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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

218–220

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Grabner-Haider, Anton, Maier, Johann, u. Karl Prenner

Titel/Untertitel:

Kulturgeschichte des späten Mittelalters. Von 1200 bis 1500 n. Chr.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 297 S. Geb. EUR 61,99. ISBN 978-3-525-53038-2.

Rezensent:

Kristin Skottki

Kulturgeschichtliche Überblickswerke sind etwas sehr Schönes, weiten sie doch den Blick für die reale Lebenswelt der Menschen und überwinden so die üblichen Beschränkungen auf politische und militärische Ereignisse, oder auch auf rein theologiegeschichtliche Entwicklungen. Noch schöner ist es, wenn gängige geographische und kulturelle Grenzen überschritten werden und das Ganze dann auch noch theorieinspiriert geschieht. Geradezu er­freut ist der Leser, wenn er der Einleitung dieses Buches entnimmt, dass es sich dem Dialog der Kulturen und der interkulturellen Phi­losophie verbunden weiß und sich methodisch auf die Prak-tische Philosophie stützt (11). Doch leider hält diese Freude nicht lange an. Das hat gleich mehrere Gründe, die jedoch vor allem im ersten Teil des Buches zu finden sind.

Dieser erste große Teil (13–159) wird von dem in Graz tätigen Religionsphilosophen Anton Grabner-Haider bestritten, der praktisch jeden Bereich des Lebens im späten Mittelalter darstellt und dabei auch die dunklen Seiten, wie etwa die Verfolgung von Häretikern und Hexen, thematisiert. Der Judaist Johann Maier widmet dem Leben der jüdischen Bevölkerung den zweiten Teil dieses Werkes (161–208), abgeschlossen wird die Darstellung durch den Religionswissenschaftler Karl Prenner, der die verschiedenen Räume und Gruppen der vorrangig islamischen Gesellschaften in den Blick nimmt (209–251). Meine Kritik bezieht sich also nur auf den ersten Teil.

Erstens gibt es außerhalb der Einleitung keinerlei Hinweise auf grundsätzliche und theoretische Fragen, wie etwa, was denn überhaupt das Spätmittelalter sei. Das ist insofern bedauerlich, da in der Einleitung versprochen wurde, dass gerade die Wechselbeziehung zwischen konkreten Daseinsformen und den pluriformen Daseinsdeutungen dargestellt werden soll. Dann wäre es aber angebracht, darauf hinzuweisen, dass die Menschen damals ihre Zeit keineswegs als »Spätmittelalter« wahrnahmen, sondern dass dieser Be­griff eine viel spätere Deutung dieser Epoche ist. Entsprechend wäre es auch angebracht, über mancherlei andere Begriffe zu re­flektieren. So spricht der Vf. beispielsweise von Homosexuellen, doch dieses Konzept einer andersartigen sexuellen Identität war nicht nur den Menschen im Mittelalter fremd, sondern blieb es noch bis in das 20. Jh. Besonders Bernd-Ulrich Hergemöller hat zeigen können, dass der mittelalterliche Begriff »Sodomiter« eben gerade nicht zur Stigmatisierung von Personen benutzt wurde, sondern rein technisch Menschen bezeichnete, die sich unerlaubter Sexualpraktiken bedienten.

Zweitens fragt man sich, für welches Publikum dieses Buch überhaupt geschrieben wurde. Einerseits ist der Text leicht verständlich geschrieben und kommt ohne Fachtermini und Verweise auf den Wissenschaftsdiskurs aus. Andererseits werden aber Personen, Gruppen und Begriffe in den Text eingestreut, die ein unkundiger Leser sich erst unter Zuhilfenahme eines Lexikons erschließen muss, um überhaupt zu verstehen, welche Rolle sie hier spielen. So tauchen etwa im Kapitel zur politischen Herrschaft in den französischen Ländern unvermittelt die Albigenser auf (37), ohne dass darauf verwiesen würde, dass diese mit den unter »Soziale Protestbewegungen« genannten Katharern (48) identisch sind, ja auf S. 49 erscheint es gar so, als seien Katharer und Albigenser unterschiedliche Gruppen gewesen.

Drittens, wenn man schon darauf verzichtet, neuere Forschungsergebnisse und -debatten innerhalb des Textes zu verhandeln, so wäre es doch hilfreich, wenn in den Anmerkungen, oder zumindest in der Liste der weiterführenden Literatur (die tatsächlich nicht viel mehr als die Auflistung der in den Anmerkungen genannten Literatur ist, also keineswegs weiterführend), neuere Forschungsliteratur aufgeführt wäre. Tatsächlich werden hier aber nur generelle Überblicksdarstellungen, vornehmlich aus den 1980er und 1990er Jahren, genannt, die in vielen Fällen eben nicht mehr den aktuellen Kenntnisstand der Wissenschaft widerspiegeln. Das hat natürlich auch Konsequenzen für die Darstellung. Um nur ein Beispiel herauszunehmen: Dass vor allem kräuterkundige Frauen, Heilerinnen und Hebammen als Hexen verfolgt wurden (132), ist ein Mythos, den die neuere Hexenforschung spätestens seit den 1990er Jahren mehr als deutlich widerlegen konnte.

Viertens ist Grabner-Haiders Beitrag zwar durch Kapitel und Unterkapitel gegliedert, doch innerhalb der Kapitel lassen die Tex­te beinahe jegliche Struktur vermissen, was nicht nur immer wieder zu Redundanzen führt (so gibt es etwa zwei nahezu identische Kapitel »Soziale Protestbewegungen«, siehe 48–51 und 124–128), sondern den Leser auch ratlos lässt, was denn die einzelnen Sätze innerhalb eines Absatzes miteinander zu tun haben. Wiederum nur ein Beispiel (38): »Die beiden Universitäten in Cambridge und Oxford waren mit einander in Konkurrenz, dort wurden viele Juris­ten, Theologen, Mediziner und Naturforscher ausgebildet. So wurde England von einem starken Parlament mitregiert, dort sind deutliche Ansätze zu demokratischen Entscheidungen zu erkennen.«

Fünftens ist dieser Beitrag für einen theologisch oder christlich vorgebildeten Leser kaum zu ertragen. Der Vf. hat offensichtlich zwei Feindbilder: Die Theologen und Kleriker des Mittelalters und die Theologen und Historiker der Gegenwart. Die Ersteren hätten dem einfachen Volk das Leben im wahrsten Sinne des Wortes zur Hölle gemacht und die »alten Volkskulturen« beziehungsweise »Volksreligionen« (etwa 43 und 52) auszurotten versucht, auch wenn natürlich das Volk und die Gebildeten trotzdem weiter an diesem Erbe festgehalten hätten. Die Zweiten machen dort im Grunde weiter, indem sie die negativen Seiten der christlichen Re­-ligion bis heute verniedlichen, verharmlosen und relativieren (so etwa 26 und 133). Während es einerseits lobenswert ist, dass der Vf. versucht, gerade auch die nichtchristlichen und sogenannten Randgruppen in den Blick zu nehmen, ist es doch mehr als bedauerlich, dass er dafür das Christentum diskreditieren zu müssen meint. Stattdessen hätte er viel konsequenter und eben auch auf dem neuesten Kenntnisstand der Forschung die paganen Überreste innerhalb der christlich geprägten Kultur herausarbeiten können und auch die Beziehungen zu Andersgläubigen innerhalb Europas in den Mittelpunkt rücken müssen. Immer mal wieder die Juden zu erwähnen, reicht meiner Meinung nach nicht aus.

Einen Lichtblick gibt es immerhin: Die beiden anderen Beiträge von Maier und Prenner sind gut lesbare, vernünftig gegliederte Übersichtsdarstellungen, die für einen unkundigen Leser sicherlich als Einführung in die Thematik hilfreich sein dürften. Nur stehen sie leider isoliert und können so den ersten Teil nicht mehr aufwerten.

So kann dieses Werk leider nicht einlösen, was es am Anfang versprochen hat. Völlig unsystematisch wird im ersten großen Hauptteil im Grunde nur das dargestellt, was man auch in vielen anderen Überblickswerken zum Spätmittelalter finden kann, allerdings hier mit einer gehörigen Portion Christentumsschelte. Dass es auch gelingen kann, andere Religionen und Religionsformen in eine Geschichte des Spätmittelalters einzubeziehen und so die Meister­erzählung von der mittelalterlichen Einheitskultur zu dekonstruieren, beweist Bernd Schneidmüller in seinem Buch »Grenz­erfah­rung und monarchische Ordnung« von 2011, das dem Leser anstelle des hier rezensierten Buches nur wärmstens empfohlen werden kann.