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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

203–205

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Oestreich, Bernhard

Titel/Untertitel:

Performanzkritik der Paulusbriefe.

Verlag:

Tü­bingen: Mohr Siebeck 2012. XI, 305 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 296. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-152213-0.

Rezensent:

Christine Gerber

Wie hat ein Brief des Paulus auf die Menschen gewirkt, die dessen Verlesung in der Gemeindeversammlung lauschten? Welche Interaktion mit dem abwesenden Briefverfasser und auch den anderen Gemeindegliedern initiierte die Verlesung eines Briefes? Das hier vorzustellende Buch von Bernhard Oestreich, Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule der Siebenten-Tags-Adventisten in Friedensau, entfaltet theoretisch und an Textbeispielen, dass diese Fragen lohnend sind. Dazu nimmt es das Konzept der Performanz auf, das allseits im Schwange ist, in den Bibelwissenschaften hierzulande allerdings noch wenig Aufmerksamkeit fand. Die Untersuchung widmet sich deshalb in der ersten Hälfte der Theorie (Forschungsgeschichte und Methodik der Performanzkritik), um dann deren exegetische Umsetzung an Beispielen der Paulusbriefe, auch unter Rekurs auf vergleichbare antike Briefe, aufzuzeigen. Das Buch wird durch drei Register erschlossen, die das Manko eines detaillierten Inhaltsverzeichnisses ausgleichen.

Die Performanzkritik an Paulusbriefen greift forschungsgeschichtlich drei Diskurse auf: epistolographische Analyse, rhetorische Analyse sowie den Diskurs über Mündlichkeit in der Kultur des Neuen Testaments, der die in der klassischen Exegese übliche Entgegensetzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit als ethnozentrisches Vorurteil entlarvte. Innerhalb der Paulusforschung führt das Buch den rhetorical criticism und die Diskussion über die Angemessenheit der Analyse von Briefen als Reden weiter. Diese Diskussion verbleibt nach O. letztlich bei der Frage der Textentstehung und wirft eine falsche Alternative auf: Briefe wurden vorgelesen, wurden also erst im mündlichen Vortrag realisiert und sind darin Reden vergleichbar, deren Aufführung (im Rhetorikunterricht unter memoria und actio) besonderes Augenmerk galt.

Anliegen der Performanzkritik biblischer Texte ist, methodisch zu gewärtigen, dass ein Text zur Zeit des Neuen Testaments zur Wirkung kam durch seinen Vortrag und damit anders rezipiert wurde als in unserer Praxis des leisen, auf den Inhalt konzentrierten Lesens. Ein Vortrag ist ein Ereignis in der Kommunikation zwischen Vortragendem, »performer«, der den Text bzw. Verfasser vergegenwärtigt, und Publikum. Und damit sind neben der Mündlichkeit des Mediums weitere Aspekte relevant: zunächst die Körper in der »leiblichen Kopräsenz von Performer und Publikum« (48) und die gesellschaftlichen Konventionen, die die Performance und ihre Rezeption prägen. Auch die Interaktion des Performers mit dem Publikum – Paradigma der Performance-Forschung ist zunächst das Theater – und die Interaktion im Publikum bestimmen die Performance. Antike Quellen belegen, dass die Zuhörer bei Reden und Theateraufführungen lebhaft reagierten. Die Performanz eines schriftlichen Textes wird schließlich geprägt durch »Emergenz« wie »Ephemeralität« (55): Es entsteht im Ereignis des Vortrags nie Dagewesenes spontan – und flüchtig.

Gerade die letzte Feststellung lässt fragen, wie eine fast 2000 Jahre zurückliegende Performanz eines Textes heute analysiert werden kann. Ohne die Grenzen der Performanzanalyse zu verhehlen, will die Untersuchung zeigen, dass die Rekonstruktion »einer möglichen und wahrscheinlichen Performanz« (61) der Paulusbriefe unser Verständnis vertieft, das gewöhnlich eine individuelle Auseinandersetzung mit dem gedruckten Brieftext imaginiert. O. setzt voraus, dass die Konventionen des Briefempfangs in paulinischen Gemeinden (auf die im Neuen Testament nur 1Thess 5,27; Kol 4,16 verweisen; vgl. Apg 15,30–32) denen von »offiziellen, administrativen Briefen von Herrschern oder Beamten vergleichbar sind« (65). Solche Briefe wurden von einem Boten einem Empfänger offiziell überbracht. Der Empfänger bestimmte unter den wenigen Befähigten einen »Performer«, der den Brief im lauten Lesen sorgfältig einstudierte und dann vortrug. Auch das Publikum reagierte bei der Verlesung oft laut und diskutierte anschließend den Briefinhalt. Der Bote konnte Erklärungen beitragen und berichtete später dem Absender von den Reaktionen. Da der gesamte Brief auf einmal verlesen wurde, werden weniger die Detailfragen, an denen sich die heutige Exegese abarbeitet, als das durch die Performanz Hervorgehobene und die großen Linien der Argumentation wahrgenommen worden sein.

Uns erschließt sich die Performanz freilich nur über die Aspekte, die in den Text eingeschrieben sind. Dazu zählt O. Hinweise des Paulus auf seine Körperlichkeit, etwa sein Alter oder seine Krankheit, die auf die Differenz zwischen Performer und ihm selbst verweisen. Das Hören wird weiter bestimmt von rhetorischen Figuren wie Parallelismen sowie Anreden. Ist der Brief an verschiedene Gruppen adressiert, kann das durch den Performer gestisch unterstrichen werden, um die Interaktion im Publikum anzuregen. Von Interesse sind schließlich Hinweise, die den Vortragenden oder den Verfasser in seiner sozialen Rolle stärken. 1Clem 47,1–4 zeigt, dass die Paulusbriefe in Korinth wiederholt vorgetragen wurden; es besteht also die Möglichkeit, dass der Brief seine wiederholte Performanz bereits unterstellt.

Beispielhaft zeigt die Untersuchung an Briefpassagen, wie die Wirkung des mündlichen Vortrags im Text Berücksichtigung findet. Die Briefe konnten unterschiedliche Gruppen der Adressatenschaft ansprechen, um so Gruppenprozesse zu provozieren. Unterstellt wird dabei, dass die Sitzordnung des Publikums die Gruppen abbildete, der Performer also die unterschiedlichen Adressen inszenieren konnte. Diese werden im Anschluss an G. Simmel durch Grafiken verdeutlicht (87–122, z. B. Phil 4,2–3 als Strategie des »di­-vide et impera«). Aussagen, die die Differenz zwischen der Performanz und der Person des Paulus und seiner Abfassungssituation sichtbar machen (122–136; Phlm 8–9; 1Kor 5,3; Gal 5,13–20; 6,17), werden interpretiert als gewollter Verfremdungseffekt, der zur eigenständigen Bewertung der Performanz provoziert. Schließlich wird analysiert, wie einzelne Passagen auf die Interaktion des Publikums untereinander wirken. Dem Text sind einerseits Strategien eingeschrieben, eine gespaltene Gemeinde zur Versöhnung zu motivieren (137 ff. zu Röm 14 f.; 1Kor 12). In Röm 14–15,13, der Reaktion des Paulus auf einen Streit zwischen zwei Gruppen in Rom um Speisen, wird die Strategie des Paulus erkennbar, wechselweise eine Gruppe kritisch anzusprechen und sich dabei mit der anderen zu solidarisieren, um das gegenseitige Verständnis zu wecken (137–171). Anderseits dienen die Briefe dazu, Abgrenzungen von Gegnern zu realisieren. Gezeigt wird dies neben 1Clem am Galaterbrief, wobei unterstellt wird, dass die Gegner Judenchristen innerhalb der Gemeinden seien (206–234).

Mangels Zeugnissen der Resonanz dieser Briefe bleibt auch diese Studie letztlich bei der Textentstehung stehen, zuweilen noch verengt auf die Frage nach der Autorenintention. Ihr wichtiger Beitrag liegt vor allem darin, den Briefempfang in den Mittelpunkt zu stellen und damit rhetorische und argumentative Strategien, die auch sonst in der Exegese wahrgenommen werden, als performative Akte des Paulus an den Gemeinden, gerade auch an divergenten Gruppen sichtbar zu machen. Zwar geht das zuweilen nur durch Vereinfachung. Die Imagination der Gruppen rechnet nicht mit Statusinkonsistenzen oder der Relevanz von Geschlechterunterschieden. Briefteilungshypothesen werden übergangen, die Rolle von Mitabsendern meist ignoriert. Zu fragen wäre auch, wie sich die briefliche Performanz zu den Besuchen des Paulus verhielt, wird doch in 2Kor 10,10 die Kritik überliefert, dass Paulus’ persönliche »performance« hinter dem starken Eindruck seiner Briefe zurückbleibe. Unbenommen solcher Anfragen aber ist die Studie sehr interessant und wird weitere Diskussionen anregen, gelingt es ihr doch – auch die stille Lektüre eines Buches kann ja performativ wirken –, die Paulusbriefexegese am Schreibtisch aus den gespurten Bahnen zu lenken.