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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

210–212

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Rüpke, Jörg, and Gregory D. Woolf [Eds.]

Titel/Untertitel:

Religious Dimensions of the Self in the Second Century CE.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XI, 299 S. = Studien und Texte zu Antike und Chris­tentum, 76. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-152243-7.

Rezensent:

Katharina Greschat

Der hier zu besprechende Band ist das Ergebnis einer Konferenz zum Thema, die im Jahre 2010 im Erfurter Augustinerkloster stattgefunden hat, um einen Aspekt der von der DFG geförderten Forschergruppe am Max Weber Kolleg, welche sich insgesamt mit Prozessen religiöser Individualisierung in historischer Perspektive beschäftigt, etwas näher zu beleuchten. Seinerzeit wollte Michel Foucault in seinem berühmten Werk Le souci de soi von 1984 eine ganz neue Sicht auf das Individuum in der Zeit zwischen Hellenismus und Spätantike erkannt haben und löste damit eine intensive Forschungsdebatte aus, bei der die Religion jedoch nicht un­-bedingt im Mittelpunkt der Betrachtung stand. Insofern liegt es nahe, dass sich das Forscher-Kolleg nun genau diese Fragestellung vorgenommen und sich dabei in etwa auf das 2. Jh. konzentriert hat und philosophiegeschichtliche, literaturwissenschaftliche und religionswissenschaftlich-theologische Zugangsweisen miteinander verknüpft.

Den Anfang machen zwei hochinteressante Aufsätze zur philosophischen Tradition (Eran Almagore, »Dualism and the Self in Plutarch’s Thought«, 3–22, und Jula Wildberger, »Delimiting a Self by God in Epictetus«, 23–45), die – wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise – betonen, dass das Selbst bei Plutarch und Epiktet nichts Statisches, sondern im Entstehen begriffen ist: »[…] contin­ually constructing, maintaining and defining themselves through each single decision about where to set up the border between in­-side and outside and whether that which is presented to them from outside belongs to them or not« (43).

Das ist auch für den zweiten Abschnitt, überschrieben mit »Religious Concepts of the Self«, leitend, der mit einem Aufsatz von Jörg Rüpke (»Two cities and one self: Transformations of Jerusalem and reflexive individuality in the Shepherd of Hermas«, 49–65) eröffnet wird. Rüpke will die Suche nach dem Selbst jedoch nicht allein auf Selbstkonzeptionen oder die Seele beschränkt wissen und bezieht deshalb auch institutionalisierte Selbstreflexionen, die ihren Ausdruck in textlich gefassten Bildwelten wie dem Gegensatz und Zusammenspiel der Städte Rom und Jerusalem finden, in seine Überlegungen mit ein. Seiner Interpretation nach wird im Hirt des Hermas das zerstörte Jerusalem nicht wie im Diognetbrief durch die Vorstellung einer himmlischen Stadt transformiert, sondern durch den Bau einer Stadt bzw. eines Turms, der durch das Verhalten des Einzelnen voranschreitet: »The transcendent tower was above all an instrument in the shaping of the self, it was a tower in the making.« (61) Um das Verhalten, ganz konkret um Kleidung als Mittel der Selbstdarstellung bei Clemens Alexandrinus, geht es bei Harry O. Maier, (»Dressing for Church: Tailoring the Christian Self through Clement of Alexandria’s Clothing Ideals«, 66–89). In seinen Augen formuliert Clemens jedoch nicht nur eine Kleiderordnung, sondern einen enormen Anspruch: »the possibility for a new arrangement of the subject, reconfigurated for a new institutional reality that would in due course be of enormous value to the state even as it would in the end transfigure it« (86). Hingegen untersucht Christoph Markschies (»Das ›Selbst‹ in der valentinianischen Gnosis«, 90–103) die Zuordnung von menschlicher Natur, Körper und Seele im Sinne einer Konstitution der personalen Identität in der valentinianischen Gnosis und kommt zu dem Ergebnis, dass hier die Wahlfreiheit der Seele die personale Identität gewährleistet. Wie kaum anders zu erwarten, lassen sich die berühmten ersten Kapitel von Justins Dialog mit Tryphon auch für Anders Klos­tergaard Petersen (»Justin Martyr in Search of the Self«, 104–129) nicht als modern individuelle Selbstsuche begreifen, vielmehr funktioniert er als soziales und literarisches Konstrukt: »The Justin of the Dialogue is a literary self in pursuit of true philosophy conceived of as revealed wisdom selected in deliberate action by par­-ticular self, and open to be chosen by other self-assured selves.« (127) Das »Erkenne dich selbst« des delphischen Orakels wird auch in der hermetischen Literatur thematisiert, die von Anna Van den Kerchove (»Self-affirmation and Self-negation in the Hermetic revelation treatises«, 130–145) analysiert wird, wobei sie sich auf »the uses, implications and transformations of the reflexive heauton« (131) bezieht, weil »none of the Greek terms psyché, noûs, logos, as well as the Latin words anima, animus evoke the idea of any relation to oneself which is underlying in the use of the French soi and the English Self« (ebd.). Den Abschluss des 2. Abschnitts bildet Richard Gordon (»Individuality, Selfhood and Power in the Second Century: The Mystagogue as Mediator of Religious Options«, 146–172), der ausgehend von der Figur des Mystagogen in Max Webers Religionssoziologie dessen Funktion und Rolle als die eines religiösen Unternehmers beschreibt, der unterhalb der »high-profile relig­ious offices largely monopolised by the politico-social élites of cities and metropoleis« (148) agierte. Ein Xanthos von Sounion oder auch die Figur des Alexander bei Lukian beanspruchten die Rechte und die Autorität, die Priestern der Polis zuerkannt wurden, was auf lange Sicht zur Ausbildung eines gleichsam mystagogischen Selbst führte.

Mit Lukian ist dann auch der Bogen zu den »Second Sophistic Perspectives« geschlagen, wobei Wolfgang Spickermann (»Philo­-sophical Standards and Individual Life Style: Lucian’s Peregrinus/ Proteus – Charlatan and Hero«, 175–191) herausarbeitet, wie der Peregrinus auf dem Hintergrund der Heraklesimitation auf litera-rischer Ebene als unglaubwürdig hingestellt wird. Die Topoi der körperlichen Erscheinung – insbesondere was Alter und Haar­-tracht anbelangt – werden genutzt, wie Dorothee Elm von der Osten (»Habitus Corporis: Age Topoi in Lucian’s Alexander or the False Prophet and The Apology of Apuleius«, 192–217) anschaulich zeigt, um die Figur des Alexander als eigenständiges religiöses Selbst zu desavouieren, dessen Erscheinungsweise ebenso wenig wie seine Taten dem philosophischen Ideal entsprechen.

Mit den »Practices of the Self« schließt der Band. In einem höchst interessanten Aufsatz macht Zuzsanna Várhelyi (»Self-Care and Health-Care: Selfhood and Religion in the Roman Imperial Elite«, 221–242) plausibel, dass die philosophische – insbesondere stoische – Selbstsorge (Foucault) zu Beginn der Kaiserzeit durch eine religiöse Sorge um die Gesundheit ergänzt wurde. Kleinere Gruppen nahmen sich vermutlich die Sorge für das Wohl des Kaisers zum Vorbild: »It was among individuals within such small groups that certain second-century selves emerged transforming and trans­-formed by the ancient religion of their times.« (240) Hingegen führt Elena Muñiz Grijalvo (»Votive Offerings and the Self in Roman Athens«, 243–258) den deutlichen Rückgang von Votivgaben an Athena in hellenistischer und römischer Zeit auf den Wandel der religiösen Rahmenbedingungen zurück, die Einfluss auf die persönliche Frömmigkeit der Einwohner einer griechischen Polis nahmen. Zum Schluss kommt Peter Gemeinhardt (»Wege und Umwege zum Selbst: Bildung und Religion im frühen Christentum«, 259–277) noch einmal auf den schon zu Beginn angesprochenen prozessualen Charakter der Selbstwerdung zu sprechen, indem er am Beispiel von Justin, Tertullian, den Pseudoklementinen und Origenes die sehr unterschiedlichen Wege der Bildung eines nunmehr religiös-christlichen Selbst im langen 2. Jh. beleuchtet.

Dieser schöne und überaus anregende Band, der hoffentlich einen großen Leserkreis über die Fachdisziplinen hinweg finden wird, verdankt sich auch der Tatsache, dass das Selbst in den untersuchten Texten offenbar keineswegs so einfach zu finden ist. Daher stehen hier Untersuchungen über die Seele, über reflexive Aussagen und über literarische Konstruktionen in Auseinandersetzung und Beziehung zu anderen gleichberechtigt nebeneinander.