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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

184–186

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Keßler, Martin, u. Martin Wallraff[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftsgeschichtliche Studien. Aus Anlass der 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend.

Verlag:

Basel: Schwabe 2008. 402 S. m. Abb. = Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel. Neue Folge, 5. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-7965-2569-8.

Rezensent:

Thomas K. Kuhn

Im Jahr 1958 erschien in Basel die Dissertation des späteren Göttinger Alttestamentlers Rudolf Smend, die er nach seinem Studium in Tübingen, Göttingen und Basel angefertigt hatte. Seine Studie »Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und Neuen Testament« war auf Antrag der Professoren Walter Baumgartner und Ernst Staehelin am 29. Dezember 1958 von der Basler Theologischen Fakultät als Dissertation angenommen worden, nachdem gut zwei Wochen zuvor das Rigorosum erfolgt war. Dem zu Beginn der 1950er Jahre geäußerten Wunsch Albrecht Alts, Smend möge doch eine Ar­beit über etwas Ugaritisches oder Aramäisches schreiben, hatte dieser somit nicht entsprochen, sondern sich – wie er selbst 2001 rück­blickend formulierte – »von der Aussicht auf Schweizer Franken verlockt«, über »einen jener Basler Giganten« hergemacht. Hinter grund dieser Entscheidung war ein wissenschaftliches Preisausschreiben, das die Basler Chemiefirma J. R. Geigy A. G. anlässlich ihres 200-jährigen Geschäftsjubiläums im Januar 1955 ausgeschrieben hatte. Das Thema für die Theologen lautete zunächst: »Das theologische Lebenswerk von Wilhelm Martin Leberecht De Wette«. Elf Bewerber meldeten ihre Teilnahme an. Als die meisten jedoch vor der umfänglichen Thematik kapitulierten und ihre Mitwirkung zurückzogen, wurden drei Teilthemen ausgeschrieben. Hier begegnet auch das Thema, welches schließlich Smend bearbeiten sollte. Paul Handschin untersuchte als zweiter verbliebener Teilnehmer »Wilhelm Martin Leberecht de Wette als Prediger und Schriftsteller« (Basel 1958). Da beide Arbeiten die Juroren überzeugen konnten, teilte man das Preisgeld auf. Beide Arbeiten wurden gedruckt und schließlich auch als Dissertationen angenommen. Bei Smend hätte allerdings auch ein anderer Beitrag zur Promotion befördert werden können. Denn er hatte etwa zeitgleich an einem anderen Wettbewerb teilgenommen und war dort ebenfalls für seine 1959 in Tübingen erschienene Arbeit »Das Mosebild von Heinrich Ewald bis Martin Noth« ausgezeichnet worden.

Mit dem von Smend erwähnten »Giganten« ist der aus dem thüringischen Ulla stammende Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849) gemeint, das lange Zeit führende Haupt der Basler Fakultät. Seine 1822 erfolgte Berufung hatte in Basel zunächst eine heftige öffentliche Debatte entfacht. Man rieb sich nicht nur an de Wettes theologischem Freisinn, sondern hegte auch politische Vorbehalte. In Berlin war ihm wegen angeblich »demagogischer« Um­triebe die Lehrbefugnis entzogen worden, und ihm eilte der Ruf voraus, einen radikalen Liberalismus zu vertreten. Doch de Wette arrangierte sich schließlich recht zügig mit den Basler Verhältnissen und erwarb sich nicht allein hohes fachwissenschaftliches Ansehen, sondern auch bildungs- und universitätspolitische Meriten. Als Exeget trat de Wette vor allem als wegweisender Pentateuchkritiker in Erscheinung. Das erkenntnisleitende Prinzip seiner exegetischen Arbeiten ist, nach dem Werden der Bibel zu fragen, nach den jeweiligen geschichtlichen Verhältnissen und Eigentümlichkeiten. Nur im Licht der Geschichte kann für de Wette der biblische Text seine Gestalt gewinnen.

Smend legte mit seiner Dissertation eine bis heute wichtige Un­tersuchung über de Wette vor. Zudem veröffentlichte er ebenfalls 1958 einen Aufsatz zum Thema »De Wette und das Verhältnis zwischen historischer Bibelkritik und philosophischem System im 19. Jahrhundert«. In neuerer Zeit wandte er sich de Wette in seinem 1989 erschienenen Band »Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten« zu.

Über die äußere Entstehungsgeschichte von Smends Dissertation und das Preisausschreiben der Ciba AG berichtet Martin Keßler zu Beginn der Festschrift, die »aus Anlass der 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend« von demselben und Martin Wallraff herausgeben wurde. Keßler zeichnet diesen bemerkenswerten hochschulpolitischen Vorgang minutiös nach und konnte dafür auch Akten der Firma Ciba konsultieren.

Der Band versammelt insgesamt 15 wissenschaftsgeschichtliche Beiträge aus unterschiedlichen – vornehmlich theologischen – Disziplinen. Da es die akademischen Gepflogenheiten nicht zuließen, die enge Verbindung von Rudolf Smend mit der ihn seinerzeit promovierenden Fakultät durch einen ehrenhalber verliehenen Doktortitel zu dokumentieren, wählte die Basler Fakultät den Weg, ihre Hochachtung durch diese Aufsatzsammlung zu bekunden. Ihr thematischer Fokus ist die Geschichte vom Einzug der Geschichte in die Theologie oder, um es mit Andreas Urs Sommer zu formulieren: »Theologie und Geschichte sind zur Geschichte verurteilt« (37). Sommer stellt anregende »Überlegungen zu disziplinären Selbsthistorisierungspraktiken« in Theologie und Philosophie an. Es folgt eine umfangreiche Studie zu »Jan Hus und die frühe Reformation« von Thomas Kaufmann. Das »Mosebild im Handbuchwissen der Frühen Neuzeit« zeichnet Christoph Bultmann umsichtig nach. Günter Arnold bietet die Edition eines Exzerpts aus dem Herder-Nachlass (Spinoza von den Propheten). Ein thematischer Schwerpunkt ist ferner der von Smend untersuchte Basler Theologe de Wette, mit dem sich neben Hans-Peter Mathys auch John W. Rogerson und Ekkehard W. Stegemann beschäftigten. Letzterer geht in seiner Studie der Frage nach »Zweck und Veranlassung des Römerbriefes« bei de Wette und Ferdinand Christian Baur nach. Die Entwicklung der Gattung Dogmengeschichte bis zu Baurs »Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte« (1847) rekonstruiert Martin Wallraff. Mit dem be­deutenden Alttestamentler Julius Wellhausen beschäftigen sich zwei Beiträge: Zum einen beschreibt der Alttestamentler Uwe Becker Wellhausens Sicht des Judentums, zum anderen stellt der Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker Julius Wellhausens Schrift »Reste arabischen Heidentums« (1887) vor. Otto Merk untersucht die Forschungsgeschichte im Werk Adolf Jülichers, während Konrad Schmid unter dem Titel »Die Geschichte vom Sündenfall zwischen historischer Bibelkritik und Theologie« eine »Kontroverse zwischen Ludwig Köhler, Emil Brunner und Hugo Greßmann aus dem Jahr 1926« rekonstruiert. Abschließend bietet aus systematisch-theologischer Perspektive Michael Trowitzsch »Bemerkungen zur Metaphorik bei Bonhoeffer und Barth« und der Politikwissenschaftler Hans Maier fragt danach, ob es ein christliches Menschenbild gibt.

Den sorgfältig gestalteten Band beschließen ein Personenregister und ein Autorenverzeichnis (hier wäre Uwe Becker zu ergänzen). Leider fehlt dem lesenswerten Band eine weitergehende thematische Einführung, die einerseits die als Leitlinie genannte wissenschaftsgeschichtliche Thematik des Bandes wie die Person des Geehrten samt seines Werkes hätte explizieren können. Zudem fällt auf, dass die einzelnen Beiträge doch in sehr unterschiedlicher Dichte die Thematik der Festschrift aufgreifen. Für die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Bibel, Geschichte und Theologie bieten sie jedenfalls reiches Material.