasein zur großen Transzendenz zu führen (252 f.267 f.).

Es folgen Darstellung und Würdigung ausgewählter Beiträge zur Gesundheitsthematik vorwiegend aus der katholischen Moraltheologie und dreier kirchlicher Stellungnahmen (273–337). In der Auseinandersetzung mit dem Säkularisierungsbegriff H. Blumenbergs wird in den Schlussüberlegungen die These einer Säkularisierung des christlichen Heilsbegriffs nochmals aufgegriffen. Sie fügt sich der Perspektive, die moderne Gesundheitssehnsucht un­ter dem Vorzeichen eines Selbstbehauptungswillens und einer Selbsterlösungsideologie zu deuten. Festgehalten wird das Erfordernis einer »realistischen Gesundheitsauffassung«. Konstitutiv hierzu sei es, Gesundheit als relative Größe in ihrem Bezug zum letzten Ziel des Menschen bzw. zu einer großen Transzendenz zu sehen. Nur so könne ein Deutungsmodell entstehen, das zum Umgang mit Endlichkeit, Fragilität und Leid befähige.

Die Untersuchung begibt sich in einen unübersichtlichen und von mächtiger impliziter Normativität aufgeladenen Gesundheitsdiskurs der Gegenwart. Zu Recht wird die enggeführte Frage nach Gesundheit in den weiten Horizont der anthropologischen Frage nach der conditio humana bzw. nach der Bestimmung des Menschen gestellt und mit kulturgeschichtlichen Transformationsprozessen in Verbindung gebracht. Der Vf. verliert sich dabei allerdings immer wieder in der Weite und den Verästelungen des Gesundheitsdiskurses und der Fundamentaltheologie, so dass elementare Klärungen mitunter auf der Strecke bleiben und theorieimmanente Denkzusammenhänge sowohl bei anderen Positionen als auch bei der eigenen Position nicht hinreichend reflektiert werden: Welchen Charakter besitzen Begriffe wie »Gesundheit«/ »Krankheit« (auch im Unterschied zu Definitionen oder Modellen)? Handelt es sich nicht eher um individuelle und zugleich gesellschaftliche Orientierungsbegriffe, die zwar Allgemeinheit insinuieren, zugleich aber pluralen Bestimmungsgrößen unterliegen? Setzt das apologetische Verfahren, die Insuffizienz des Gesundheitsdiskurses aufweisen zu wollen, nicht bereits das Grundmotiv voraus, eine Lücke finden zu müssen, an deren Stelle die Notwendigkeit der Religion demonstriert werden kann? Der Vf. entschied sich dazu, den Wert der Gesundheit im Rahmen einer umfassenden Freiheitstheorie (Th. Pröppers) zu denken. Sie erlaubt es ihm, zur theologischen Bearbeitung der conditio humana und damit auch zur theologischen Bearbeitung von Gesundheit und Krankheit die Sündenlehre zurückzustellen. Damit entschied er sich auch dazu, vom Potential, das etwa die klassische Differenzierung von malum metaphysicum, malum morale und malum physicum bereithält, keinen Gebrauch zu machen.