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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

172–175

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Der Neue Pauly. Supplemente, 6

Titel/Untertitel:

Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon. Hrsg. v. P. Kuhlmann u. H. Schneider.

Verlag:

Stuttgart u. a.: J. B. Metzler Verlag 2012. LXII S., 1476 Sp. Geb. EUR 179,95. ISBN 978-3-476-02033-8.

Rezensent:

Ernst Vogt

Das biographische Lexikon der Altertumswissenschaften versteht sich als eine Ergänzung zu der in früheren Bänden des Neuen Pauly behandelten Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. Ein von den beiden Hauptherausgebern unterzeichneter einleitender Teil erläutert die Konzeption des Bandes und skizziert die geschichtliche Entwicklung der Altertumswissenschaften von den frühen Humanisten im 14. Jh. bis in die 2. Hälfte des 20. Jh.s. Auf eine chronologische Aufstellung der in den Band aufgenommenen Personen (Lebende sind ausgeschlossen) folgen im Hauptteil insgesamt 742 Einzelartikel. Unter der Leitung von sieben Fachgebietsherausgebern bieten 254 Autoren jeweils eine Biogramm genannte Kurzvita, eine Darstellung des wissenschaftlichen Werdegangs, eine kri­-tische Würdigung von Werk und Wirkung sowie die Titel der wichtigsten Schriften und Sekundärliteratur. Wo möglich, sind Angaben zu vorhandenen Erinnerungen, gedruckten Schriftenverzeichnissen und dem Aufbewahrungsort des Nachlasses hinzugefügt.

Bei der Auswahl ist der Bogen weit gespannt. Ägyptologen, Alt­orientalisten, Epigraphiker, Papyrologen, Numismatiker sowie Rechtshistoriker sind ebenso einbezogen wie Dichter und Schriftsteller (u. a. Rabelais, Montesquieu, Lessing, Wieland, Goethe, W. von Humboldt, A. W. und F. Schlegel; warum nicht Herder und Schiller?), Künstler (Rubens, Piranesi) und Sozialwissenschaftler wie Max Weber. Auf die Würdigungen von Schleiermacher, Harnack und Lietzmann sei besonders hingewiesen.

Der Wert eines solchen Werkes steht und fällt mit der Stichhaltigkeit der getroffenen Auswahl, der Qualität der Ausführungen und der Zuverlässigkeit der gebotenen Informationen. Leider sind in dieser Hinsicht erhebliche Einwände gegen den Band vorzubringen. Das gilt bereits für die auf S. XV außerordentlich verkürzt, einseitig und unausgewogen dargestellte Geschichte wissenschaftshistorischer Forschung, so als habe diese nicht eine lange, Jahrhunderte zurückreichende Tradition und als habe es in den Altertumswissenschaften erst neuerdings kritische Analysen von Forschungsprozessen und eine intensive Auseinandersetzung über Methodenfragen gegeben.

Entschiedener Einspruch ist gegen die auf S. XXVI vorgetragene Behauptung zu erheben, die radikale Abkehr der neuhumanis­tischen Philologie von den christlichen Autoren sei »bis in die Gegenwart« ein prägendes Merkmal des Faches geblieben. Ganz im Gegenteil ist seit dem ausgehenden 19. Jh. ein zunehmendes Interesse der Philologie an den christlichen Autoren in der Einzelforschung wie in der Literaturgeschichtsschreibung zu beobachten. 1891 war in der Preußischen Akademie der Wissenschaften die Kirchenväterkommission als Trägerin des Corpus der »Griechischen Christlichen Schriftsteller« gegründet worden. 1892 hatte Wila­-mowitz in einem vielbeachteten Vortrag die Predigt der heiligen Thekla nicht anders als das Lied der Sappho zu den Objekten der Philologie gezählt und 1902 einen Abschnitt »Altchristliches« in sein Griechisches Lesebuch aufgenommen. Gelehrte wie E. Schwartz, J. Geffcken, R. Reitzenstein, P. Wendland und E. Norden haben dieses Programm in die Praxis umgesetzt, und es fehlt nicht an neueren wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen, die dieser zunehmenden Erforschung der christlichen Literatur durch Philologen im Einzelnen nachgegangen sind.

Die Auffassung, Kennzeichen der deutschen Nachkriegsphilologie sei eine »lange währende methodische und konzeptionelle Abschottung gegen internationale Einflüsse« gewesen (XXXIX), wird allein durch einen Blick in die ers­ten Nachkriegsbände der nach 1945 in rascher Folge wieder erscheinenden Zeitschriften (Philologus seit 1948, Gnomon seit 1949, Rhein. Mus. seit 1950, Hermes seit 1952) als haltlos erwiesen. Zeitzeugen erinnern sich des befreienden Aufatmens angesichts der Tatsache, dass ausländische Publikationen nun wieder allgemein zugänglich wurden und dadurch an internationale Ent-wick­lungen angeknüpft werden konnte. Wenn in diesem Zusammenhang die zögernde Aufnahme der Entzifferung von Linear B durch Ventris als Beleg ins Feld geführt wird, so scheint es heute notwendig, daran zu erinnern, dass diese Entzifferung keineswegs schlagartig erfolgte, sondern sich über Jahre hinzog, dass es nicht zuletzt die von E. Grumach vorgebrachten Fragen und Zweifel waren, die wesentlich zur dann gelungenen vollständigen Entzifferung beigetragen haben, und dass es allen voran der britische Sprachwissenschaftler A. J. Beattie gewesen ist, der die Richtigkeit der Entzifferung am längsten und hartnäckigsten bezweifelt hat.

Die geradezu absurde Behauptung, die nüchterne Welt der mykenischen Kultur habe »für humanistisch geprägte Schöngeister nicht zum romantischen Mykene-Bild der homerischen Epen« gepasst (XXXIX), darf man jedenfalls für die Universitäten der 1950er und 1960er Jahre in das Reich der Fabel verweisen. Eine (auf S. XL ohne zureichende Kenntnisse gerügte) Zurückhaltung ge­gen­über einer Annahme starker orientalischer Einflüsse auf die griechische Kultur, wie es sie in der Tat gegeben hat, ist historisch als Reaktion auf die »Orientomanie« des späten 19. Jh.s zu erklären, die praktisch jede griechische Erscheinung auf den Orient zurückführen wollte und damit die ganze Richtung in Misskredit gebracht hatte (richtig ist das auf Sp. 1036 über den Kampf des Franzosen S. Reinach gegen das »orientalische Phantom«, »die damals populäre Herleitung aller kulturellen Phänomene aus dem Alten Orient«, Ausgeführte).

Die Auswahl der aufzunehmenden Personen ist Herausgebern und Fachgebietsherausgebern erklärtermaßen nicht leichtgefallen, und sie sind sich »durchaus bewusst, dass andere Entscheidungen möglich und wissenschaftlich vertretbar gewesen wären« (XIII). Die Fachgebietsherausgeber für die Humanisten, die Philologie des 17.–18. Jh.s und die Orientalistik sind ausgewiesene, zudem mit eigenständigen wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten hervorgetretene Fachgelehrte und haben durchweg eine sinnvolle und vertretbare Auswahl getroffen und kompetente Mitarbeiter gewinnen können (Leonardo Bruni hätte allerdings einen eigenen Artikel verdient, und die Altorientalistik scheint etwas überrepräsentiert). Auch mit der Auswahl und Behandlung der Antiquare und der Archäologen darf man im Großen und Ganzen zufrieden sein. Nicht ganz so ausgewogen geht es in der Alten Geschichte zu, wo herausra­gende Fachgelehrte fehlen und weit weniger hervorgetretene einen Artikel erhalten. Gelegentlich scheint die persönliche Nähe eines Herausgebers oder Mitarbeiters zu einem Forscher für die Berück­sichtigung maßgebend gewesen zu sein.

Die meisten Einwände sind gegen die Behandlung der Philologie des 19.–20. Jh.s zu erheben, einen Bereich, in dem sowohl der Fachgebietsherausgeber wie eine Reihe seiner Mitarbeiter das nötige iudicium vermissen lassen und ganz offensichtlich von ihrer Aufgabe überfordert sind. Was soll man von einem Lexikon der Altertumswissenschaften halten, in dem etwa A. Meineke, E. Wölfflin, G. Kaibel, O. Crusius, W. Schulze, L. Deubner und viele andere fehlen, aber ein J. Irmscher vertreten ist? Die Nichtberücksichtigung so bekannter Gelehrter wie W. Kranz, O. Skutsch und C. O. Brink steht in seltsamem Kontrast zu der offenkundigen Absicht des Bandes, den in den 30er Jahren des vergangenen Jh.s zur Emigration Gezwungenen eine angemessene Würdigung zuteilwerden zu lassen. Besonders stiefmütterlich sind die byzantinische und die mittellateinische Philologie behandelt. Wenn L. Traube (mit Recht) aufgenommen ist, hätte natürlich K. Krumbacher auf keinen Fall fehlen dürfen. Und weder F. Dölger, H.-G. Beck oder H. Hunger noch P. Lehmann oder B. Bischoff, die zu den bedeutendsten Repräsentanten ihrer Disziplinen gehören, sind (bei Berücksichtigung eines weit weniger prominenten Mittellateiners) eines Artikels gewürdigt.

Vor allem jedoch ist es die Vielzahl falscher bzw. fehlender Informationen und unentschuldbarer Fehler, die den Wert des Werkes nachhaltig beeinträchtigen. Ich beschränke mich darauf, einige symptomatische Beispiele zu geben.

Nicht F. Bücheler (dessen noch heute wichtige Kleine Schriften in 3 Bänden unerwähnt bleiben), sondern F. Leo war der Lehrer H. Fränkels (Sp. 160). Dagegen hätte gesagt werden sollen, dass Bücheler der Lehrer des Dichters und Übersetzers Rudolf Borchardt war, der sich in den »Erinnerungen eines Schülers« und im Eranos für Hugo von Hofmannsthal über Bücheler geäußert hat (»der Lachmann meiner Tage, phrasenlos, körnig, ins Ziel blitzend wie Scaliger und Bentley«). F. Dornseiff promovierte nicht bei dem Begründer der Indogermanistik F. Bopp, sondern bei dem Klassischen Philologen F. Boll (Sp. 320). Im Artikel zu H. Erbse fehlen Sp. 368 seine beiden wichtigsten Schüler A. Köhnken und E.-R. Schwinge. Stark verzerrt wird Sp. 412 die enge Beziehung von M. Foucault zu dem Philosophiehistoriker (nicht Althistoriker!) P. Hadot dargestellt, die in ein höchst fruchtbares Gespräch miteinander eingetreten sind. Der Artikel über M. Fuhrmann (Sp. 431) beschränkt sich fast ausschließlich auf dessen intensives (mit seiner radikalen Trennung von Gräzistik und Latinistik von vielen allerdings sehr kritisch gesehenes) schulpolitisches Engagement, ohne seine wichtigsten wissenschaftlichen Veröffentlichungen (die Monographie über das systematische Lehrbuch, die umfangreichen Untersuchungen zur Textgeschichte der Anaximenes-Rhetorik in den Mainzer Akademie-Abhandlungen und deren kritische Edition bei Teubner, seine Bücher über die antike Dichtungstheorie und die antike Rhetorik sowie seine Tätigkeit im Rahmen von »Poetik und Hermeneutik«) auch nur zu erwähnen. Ein bestürzendes Zeichen der Unsensibilität stellt Sp. 531 die Behauptung dar, R. Harder habe 1952 einen »Ruf nach München auf den Lehrstuhl für Gräzistik« erhalten (auf den ja soeben R. Pfeiffer aus der Emigration zurückgekehrt war). Die wenig später folgende Formulierung »Wiederberufung nach München« zeigt leider, dass es sich nicht um einen lapsus calami handelt.

W. von Humboldt arbeitete über ein Jahrzehnt lang nicht an Chr. G. Heynes, sondern an seiner eigenen Übersetzung des aischyleischen Agamemnon (Sp. 601). In Teilen unzureichend und stellenweise schief bis an die Grenze zur Karikatur ist der Artikel über W. Jaeger (Sp. 617 ff.). Liest man den Beitrag, so mag man nicht glauben, dass dieser Mann von Hugo von Hofmannsthal geschätzt wurde und mit Rudolf Borchardt korrespondierte (beides nicht erwähnt, der Briefwechsel vorzüglich ediert von E. A. Schmidt, München 2007). Zu den bedeutendsten Vertretern der Bonner Altertumswissenschaft gehört nicht der Philologe Karl Jahn (1777–1854), sondern Otto Jahn (Sp. 789). W. Buchwald war nicht Schüler von K. Latte, sondern von P. Maas, W. F. Otto und W. Theiler, und W. Kunkel nicht Schüler, sondern Kollege Lattes in Göttingen (Sp. 705). Besonders ärgerlich ist die (in sich keineswegs einheitliche) Darstellung des Verhältnisses Latte – Ziegler (neben Sp. 705 auch S. XXXIX und Sp. 1350), die inzwischen bereits von anderer Seite auf Kritik gestoßen ist. Sie arbeitet mit haltlosen, durch keinerlei Belege gestützten Vermutungen und Unterstellungen (nahezu unerträglich S. XXXIX), die geeignet sind, die Integrität Lattes in Zweifel zu ziehen und sein auf der kompromisslosen Strenge seiner Forschung beruhendes Ansehen herabzusetzen. Dass bei einer Persönlichkeit wie Latte auch Sachargumente hätten den Ausschlag geben und persönliche Rücksichten überwiegen können, scheint außerhalb des Denkbaren zu liegen. Unter R. Pfeiffer sucht man Sp. 964 seinen mit Abstand bedeutendsten Schüler W. Bühler vergebens. Der Philologe C. Weyman, einer von Pfeiffers Lehrern, wird nicht nur Sp. 962, sondern auch Sp. 1472 falsch geschrieben. Zu K. Reinhardt hätten neben den verschiedenen Würdigungen durch U. Hölscher unbedingt auch der ausführliche Nachruf von R. Pfeiffer im Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und das literarische Porträt von W. Jens in seinen »Zueignungen« genannt werden müssen (Sp. 1040).

Wer über E. Schwartz mitteilt, er habe die Ausgabe der Konzilsakten »be­treut«, kann kaum je einen Band dieser seiner monumentalen Edition (die übrigens 1914–1940 erschien und nicht 1904–1911) in der Hand gehalten, ge­schweige denn bei eigener wissenschaftlicher Arbeit benutzt haben (Sp. 1155). Im Artikel fehlt auch die bis heute wichtigste Publikation über Schwartz: A. Rehms monographische Würdigung in den Sonderbänden der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Wie der Verfasser des Artikels über F. Solmsen zu der seltsamen Auffassung gelangt ist, der gewiss produktive Forscher habe über 150 Monographien publiziert, bleibt sein Geheimnis (Sp. 1175). Im Artikel zu W. Süß fehlt Sp. 1206 sein bis heute bekanntestes Buch »Aristophanes und die Nachwelt«, das selbst mehr als 100 Jahre nach seinem Erscheinen nichts von seiner Frische eingebüßt hat, und es fehlt auch die beste Würdigung von dessen Verfasser, die glänzende Charakteristik durch R. Kassel (Kleine Schriften, 579–584), die den treffendsten Eindruck von dieser ungewöhnlichen Ge­lehrtenpersönlichkeit vermittelt und zugleich deutlich macht, dass die Postulate M. Fuhrmanns keineswegs so neuartig waren, wie es weniger Kundigen scheinen mag. Offenkundige Schwächen des Artikels über Wilamowitz (Sp. 1312 ff.) dürften wenigstens teilweise auf den Übersetzer zurückgehen. J. Wellhausen war übrigens Alttestamentler, nicht Kirchenhistoriker (Sp. 1314). Zu Leben und Werk T. Zieli ńskis wird nur eine einzige nichtslavische Publikation genannt, obwohl zu ihm eine Reihe von Veröffentlichungen in deutscher, lateinischer und italienischer Sprache vorliegt (Sp. 1353).

Auch das Personenregister weist eine unbegreifliche Vielzahl von Fehlinformationen auf. Karl Jaspers war Philosoph, nicht Klassischer Philologe (Sp. 1411), K. Marót ungarischer, nicht rumänischer Philologe (Sp. 1424), J. H. W. Tischbein Maler, nicht Archäologe (Sp. 1464), H. Thiersch Klassischer Archäologe, nicht Klassischer Philologe, und lebte 1874–1939, nicht 1784–1860 (Sp. 1463, offenbar Verwechslung mit F. Thiersch). Der Klassische Philologe H. Keil ist mit dem Sp. 1413 gesondert aufgeführten Altphilologen und Lehrer Th. H. G. Keil identisch. Die Ausgabe der Grammatici Latini (die keineswegs nur Fragmente enthält), stammt von dem Philologen H. Keil und nicht von dem österreichischen Epigraphiker und Archäologen J. Keil, wie auf S. XXVIII zu lesen ist.

Ich breche ab, obwohl die Liste sich noch fortsetzen ließe. Angesichts dieser Mängel fällt das Gesamturteil zwiespältig aus. Neben Gelungenem, ja Vorzüglichem stehen, vor allem was die Philologie und die Alte Geschichte des 19. und 20. Jh.s angeht, unbegreifliche Lücken, eklatante Fehlurteile und zahlreiche unzutreffende Angaben. Den Anspruch, ein zuverlässiges internationales Arbeitsinstrument zur Geschichte der Altertumswissenschaften zu sein, kann das Werk darum bedauerlicherweise nicht erfüllen.