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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

168–170

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gertzen, Thomas L.

Titel/Untertitel:

École de Berlin und »Goldenes Zeitalter« (1882–1914) der Ägyptologie als Wissenschaft. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis von G. Ebers, A. Erman u. K. Sethe.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. VII, 446 S. m. 6 Abb. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-030096-3.

Rezensent:

Bernd U. Schipper

Die Ägyptologie hat in den letzten Jahren die Wissenschaftsgeschichte für sich entdeckt. Denn der Blick auf die Geschichte des eigenen Faches verhilft dazu, nicht nur dessen Entwicklung zu verstehen, sondern auch die inhaltliche Ausrichtung nachzuvollziehen. In der Regel wird das Profil einer Disziplin von den wissenschaftlichen Akteuren bestimmt. Es sind einzelne Gelehrte, welche die Wissenschaft prägen und mit gezielter Personalpolitik ihren Ansatz zum Erbe künftiger Generationen machen.

Die Dissertation des Ägyptologen und Wissenschaftshistorikers Thomas L. Gertzen untersucht diesen Themenkomplex am Beispiel der »Berliner Schule«, die Anfang des 20. Jh.s um den Berliner Ägyptologen Adolf Erman entstanden ist. Bereits das Cover der bei dem Wissenschaftshistoriker R. vom Bruch an der Berliner Humboldt Universität verfassten Arbeit illustriert die für die Ägyptologie wegweisende »Netzwerkbildung«. Neben Adolf Erman sind auf dem Foto James H. Breasted (später Professor für Ägyptologie am Oriental Institute in Chicago), Georg Steindorff (später Professor in Leipzig) und Kurt Sethe (Ermans Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl) zu sehen. A. Erman, der nach dem Entzifferer der Hieroglyphen J. Champollion und Ermans Lehrer, dem Berliner Ägyptologen R. Lepsius, als der »dritte Entdecker der Ägyptologie« gilt, verstand es, ein internationales Netzwerk zu etablieren, welches das Fach bis heute prägt.

G. konzentriert sich in seiner Studie auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis von G. Ebers, A. Erman und K. Sethe und damit auf die Entwicklung der deutschsprachigen Ägyptologie. Wesentliche Materialbasis ist der Nachlass Ermans in der Bremer Staats- und Universitätsbibliothek. Dieser wird – unter Ergänzung durch den Nachlass von Georg Ebers in der Berliner Staatsbibliothek und weitere Quellen – in zweifacher Hinsicht ausgewertet: 1. in Bezug auf die Biographien der drei Ägyptologen selbst und 2. bezüglich der Etablierung und Geschichte dreier Institutionen. Der erste Aspekt – von G. als »Gelehrtenbiographie« bezeichnet – bestimmt das mit 131 Seiten Umfang eigentliche Hauptkapitel des Buches (Kapitel 3). Der letztgenannte Aspekt wird als Institutionsgeschichte anhand des »Woerterbuchs der Aegyptischen Sprache« (Kapitel 4, 194–260), des Berliner ägyptischen Museums (Kapitel 5, 261–331) und in einem Kapitel über die Bedeutung von Fachzeitschriften für die Entwicklung der Ägyptologie (Kapitel 6, 332–381) entfaltet. Den inhaltlichen Abschnitten der Arbeit ist eine kurze Einleitung zur »Ägyptologie als Wissenschaft« (Kapitel 1) und der »Quellenkunde und Quellenkritik« (Kapitel 2) vorgeschaltet. Der Band wird mit einer Zusammenfassung abgeschlossen, welche die beiden ge­nannten Aspekte – die Gelehrtenbiographie und die Institutionengeschichte – miteinander zu verbinden sucht. Ein umfangreicher Anhang enthält Vorlesungsverzeichnisse (B), eine Bibliographie (C), Internetquellen (D) und Archivmaterial (Quellenverzeichnis, E).

G. hat in seinem Buch Pionierarbeit geleistet. In der Verbindung von wissenschaftsgeschichtlicher Fragestellung und systematischer Aufarbeitung von Archivmaterial beschreitet er für die Ägyptologie neue Wege. In minutiöser Detailarbeit und breiter Präsentation der Originalquellen lässt G. eine Epoche der Ägyptologie zu Wort kommen, die in vielem die Grundlagen für das Fach geprägt hat, wie es auch heute noch weitgehend dasteht: als eine wissenschaftliche Disziplin, die primär philologisch orientiert ist (archäologisch war Erman wenig interessiert), die mit dem romantisierenden Ägyptenbild vergangener Zeiten (für das auch noch G. Ebers steht) bricht und sich auf die Aufarbeitung des (literarischen) Materials und dessen Systematisierung konzentriert (so z. B. bei K. Sethe seinerzeit für die Pyramidentexte). – Zu dieser verdienstvollen Arbeit seien drei kritische Anmerkungen erlaubt:

1. G. stellt letztlich die persönlichen Briefe an A. Erman in den Mittelpunkt seiner Untersuchung und skizziert den Wandel des Faches und seine Ausdifferenzierung nicht anhand der wissenschaftlichen Werke der einzelnen Protagonisten. Er zitiert dabei mit einer gewissen Delikatesse Passagen, die man bei manchem Gelehrten nicht unbedingt wissen möchte. Was ist der wissenschaftliche Ertrag dessen, dass der eine Ägyptologe den anderen als »charakterlos« (oder »niederträchtig«) bezeichnet hat oder Erman bei seinem Kollegen Dümichen meinte, man bezeichne ihn zu Recht als »den Dümmlichen«? G. zitiert u. a. das in Ägyptologenkreisen berühmt-berüchtigte Exemplar von Ermans Autobiographie aus dem DAI Kairo mit den Anmerkungen von Ludwig Keimer, der kein Blatt vor den Mund nahm, jedoch seine Anmerkungen nie zur Veröffentlichung bestimmt hat.

2. Bei seiner Interpretation der Korrespondenz zwischen G. Ebers und A. Erman interpretiert G. den späteren Konflikt zwischen Lehrer und Schüler so, dass Ebers für den »Typus des Privat- oder Stubengelehrten« steht, während Erman sich als »Staatsdiener« verstand, der sich zu einer »ernsten Wissenschaft« verpflichtet sah, »in der persönliche Begeisterung oder Schwärmerei« nichts zu suchen haben (146). Man könnte dies mit J. Assmann u. a. auch so deuten, dass Ebers ein Repräsentant des romantischen Ägyptenbildes war, während Erman sich als Philologe und Historiker verstand, der auf eine inhaltliche Durchdringung seines Stoffes bewusst verzichtete. Gerade in der Reduzierung auf die Philologie war Erman ein Schüler seines Lehrers (und Doktorvaters) Richard Lepsius, der für eine Untersuchung der »Berliner Schule« womöglich geeigneter gewesen wäre als Georg Ebers in Leipzig, bei dem Erman lediglich ein Jahr studierte (1874), bevor er 1875 zu Lepsius nach Berlin wechselte.

3. Die Stärke von G.s Arbeit liegt deutlich in der Präsentation des Materials und dessen Kommentierung. Eine systematisch-vergleichende Auswertung des Materials findet sich jedoch eher am Rande und (zusammenfassend) in dem recht knappen Schlusskapitel von zehn Seiten Umfang. Durch das Nebeneinanderstellen verschiedener Positionen und Begrifflichkeiten erhält die Arbeit gelegentlich einen etwas eklektischen Charakter. Dies wird bereits an dem recht sperrigen Titel deutlich: Es handelt sich um die Kombination dreier, aus unterschiedlichen Kontexten stammender Begrifflichkeiten: »école de Berlin« war ein von Ermans französischem Antipoden Eduard Naville geprägter Kampfbegriff, mit dem der Archäologe Na­ville eine Kritik an der philologisch orientierten Ermanschule und Erman selbst (der während seiner Zeit als Berliner Professor nie in Ägypten war) artikulierte. »Goldenes Zeitalter« ist demgegenüber die positiv konnotierte Bezeichnung eines En­kelschülers Ermans, des Göttinger Ägyptologen (und Nachfolger von K. Sethe) Hermann Kees, während die Formulierung der »Ägyptologie als Wissenschaft« auf den Titel eines Sammelbandes zu Adolf Erman und seiner Zeit zurückgeht, der im Jahr 2006 publiziert wurde.

Insgesamt sollen die genannten Anfragen jedoch die Leistung G.s nicht schmälern. G. hat eine Arbeit vorgelegt, die mit Details gespickt ist und viele interessante und weiterführende Aspekte enthält, wie z. B. die Steuerung eines Faches über Fachzeitschriften (was auch für andere Disziplinen aufschlussreich ist). Wenn man verstehen will, warum auch heutzutage die Ägyptologie an den deutschen Universitäten stark philologisch ausgerichtet ist und die ägyptische Spätzeit erst in jüngerer Zeit (neu) entdeckt wurde, findet man in dieser wegweisenden Studie die Erklärung: Erman selbst wollte Texte erschließen und ihre Grammatik verstehen; weitergehende Spekulationen waren ihm ein Gräuel. Er konzentrierte sich, wie auch seine Schüler, auf das pharaonische Ägypten, obwohl bereits Ermans Konkurrent auf die Nachfolge von R. Lepsius, Heinrich Brugsch, die Bedeutung der demotischen Literatur und des hellenistischen Ägypten erkannt hatte. Letztlich ist G. zu danken für eine Studie, die eine wahre Fundgrube darstellt und die man zusammen mit den wissenschaftsgeschichtlich-systematischen Arbeiten von Stefan Rebenich und Rüdiger vom Bruch gerne zur Hand nehmen wird.