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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

205–207

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rothschild, Clare K.

Titel/Untertitel:

Hebrews as Pseudepigraphon. The His­-tory and Significance of the Pauline Attribution of Hebrews.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XVII, 287 S. m. Abb. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 235. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-149826-8.

Rezensent:

Markus-Liborius Hermann

Die Hebräerbriefstudie von Clare K. Rothschild sucht Geschichte und Bedeutung der bis in die Reformationszeit angenommenen paulinischen Autorschaft des Hebräerbriefs zu beleuchten. Ihr Anliegen ist nicht, die paulinische Autorschaft des Hebr zu erweisen. Ausgehend von der Originalität des Postscripts (Hebr 13,20–25) versucht die Studie vielmehr gegen H. Attridge u. a. aufzuzeigen, dass eine kategorische Ablehnung von Beziehungen zwischen dem Hebr und Paulus nicht haltbar ist. In der Linie der von W. Wrede 1906 vorgeschlagenen Argumentation, jedoch über sie hinausgehend, argumentiert R., dass der Verfasser des Hebr das Postscript in Anlehnung an Paulus gestaltet habe, um den Text als einen paulinischen Gefängnisbrief auszugeben (4). Dies sei die ureigene Intention des unbekannten frühchristlichen Verfassers, der sein Schreiben dem bereits existierenden corpus Paulinum zuordnen wollte. Der Hebr wäre somit ein pseudepigraphes Schreiben, das in Ergänzung und Korrektur des paulinischen Werkes verfasst wurde. R. versucht zu zeigen, dass die paulinische Autorschaft trotz fehlender Autorenangabe und zahlloser stilistischer Unterschiede bis zur Reformation nicht ernsthaft infrage gestellt wurde. Der so be­schriebenen Strategie des Verfassers war für R. in der Rezeptionsgeschichte Erfolg beschieden.

Nach einer Einführung (1–14) widmet sich die Studie in Kapitel 2 (15–44) der Frage der frühen Rezeptionsgeschichte des Hebr. Dabei lehnt R. die in der Forschung vielfach angenommene Ablehnung des Schreibens im Westen, die erst durch Augustinus und Hieronymus im späten 4. Jh. n. Chr. ihr Ende genommen hat, ab. In der Konsequenz sieht sie im Fehlen des Hebr im Kanon Muratori lediglich ein Argument ex silentio. Auch belege die Auslassung des Hebr in der Liste der Paulusbriefe, wie sie Eusebius im Blick auf den römischen Presbyter Gaius überliefert, eher die generelle Auffassung des Westens, dass Paulus der Autor des Hebr sei und dieser trotz seiner augenfälligen Besonderheit als Teil des corpus Paulinum angesehen wurde. R. verneint dabei zwar nicht die Diskussion über die paulinische Autorschaft im Westen und im Osten, doch kann sie die vielfach nachgewiesene zögernde Annahme des Hebr durch die lateinische Kirche nicht ernsthaft ausräumen. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der Hebr nicht kanonischen Rang erlangte, »weil er als paulinisch galt, sondern [er] gewann […] paulinischen Rang, weil er kanonisch wurde« (K. Backhaus).

Kapitel 3 (45–62) behandelt aus forschungsgeschichtlicher Perspektive den status quaestionis hinsichtlich der Annahme der paulinischen Autorschaft des Hebr. Im Zuge der Reformation aufkommende Zweifel an der paulinischen Autorschaft führten letztlich zu deren breit vertretener Ablehnung und zur Ansicht, dass die Verfasserfrage letztlich unerheblich für das Verständnis des Schreibens sei. R. sucht nun die lange akzeptierte paulinische Verfasserschaft durch die Untersuchung des Postscripts zu erhellen. Dabei wägt sie die Argumente für eine Ursprünglichkeit und nachträgliche Ergänzung von Hebr 13,20–25 gegeneinander ab und konsta tiert zwei Grundströmungen: Diejenigen, die das Postscript für nachträglich angefügt halten, akzeptierten zwar paulinische An­klänge, lehnten jedoch jede weitere Verbindung zum Rest des Hebr ab. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit befürworten, würden zwar Parallelen zu Paulus anerkennen, deren Bedeutung je­doch letztlich ignorieren, bzw. unterschätzen. R. schlägt eine dritte Möglichkeit vor: originäre Zugehörigkeit des Postscripts und vom Verfasser des Hebr grundsätzlich intendierte Anknüpfung an das corpus Paulinum, kein »eleventh hour attempt to win approval by appeal to apostolic authority« (62).

Kapitel 4 (63–118) behandelt die Frage der literarischen Abhängigkeit des Hebr von Paulus. Dabei kritisiert R. die Annahme von unbekannten und verloren gegangenen Traditionsquellen (117), auf die auch der Hebr zugreifen würde, und bringt stattdessen eine Aufnahme und Imitation paulinischer Texte ins Spiel. So entdeckt die Studie zahlreiche paulinische »Echos« im Hebr, besonders im Postscript. Darüber hinaus sucht und findet R. auch im Rest des Schreibens stilistische und terminologische paulinische Parallelen. »Quantität und Qualität« der zusammengetragenen Parallelen erscheinen ihr als Beleg einer intendierten Pseudepigraphie (116). Für R. wird Paulus im so verstandenen Hebr als gebildeter jüdischer Philosoph dargestellt, »able to think […] about the metaphysical implications of Jesus’ (and Paul’s) death in terms of Jewish cult« (118). Doch trotz der gesammelten Einzelbeispiele, die letztlich auf das Postscript, »a pseudonymous claim« (78), als maßgeblichen Beleg zuzulaufen scheinen, lässt sich eine unmittelbare Nutzung der paulinischen Schriften durch den Verfasser des Hebr nicht nachweisen, wofür nicht zuletzt die sprachliche Analyse spricht. Darüber hinaus gilt auch hier: Eine Analogie bedeutet noch keine Genealogie. Die Parallelen deuten weniger auf einen verarbeiteten Paulus als auf das von R. abgelehnte gemeinsame theologische Milieu und einen gemeinsamen Traditionszusammenhang hin.

Nach einer kritischen Analyse der antiken und modernen Kriterien der Pseudepigraphie wird der Hebr in Kapitel 5 (119–162) dezidiert als ein solches Schreiben bestimmt. Interessant ist dabei, dass R. das corpus Paulinum damit um eine »speech to Jews« (12) erweitert sieht, was den frühchristlichen Wunsch einer Versöhnung der Paulusbriefe mit der Apg erleichtern würde (162). Gattungsmä-ßige Parallelen zwischen der in Apg 13 beschriebenen Rede des Paulus in Antiochia und dem Hebr verweisen jedoch eher auf im Hintergrund liegende Traditionen der synagogalen Predigt. Insgesamt stellt der Hebr für R. ein von einem unbekannten Verfasser an jüdische Adressaten geschriebenes »Testament« des Paulus dar, ein Werkzeug zum Verständnis des gesamten corpus Paulinum, be­sonders des Röm (153).

Abschließend widmet sich Kapitel 6 (163–204) einem Überblick über den rätselhaften Charakter (oracular character) des Hebr und dessen Auslegung prophetischer Texte. Dabei zeichnet sich ab, dass es sich beim Hebr selbst um Prophetie und beim Verfasser des Hebr um einen Propheten handelt (203). Die hierbei von R. konstatierte zu geringe Beachtung von Hebr 1,1–2 lässt sich, zumindest für die deutschsprachige Exegese, nicht halten. Da frühchristliche prophetische Literatur nach D. Aune nie anonym zirkulierte, sei der pseudepigraphe Hebr auch durch seinen prophetischen Charakter Paulus zugeschrieben worden. Abgerundet wird der Gedankengang in Kapitel 7 (205–214) mit einer Betrachtung der Stilfigur der Reductio ad Absurdum: Der Hebr gebraucht diese Stilfigur, so R. aufbauend auf A. Wedderburn, um durch solch »cleverness of argumentation« die zu stark kosmologisch orientierte Theologie des Paulus zu korrigieren.

Die insgesamt verständlich geschriebene Studie beantwortet die Frage der paulinischen Anklänge im Hebr mit einer dezidiert pseud­epigraphisch intendierten Strategie des Verfassers. So bereichert R. nicht allein die Debatte um den Hebr, sie ergänzt auch die Überlegungen zu Funktion und Möglichkeiten der Pseudepigraphie. Doch auch wenn man zu Recht von der Integrität des Schreibens ausgehen kann, wäre eine auf apostolische Autorität abzie-lende pseudepigraphe Absicht des Verfassers »den Lesern der ersten Jahrhunderte nicht aufgefallen« (Backhaus). Dass R. in diesem Zu­sammenhang die Ablehnung des Hebr im Westen als haltlos darzustellen versucht, stützt zwar ihre These, erscheint jedoch nicht ausreichend gesichert. Es sind nicht pseudepigraphe Absichten, die die pauli­nischen »Echos« erklären, als vielmehr die von R. abgelehnten ge­meinsamen Traditionen. Es ist somit weniger der paulinische Schein als die theologische Attraktivität, die dem Hebr einen Platz im biblischen Kanon einbrachte – erneut mit Backhaus: Der Verfasser des Hebr »imitiert weniger Paulus als vielmehr sich selbst«.