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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

176–178

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Dober, Hans Martin, u. Matthias Morgenstern [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion aus den Quellen der Vernunft. Hermann Cohen und das evangelische Christentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XVI, 258 S. = Religion in Philosophy and Theology, 65. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-151951-2.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Der Sammelband ist als wissenschaftliche Dokumentation einer Tagung entstanden, die im September 2011 von den Herausgebern mit dem Seminar für Religionswissenschaft und Judaistik unter Beteiligung des Lehrstuhls für Praktische Theologie I in Zusam­menarbeit mit der Hermann Cohen-Gesellschaft (Zürich) an der Universität Tübingen veranstaltet wurde. Bereits im Vorwort wird betont, dass Hermann Cohens erst post mortem erschienenes Spätwerk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums »nicht nur aus einer profunden Kenntnis der jüdischen Tradition, sondern auch aus einer intensiven Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie seiner Zeit, insbesondere in ihrer protestantischen Gestalt« hervorgegangen ist. Das Vorwort der Herausgeber hält weitere Forschungen zu Cohens Religion der Vernunft in Kooperation zwischen Judaistik, Philosophie und Theologie be­sonders angesichts neu erschlossener Quellen für wünschenswert.

Unter den drei Gliederungsabschnitten »Die Quellen der Vernunft und des Judentums«, »Zeitgenössische Kontexte in Cohens Auseinandersetzung mit dem evangelischen Christentum« und »Diskurse um die Bedeutung von Cohens Spätwerk für die evangelische Theologie« sind 14 Aufsätze bekannter Forscher veröffentlicht.

Matthias Morgenstern eröffnet den Band mit dem Beitrag »Hermann Cohen und seine Quellen des Judentums«. Dabei setzt er sich mit Paul Natorps Vorwurf auseinander, Cohen sei ungenau und willkürlich mit den jüdischen Quellen umgegangen, und relativiert ihn, wenn Cohen sich in seinem Spätwerk auch nicht unbedingt als Talmudgelehrter erweise. Dass Cohen insbesondere so­wohl am Aufzeigen einer Nähe zum Christentum gelegen sei als auch am Festhalten der Unterschiede, zeigt Morgenstern am Insis­tieren auf der Reinheit des Monotheismus in Cohens Spätwerk. Cohens Abkehr von früheren Positionen z. B. bezüglich der Verlegung des Sabbat auf den Sonntag, den Tag der Auferstehung Chris­ti, dokumentiert Differenz; der Bezug auf die im Vergleich zu den 13 Glaubensartikeln des Maimonides flexibleren Iqqarim des Joseph Albo sowie die geradezu appellarische Präsentation des im Alten Testament gegebenen gemeinsamen Grundes in Richtung Christentum ermöglicht die Feststellung von Nähe. Zur Plausibilisierung dieses Ansatzes präsentiert Morgenstern Verweise auf Albo in der Religion der Vernunft.

Hartwig Wiedebach beschäftigt sich mit der Interpretation des Heiligen Geis­tes im Spätwerk Cohens, der in ihm eine unzulässige Materialisierung und Personifikation des Logos sieht und die Trinitätslehre insgesamt als eine Entgleisung des Hellenismus. Wiedebach arbeitet die Vermittlungsposition des heiligen Geistes bei Cohen heraus, Gottes und des Menschen Geist treffen sich in der Vernunft, insofern sei auch der menschliche Geist ein heiliger Geist. Zur Entdeckung komme der heilige Geist nur am Problem der Sünde. Deshalb stellt Wiedebach die These auf, Cohen entwickele seine Theorie des heiligen Geistes an der Gebetserfahrung der gottesdienstlichen Gemeinde am Jom Kippur.

Édouard Robberechts zeigt in seinem Aufsatz »Das Opfer des Opfers bei Hermann Cohen« dessen Anlehnung an Kant in der Bezogenheit des Gottesgedankens auf das Ethische, wobei für Cohen der Gottesgedanke nicht einfach nur ein Garant für das moralische Handeln und dessen Dauer sei, sondern auch »Bürge für den Fortbestand der physischen und geschichtlichen Welt«. Die Opferkritik des Alten Testaments und das Ersetzen des Opfers und seines Ritus durch das Gebet gehen in diese Richtung.

Im zweiten Kapitel Zeitgenössische Kontexte präsentiert der Sammelband Aufsätze, in denen die Autoren sich mit Cohens Auseinandersetzung mit evangelischer »Vermittlungstheologie«, seiner Opposition gegen pantheistische Positionen der protestantischen Theologie des 19. und frühen 20. Jh.s, seinem Verhältnis zur alttes­tamentlichen Theologie seiner Zeit und zu Julius Wellhausen und Max Weber in Bezug auf den »eminent historischen Charakter jü­discher Prophetie« sowie seinem Verhältnis zu Wilhelm Herrmann in Bezug auf den »frühen Diskurs um die Selbstwerdung des Menschen« beschäftigen.

Myriam Bienenstocks Aufsatz über Cohens Verhältnis zur evangelischen Vermittlungstheologie macht schon durch den Titel deutlich, wo Cohens Distanz zu christlicher Theologie zu suchen bleibt: »Von Angesicht zu Angesicht«, d. h. »ohne einen Mittler«. Cohen sieht die Vernunft als Mittler zwischen Gott und Mensch. Kritik am Christentum läuft in dieser Hinsicht parallel mit der Kritik an Spinoza, dessen rein philosophischen Pantheismus er allerdings lobt. Seine Spinozakritik bleibt traditionstreu und bemängelt am Pantheismus vor allem das Fehlen der ethischen Dimension. Dabei bleibt Cohen gerade dem Protes­tantismus gegenüber ganz offen, was ihm auch die Kritik einbrachte, ein protestantisches Judentum zu vertreten.

Walter Sparn zeigt im anschließenden Beitrag, dass auch die protestantische Theologie um eine richtige Einschätzung des Pantheismus ringt, in dem zwar Schleiermacher »eine nothwendige Ergänzung der Personification Gottes« sieht, der jedoch wie bei Cohen in Ermangelung der sittlichen Komponente insgesamt kritisch gesehen wird. Interessant sind in diesem Beitrag vor allem die theologiegeschichtlichen Ausführungen. Er gewährt einen Einblick in Cohens teils zustimmende, teils kritische Sicht der alttestamentlichen Theo­logie unter Berücksichtigung der Ansätze etwa von Baudissin, Bertholet und Rudolf Kittel sowie auch Troeltsch, bei denen Cohen auch Anerkennung des Judentums findet.

Gerald Hartung vergleicht Cohens Darstellung des historischen Charakters der jüdischen Prophetie mit der bei Wellhausen und Max Weber. Kritisch sieht Cohen ein zu enges Bild des Judentums bei Wellhausen, der es – folgenreich für die evangelische Theologie – auf eine Gesetzesreligion reduziert. Im Zusam­menhang seiner Ausführungen in diesem Abschnitt nimmt Hartung auch Bezug auf Nietzsche. Max Weber betont wie Cohen den historischen Charakter der Prophetie, Cohen verbindet diesen jedoch mit dem Messianismus, indem er bei ihnen die Notwendigkeit analysiert, die weltgeschichtliche Dimension stets neu zu eröffnen.

Peter Fischer-Appelt schließlich zeigt Parallelen und Unterschiede zwischen Cohen und Wilhelm Herrmann auf: In gegenläufiger Bewegung trifft sich das Konzept Herrmanns mit dem Cohens, der Sittlichkeit deduktiv aus den transzendentalen Bedingungen der gesetzgebenden Vernunft ableitet, während Herrmann induktiv und deskriptiv dem apriorischen einen aposteriorischen Ansatz entgegensetzt.

Im dritten Gliederungsabschnitt schließlich befasst sich der Sammelband mit der Bedeutung von Cohens Spätwerk für die evangelische Theologie.

In einem Chiasmus stellt der Beitrag von Jörg Dierken die Religion der Vernunft der Vernunft der Religion gegenüber, indem er vor allem Cohens vernunftge­leiteten Zugang zur Religion kritisch untersucht. Cohen folgt Kant durch die enge Verbindung von Religion und Ethik, er geht mit der Fokussierung des Gottesbegriffs auf die Korrelation zum Menschen über ihn hinaus. Cohen weist aufgrund des strengen Monotheismus den Pantheismus zurück, gleichwohl fragt Dierken, ob nicht sein ethischer Monotheismus notwendig pantheistisch sein müsse. Insgesamt sei Cohens Ansatz nicht frei von rationalis­tischen Überzeichnungen.

Besondere Beachtung verdient sicherlich der Aufsatz von Helmut Holzhey unter dem Titel »Hermann Cohen und der Glaube an Jesus Christus«. Darin setzt sich der Autor auch mit Cohens Konflikt mit Heinrich von Treitschke auseinander, dem er vorhält, dass gerade der israelitische Monotheismus zur reinen Form des Christentums gehöre. Cohen nimmt die Lehre von der Mensch­werdung Gottes als »Humanisierung« der Religion positiv auf, wenn er sich dem Dogma auch nicht anschließt. Allerdings nivelliert er den Unterschied zwischen Judentum und Christentum und schreibt: »Diese Art von Christentum haben wir moderne Israeliten alle, wir mögen es wissen oder nicht.« Während Cohen bis 1914 die Position ausbaut, Religion in Ethik aufzulösen, und damit die göttliche Person Christi stürzt, weitet er später den Religionsbegriff um eine erkenntnislogische und ästhetische Dimension aus. Cohen überwindet auch Kants Differenzierung von Glauben und Wissen.

Heinrich Assel untersucht Namen und Idee Gottes und geht dabei auf Co­hens Kampf gegen den Anthropomorphismus anhand von Ex 3,1–15 ein. Seine Kritik an der Christologie bleibt, wie Assel darstellt, Cohens zentraler Einwand gegen das Christentum.

Friedrich Lohmann schließlich versucht die Frage zu beantworten, ob Co­hens zentraler Gedanke der Korrelation eine christliche Option sei. Die Untersuchung beantwortet die Frage Bezug nehmend auf Tillich, Schleiermacher und Karl Barth, indem Cohens Gedanken nach Lohmann zwar christlich adaptiert, jedoch nicht vollständig aufgenommen werden. Insbesondere Cohens These von der Möglichkeit einer Selbstbefreiung des Menschen aus seinem Elend ist protestantisch nicht nachvollziehbar.

Dieter Korsch beschäftigt sich mit Cohens Verständnis der Sünde vor dem Hintergrund der reformatorischen Tradition und zeigt deren Entsprechung.

Im letzten Aufsatz schließlich geht Hans Martin Dober der »Vernunft im Gebet« nach und zeigt hier die Auseinandersetzung Cohens mit Freud und Schleiermacher. Cohen leistet nicht weniger als eine philosophische Grundlegung des Gebets.

Der Band ist ein beachtenswerter Beitrag zu einer philosophischen und theologischen Vertiefung im jüdisch-christlichen Dialog aufgrund einer intensiven Auseinandersetzung mit Hermann Cohens Spätwerk.