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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

179–181

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Olmer, Heinrich C.

Titel/Untertitel:

Wer ist Jude? Ein Beitrag zur Diskussion über die Zukunftssicherung der jüdischen Gemeinschaft.

Verlag:

Würzburg: Ergon-Verlag 2010. 243 S. = Judentum – Christentum – Islam, 8. Geb. EUR 34,00. ISBN 978-3-89913-821-4.

Rezensent:

Walter Homolka

Der langjährige Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg, der Pädagoge Heinrich Olmer, hat sich in seiner Dissertation (Betreuer: Susanne Talarbadon; Heinz-Günther Schöttler) mit der Frage nach der Zugehörigkeit zum Judentum auseinandergesetzt. Er tut dies ganz sachlich und auch mit Blick auf die Praxis seiner eigenen Gemeinde, die dem Großteil der Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft Aufnahme in der Bundesrepublik fanden, die Mitgliedschaft in den Kultusgemeinden der halachischen Tradition wegen verwehrt.

Die Antwort auf die Frage »Wer ist Jude?« fällt dank der halachischen Definition scheinbar leicht: Die Rabbinen regelten diese Frage zur Zeit der Mischna mit dem Prinzip der Matrilinealität. Dass in biblischer Zeit aber noch die väterliche Herkunft ausschlaggebend war, können wir in der Tora nachlesen, etwa anhand der Geschlechterfolgen im Wochenabschnitt Toledot. Als das jüdische Volk jedoch nach seinen verlustreichen Aufständen im 1. und 2. Jh. gegen die Römer ohne Land, König, Tempel und Priesterstand war, wurden Tora, Talmud und die sichere mütterliche Abstammung zu Garanten für die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft. Noch im Babylonischen Talmud wurde aber diskutiert, dass die Familie des Vaters als Familie eines Kindes anzusehen sei (bBB 109b). Die neu eingeführte Matrilinearität folgte wiederum dem römischen Personenrecht.

Heute, gut 2000 Jahre später, ist es die jüdische Gemeinschaft in der Diaspora, die vor ähnlich großen demographischen Problemen steht. Die Anzahl der Mitglieder jüdischer Gemeinden in Deutschland sinkt; Julius H. Schoeps hat vorgerechnet, dass es von derzeit gut 110 jüdischen Gemeinden in knapp 30 Jahren zwei Drittel nicht mehr geben wird. Für wie viele Juden ist die traditionelle Halacha heute aber überhaupt noch ein verbindlicher Lebensweg?

Wenn O. über die Integration russischsprachiger Juden in den Jüdischen Gemeinden zu dem Urteil kommt, es gehöre zu den zentralen Erfahrungen der russischsprachigen Zuwanderer in Deutschland, dass sie durch die Immigration mit einer anderen Definition einer kollektiven jüdischen Identität konfrontiert seien, dann ist dies nichts Neues. Das Spannungsverhältnis zwischen Religionsgemeinschaft und ethnischer Abstammung ist leider hinreichend bekannt. Bemerkenswert sind aber die Konsequenzen, die O. aus seinem Befund zieht: Er folgert, dass nur die unbedingte Gleichsetzung von Patrilinearität und Matrilinearitat die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in der Diaspora sichern kann.

Dass diese Gleichsetzung biblisch verankert und hermeneutisch möglich ist, untermauert er und schlägt einen kenntnisreichen Bogen von der frühbiblischen Periode über die Zeit von Esra und Nehemia bis hin zur seleukidischen und herodianischen Ära und schließlich zur Zeit der Mischna und der Entstehung des normativen Judentums. Daneben kommen Fragen rabbinischer Hermeneutik ebenso zur Sprache wie die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft hin zu ihrer heutigen religiösen Vielfalt. Angesichts einer zunehmenden Säkularisierung, einer niedrigen Geburtsrate und einer hohen Rate sogenannter Mischehen mit nichtjüdischen Partnern kommt O., seit 2001 auch Direktoriumsmitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, zu dem Schluss, dass für eine Zukunftssicherung der jüdischen Gemeinschaft weit mehr nötig sei als die von der Orthodoxie halachisch verankerte und nur von einer Minderheit gepflegte Orthopraxie, also ein toratreues Handeln oder eine buchstäbliche Umsetzung der Mizwot. Es geht ihm also nicht allein um besondere Giur-Kurse für sogenannte Vaterjuden, wie sie etwa die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschlands anbietet. Seine Forderung, die mütterliche Herkunft um die väterliche beziehungsweise ethnische Herkunft als gleichberechtigte »primordiale Codierung« für die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft zu ergänzen, ist pragmatisch, aber eben auch aus der Tradition geschöpft.

Bemerkenswert ist, dass hier ein Gemeindefunktionär und nicht etwa eine Rabbiner- oder Kultuskommission Wege für einen inklusiven Umgang mit ethnischen Juden aufzeigt. Der 2012 verstorbene O. macht in seiner über 200 Seiten starken Dissertation deutlich, dass es nicht eine bloße Statusänderung braucht, um die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft zu sichern, sondern vor allem jüdische Bildung und Erziehung durch charismatische Lehrer und Rabbiner. Er zitiert daher am Ende seiner anschaulichen Arbeit den Präsidenten des Abraham Geiger-Kollegs Rabbiner Walter Jacob und dessen Forderung nach einem »starken Bande von Erinnerung und Tradition, verbunden mit der Fähigkeit, eine jüdische Welt zu schaffen und zu denken, die uns mit der Vergangenheit verknüpft, aber bereit ist, eine Zukunft anzunehmen, die wir uns noch nicht vorstellen können«. Diese Forderung ist O.s Vermächtnis.