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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

239–241

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Pfordten, Dietmar von der

Titel/Untertitel:

Rechtsethik. 2., überarb. Aufl.

Verlag:

München: Beck 2011. IX, 603 S. Geb. EUR 59,00. ISBN 978-3-406- 59147-1.

Rezensent:

Hanns Engelhardt

Rechtsethik ist der Teil der Rechtsphilosophie, der sich mit den moralischen Aspekten des Umgangs mit dem Recht – als Gesetzgeber, als Rechtsanwender oder als Rechtsunterworfener – befasst. Näherhin fragt die Rechtsethik, welches Recht »gerecht« ist, ob man diese Frage überhaupt stellen darf und wie sie beantwortet werden kann. Ungeachtet seines »Bürgerrechts im Himmel« lebt auch der Christ zunächst einmal auf dieser Erde und damit notwendig auch in der Welt des Rechts. Er muss daher am Recht und seiner Gerechtigkeit interessiert sein. Er weiß: Gott schafft Recht; er lehrt sein Volk seine Gesetze und Rechte.

Der Göttinger Rechtsphilosoph Dietmar von der Pfordten aus der Schule von Julian Nida-Rümelin verzichtet allerdings bewusst auf eine religiöse Fundierung des Rechts. Das vorliegende Werk ist die 2., stark überarbeitete Auflage seiner Habilitationsschrift von 2001. Dass der Verlag bei einer Habilitationsschrift dieser Thematik und dieses Umfangs bereits nach zehn Jahren eine überarbeitete Neuauflage als sinnvoll angesehen hat, spricht schon für sich allein für die Qualität des Werkes.

Ziel des Vf.s ist es, »für die Rechtsethik die Konsequenz aus der Rehabilitierung der praktischen Philosophie zu ziehen« und ihr wieder Anerkennung »als respektabler Teil der Wissenschaft bzw. Philosophie« zu verschaffen; allerdings will er die Kritik des Rechts­positivismus an der klassischen Rechtsethik insofern aufnehmen, als er »keine ungesicherten metaphysischen Höhenflüge mehr un­ternehmen«, vielmehr ausschließlich »nüchterne, immanente und möglichst metaphysisch sparsame Begründungen« anerkennen will (3).

Der Vf. erörtert zunächst den Standort der Rechtsethik im Ge­-füge der Wissenschaftsdisziplinen. Daran schließt er die Untersuchung der Unterscheidung von Recht und Moral und insbesondere der verschiedenen Möglichkeiten an, Recht und Moral miteinander in Beziehung zu setzen. Es folgt eine gedrängte Darstellung der verschiedenen rechtsphilosophischen Schulen; hier unterscheidet er vier Möglichkeiten der Beziehung zwischen Rechtsethik und Recht: Der rechtsethische Nihilismus erklärt jede normative Rechtfertigung oder Kritik des Rechts für unmöglich; der rechtsethische Reduktionismus – und hierzu gehören nach seiner Ansicht auch etwa Hans Kelsen und seine Reine Rechtslehre (ob zu Recht, bleibe einmal dahingestellt) – erklärt eine Rechtfertigung oder Kritik des Rechts ausschließlich als rechtsintern für möglich; der rechtsethische Normativismus bejaht zwar eine rechtsethische Rechtfertigung und Kritik des Rechts, verneint aber eine unmittelbare Auswirkung dieser Kritik auf die Geltung des Rechts; über ihn geht der rechtsethische Essentialismus – zu ihm gehört etwa die klassische Naturrechtslehre ebenso wie die Auffassung des späten Radbruch – insofern hinaus, als er dem »ungerechten Recht« auch die rechtliche Geltung abspricht.

Entscheidet man sich unter den vorgestellten Möglichkeiten für einen rechtsethischen Normativismus oder sogar Essentialis­mus, so stellt sich unabweisbar die Frage, was denn Gerechtigkeit, wann ein Recht »gerecht« sei.

Die Grundtendenz des Werkes wird gekennzeichnet durch das Bekenntnis zu einem »legitimatorischen Individualismus«, nach dem Herrschaft legitimatorisch letztlich immer auf Individuen rückführbar sein muss. Dadurch würde eine transzendente Be­gründung der Gerechtigkeit nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sofern das Individuum ein notwendiges Glied der Argumentationskette bleibt; indes verzichtet der Vf. – wie erwähnt – auf eine solche transzendente (Aller-)Letztbegründung rechtlicher Regelungen.

Im Zentrum der Arbeit steht die von dem Vf. entwickelte Dreizonentheorie; man könnte auch von drei Sphären oder Bereichen sprechen. Ihre Grundlage ist das »Prinzip der relativen Individu­al- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit der Belange« (scil. von Individu­en). Der Vf. stellt fest, dass diese Interessen in unterschiedlichem Maße von der jeweiligen Gemeinschaft abhängen. Gemeint ist, dass ihre Befriedigung in unterschiedlichem Maße ein Handeln der jeweiligen Gemeinschaft erfordert oder auf sie einwirkt. Er unterscheidet eine Individualzone, eine soziale Zone und dazwischen eine Relativzone. In der Individualzone hat das Individualinteresse des einzelnen Betroffenen absoluten Vorrang. In der sozialen Zone haben die Interessen aller Betroffenen grundsätzlich gleiches Gewicht; die formale Gleichheit kann freilich modifiziert werden durch das Sozial- und das Effizienzprinzip, so dass etwa besonders Bedürftige besonders berücksichtigt werden dürfen (ohne erwähnt zu werden, schleicht sich hier ein Gesichtspunkt ein, der schon aus der Bibel wohlbekannt ist). In der dazwischenliegenden Relativzone sind die Individualinteressen aller Betroffenen zu berücksichtigen, aber nicht in gleicher Weise; ein oder mehrere Betroffene haben in diesem Bereich ein Übergewicht. Die Zuordnung der einzelnen Individualinteressen zu einem dieser Bereiche soll danach bestimmt werden, in welchem Maße diese Interessen – genauer die Objekte oder Zustände, auf die sie sich richten und damit wohl eher ihre Befriedigung – »von der jewei­-ligen Gemeinschaft abhängen«. Als »Prima-facie-Grenze« der Individualzone sieht der Vf. die Grenze des Körpers jedes einzelnen Menschen an (ob allerdings innerhalb dieses Bereichs Konflikte zwischen Individuen von vornherein ausgeschlossen sind, könnte– zumal wenn man, wie der Vf. andernorts, für ein Lebensrecht des Nasciturus eintritt – bezweifelbar erscheinen). In die soziale Zone fallen vor allem die Verwirklichung ge­meinsamer Projekte, die nicht ausschließlich einem oder mehreren Individuen zuzuschreiben ist, und die Nutzung natürlicher gemeinsamer Güter, die keinem Teil der Gemeinschaft (Einzelner oder Gruppe) zugeordnet werden können. In die dazwischen liegende Relativzone verweist der Vf. »alle Interessen, die sich auf konkrete Lebensumstände des einzelnen Menschen beziehen«, aber »die symbolische prima-facie-Körpergrenze der Individualzone überschreiten, das heißt alle Interessen an individuellen Handlungen,« wobei der Vf. als Beispiel an erster Stelle die Religionsaus­übung nennt. Gerade in diesem Be­reich können sich, da man die Inhomogenität der verschiedenen Individualinteressen berück­sichtigen muss, schwierige Abwägungsprobleme ergeben.

Der Vf. bemängelt, dass die politische Ethik in der gegenwärtigen deutschen Rechtsphilosophie wenig, zum Teil überhaupt nicht, thematisiert werde. Er selbst stellt Theorien der politischen Ethik in den Vordergrund. Das führt freilich dazu, dass auch die Probleme des öffentlichen Rechts gegenüber denen des Zivilrechts vorrangiges Interesse erfahren. Private Konflikte werden für eine rechtsethische Betrachtung eher als weniger bedeutsam ange­-sehen; Rechtsanwender und Rechtsunterworfene, die gerade mit Alltagsproblemen dieses Bereichs befasst sind, mögen davon ein we­nig enttäuscht sein.

Schließlich: Auch wer auf einen Transzendenzbezug des Rechts und seiner ethischen Beurteilung nicht verzichten will, erhält durch das vorliegende Werk vielfache Belehrung und Anregung. Er mag etwa Wolfgang Hubers »Gerechtigkeit und Recht« danebenlegen und lesen; ein eingehender Vergleich dieser beiden Werke wäre eine reizvolle Aufgabe. Dieser Hinweis soll den Wert des ange-zeigten Werkes freilich in keiner Weise mindern; wer sich an der rechts­ethischen Diskussion fundiert beteiligen will, kann an ihm nicht vorbeigehen.