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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

123–126

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Beinert, Wolfgang, u. Ulrich Kühn

Titel/Untertitel:

Ökumenische Dogmatik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt; Regensburg Verlag Fried­rich Pustet 2013. 846 S. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-374-03076-7 (Evangelische Verlagsanstalt); 978-3-7917-2473-7 (Verlag Fried­rich Pustet).

Rezensent:

Michael Plathow

»Das Anliegen der ökumenischen Bewegung – Stärkung des Be­wusstseins der Gemeinsamkeit in Christus – hat heute eine immer dringlichere Bedeutung: Wir leben in einer Situation, in der die christliche Botschaft wie selten angefragt, aber auch angegriffen ist.« So schreiben im Vorwort die Autoren Wolfgang Beinert und der am 29.11.2012 verstorbene Ulrich Kühn. Für Kühn, wie Beinert im Nachruf (IX) schreibt, ist diese Ökumenische Dogmatik »zum Vermächtnis eines großen Christen, eines leidenschaftlichen Lehrers, eines sehnsüchtigen Liebhabers der Kircheneinheit geworden«.
Die Ökumenische Dogmatik steht in der Linie der Werke von Einzelautoren wie E. Schlink (Edmund Schlink, Ökumenische Dogmatik [1983], Schriften zu Ökumene und Bekenntnis, Bd. 1, Göttingen 2004), des offiziellen Beobachters der EKD beim II. Vatika­nischen Konzil. Es reihen sich ein die Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung als heilsgeschichtlich entfaltete Glaubenslehre von O. H. Pesch (Otto Hermann Pesch, Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, Bde. 1 und 2, Ostfildern 2008/12) und P. Neuners Ökumenische Theologie (Peter Neuner, Ökumenische Theologie: die Suche nach der Einheit der christlichen Kirchen, Darmstadt 1997), die die theologischen Hauptprobleme der ökumenischen Bewegung und ihre dialogischen Konvergenzen darstellt, sowie die aus religionstheologischer Perspektive verfasste Dogmatik von H.-M. Barth (Hans-Martin Barth, Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen, Gütersloh 32008 ). Zu den Vorläufern zählen zwei evangelisch-katholische Ge­meinschaftswerke: das Neue Glaubensbuch von J. Feiner und L. Vischer (Johannes Feiner/Lukas Vischer, Neues Glaubensbuch [1973], 181998), das »gemeinsam den christlichen Glauben darzustellen« versucht und in Teil V die »offenen Fragen« zwischen den Kirchen behandelt, sowie die Einführung in die ökumenische Theologie von F. Nüssel und D. Sattler (Friederike Nüssel/Dorothea Sattler, Einführung in die ökumenische Theologie, Darmstadt 2008), die Wege, Themen und Ziele der Ökumene darstellt.
Für Beinert und Kühn ist »Dogmatik« Glaubenswissenschaft, die die Selbstmitteilung des dreieinen Gottes heilsgeschichtlich in die heutigen Lebenswelten der Kirchen hermeneutisch verantwortet als »lebendigen Glauben« und »lebendige Wahrheit« (19.26). Dabei weitet die Besinnung auf das Wesen des Glaubens »den Blick nicht nur für die binnenchristliche Ökumene, sondern tut das glei­chermaßen auch für die Begegnung mit den Religionen und mit dem modernen Atheismus. Und sie macht erkennen, wie barmherzig Gott ist« (23). »Ökumenizität« gehört zum esse theologiae dogmaticae (8). Die einzelnen Glaubensthemen sind zueinander zu vermitteln, indem zum einen die ökumenischen »Einschlüsse« fest­gestellt werden, die die ökumenische Entwicklung mit sich ge­bracht hat (13), und zum andern gefragt wird, »welche prinzipielle ›Christianität‹ noch den kontrovers gelehrten Themen und Thesen zukommt« (8).
Denkende Verantwortung des christlichen Glaubens im Heute bestimmt die dogmatischen Explikationen. Nicht ausgeblendet – als etwa bloß zeitgeistige Erscheinungen (533) – werden die Forschungsergebnisse in Natur-, Lebens- und Humanwissenschaften, die Veränderungen der Weltgemeinschaft, die Weiterentwicklungen theologischer Erkenntnisse bei Ernstnehmen der philosophischen Religionskritik und bei Ablehnen von Fundamentalismus auf dem Hintergrund der Begegnung mit den anderen Religionen und mit dem neuen Atheismus und Agnostizismus. In die zu­neh­mend säkularer und religiös-weltanschaulich pluraler bestim­mte kirchliche Gegenwartssituation werden, wissenschafts­theoretisch begründet und mit 1Petr 3,15 untermauert, das aggiornamento des Zweiten Vatikanums und die ökumenischen Dialogergebnisse eingezeichnet und als relevant nachgewiesen. Das ge­schieht in verständlicher Sprache ohne »Fachsimpelei« (113). Es geht vielmehr darum, das Glaubensbewusstsein zu stärken und den missiona­rischen Auftrag der Leser zu vergewissern (113.235).
Als hermeneutische Prinzipien gelten die Unterscheidung zwischen Sachgehalt und Sprachgestalt theologischer Aussagen sowie die »Hierarchie der Wahrheiten«. Entscheidende Bedeutung erfährt weiter die Methodik des »differenzierten Konsenses« und die der verschiedenen Zugänge zu einem dogmatischen Sachverhalt. Außerdem zeigen die Denkformen der Komplementarität, Koexis­tenz und Gleichursprünglichkeit ihre ökumenische Relevanz und Effizienz.
In elf »Traktaten« präsentiert sich die »Ökumenische Dogmatik«: I. Glaube; II. Offenbarung – Schrift – kirchliche Lehre, III. Gotteslehre, IV. Schöpfung, V. Theologische Anthropologie, VI. Chris­tologie, VII. Heiliger Geist, VIII. Das Heil – Gnade und Rechtfertigung, IX. Ekklesiologie, X. Sakramentenlehre, XI. Eschatologie. Es folgt ein ausführliches Namens- und Sachregister. Die einzelnen Traktate hängen durch die heilsgeschichtliche Entfaltung miteinander zusammen; nur aus pädagogischen Gründen erfahren sie eine getrennte Darstellung (28).
Kühn und Beinert, als Ökumeniker der »Wissenschaft der Dogmatik verpflichtet«, behandeln jeder »das seine aus seiner Sicht mit deutlicher Wahrnehmung der anderen Tradition« und beurteilen »am Ende die Resultate des anderen kritisch« (V). Die einzelnen Traktate gliedern sich in eine Skizzierung heutiger Herausforderungen oder themenspezifische Eröffnung, auf die ein biblisch-theologischer und dogmengeschichtlicher Aufriss folgt, um in eine systematisch-theologische Darstellung überzuleiten. Schon an dieser Stelle sei erwähnt, dass das Kirchentraktat (IX.) das theologisch und ökumenisch »brisanteste« ist (29.415 ff.), dem auch besondere Aufmerksamkeit gelten soll.
Zunächst sei kurz festgestellt, dass in der Gottes- (137), Schöpfungs- (206) und Trinitätslehre (365) keine Kontroversen von kirchentrennender Bedeutung festgestellt werden (129), auch nicht in Blick auf das Filioque. Das gilt mit der Gemeinsamen Erklärung (31.10.1999) auch für die Rechtfertigungslehre, denn die Differenzen im simul iustus et peccator weisen auf unterschiedliche Zugänge (392.400). Übereinstimmungen bestehen mit den ökumenischen Dialogen auch im Sakramentsverständnis als »Handlungen der Kirche« (262 ff.633), bei Taufe (650) und Herrenmahl (673 f.) einschließlich der Opferinterpretation (680). Konvergenzen liegen ebenso mit Communio Sanctorum (25.01.2000) unter pastoralem Aspekt, d. h. auch angesichts notwendiger und einzufordernder Veränderungen, in den sacramenta minora vor: Firmung, Buße (710), Krankensalbung (718), Ordination im Blick auf die »desaströse Personalsituation« (730), so dass in der römisch-katholischen Kirche die Ordination zum Hirtendienst »auch von Verheirateten und von Frauen in Betracht zu ziehen« ist und in der evangelischen Kirche die Ordination der mit der Abendmahlsverwaltung beauftragten Prädikanten (686); die Sakramentalität der Ehe als »ehekoexis­tente Hilfe Gottes« sollte die Wiederverheiratung Geschiedener pastoral ermöglichen (748 ff.).
Diese pastorale Intention der Ökumenischen Dogmatik wird auch im XI. Traktat über die eschatologischen Themen – »Purgatorium« als »eschatologische Konsequenz der Rechtfertigungslehre« (802), »Hölle« als »dunkle Folie hinter dem Aufruf zur existentiellen Entscheidung für Gott« (809), »Gebet für die Toten« als »spiritueller und notwendiger Vollzug der Nächstenliebe« in der Katholizität der universalen Kirche (810), »Himmel« als »Vollendung« des Menschen und der Welt hin zur Wirklichkeit Gottes (814) – seelsorgerlich entfaltet in einer heutige Menschen ansprechenden Form.
Als »ökumeneresistent« erweist sich – wie erwähnt – das Kirchenverständnis. Mit 219 Seiten stellt das Ekklesiologie-Traktat den umfangreichsten Teil dar. Dieser »Fokus kontroverstheolo­gischer Auseinandersetzungen« (28) erfährt einzig eine parallele Explikation durch Beinert und Kühn.
Beinert spricht die Gegenwartsprobleme der römisch-katholischen Kirche an (notwendige Veränderung und Identität, Gesamtkirche und Ortskirchen, hierarchologische und kommunionale Strukturen, 516.588 f.), um die Kirche sodann aus dem Geist des Zweiten Vatikanum im trinitarischen Begründungszusammenhang (LG 1) als »Exekution des göttlichen Heilsplans« zu qualifizieren (485). Das subsistit in (LG 8) verweise – gegen Mortalium animos (1928) und Dominus Iesus I,16 (2000) – nicht auf die Deckungsgleichheit der Kirche Jesu Christi mit der römisch-katholischen Kirche; denn über diese hinaus sieht Beinert andere »eigenständige Konkretionen des Volkes Gottes«, denen gegenüber auch die eigene Kirche Defizite aufweist (503). Durch geschichtliche Veränderungen hindurch und angesichts innerkirchlicher und außerkirchlicher Kritik zeigt sich die »ekklesiologische Identität im kommunionalen, sakramentalen und eschatologischen Merkmal« (525). Die Einheit der Kirche erweist sich aufgrund der Gleichursprünglichkeit von Einheit und Vielheit durch den Heiligen Geist als communio ecclesiarum (500), die Heiligkeit umschließt auch die »strukturelle Sündigkeit« der Kirche (510 f.) und die Katholizität als Einheit in Vielheit bezieht »alles in die Erlösungsgnade« ein (515). Das weite Verständnis der Apostolizität der »ganzen« Kirche führt zu der Feststellung: »Ob es hier in absehbarer Zeit zu einer Verständigung kommt, ist kein theologisches, sondern ein kirchenpolitisches Thema. Man kann aber mit aller Vorsicht daran festhalten, dass sie theologisch denkbar und möglich, pastoral von größter Bedeutung wäre.« (525, mit D. Sattler/G. Wenz [Hrsg.], Das kirch­-liche Amt in apostolischer Nachfolge. III. Verständigungen und Differenzen, Freiburg-Göttingen 2008)
Die Heilsbedeutung der Kirche folgt aus dem allgemeinen Heilswillen Gottes (1Tim 2,4), wie er durch die »universale Erlösungstat seines Sohnes manifestiert und exekutiert ist« (543). Darum werden Heilsmöglichkeiten in anderen Religionen anerkannt – mit der Logoi-spermatikoi-Lehre von Justin dem Märtyrer, dem Ab-Abel-iusta-Verständnis von Gregor d. Gr., der Enzyklika Ecclesiam suam (1964), den Erklärungen des Zweiten Vatikanums Ad gentes und Nostra aetate sowie mit Verweis auf große Theologen des 20. Jh.s wie K. Rahner, P. Tillich und K. Barth. Im Blick auf die Situation des Christentums in der Welt heute wird dies immer wieder von beiden Autoren betont (393.407 f.539.544.608).
Das schwierige Thema der verfassungsmäßigen Gestalt der römisch-katholischen Kirche behandelt Beinert in der Perspektive des CIC (1989) can 1752. Das »Heil der Seelen« muss das oberste Gesetz sein. Die gegliederte Gemeinschaft ist der Gleichheit aller nachgeordnet; gegenüber dem Amt, dem »einzigen« von einer ökumenischen Lösung entfernten Problem (557), ist die Bezeugungsinstanz des sensus fidelium zu stärken. Das Papsttum ist – mit Sanctorum Communio (2000) – als Petrusdienst der Einheit und Erhaltung der Vielheit zu gestalten (577); der Jurisdiktionsprimat wird darum als »Notstandsrecht« (580) und die Infallibilität als Funktion der gesamtkirchlichen Unfehlbarkeit (584) angesehen. Das »Primärsubjekt« ist die Gesamtkirche (588).
Gegenüber der auf konkrete Veränderungsvorschläge ausgerichteten Darstellung des Ekklesiologie-Traktats Beinerts bleibt die Darlegung des evangelischen Teils verhalten. Ebenfalls in tri­-nitarischer Begründung entfaltet Kühn die gottesdienstliche Ge­meinde in apostolischer Nachfolge durch das Wirken des heiligen Geistes in Wort, Sakrament und Gebet. Offenheit zeigt er – wie Beinert – für die ecclesia ab Abel. Die Ordinierten erfüllen den gesamtkirchlichen Dienst, damit öffentliche Verkündigung und Sakramente ihre »ekklesiale Vollgestalt« finden (614).
Besonders hebt er die »wechselseitigen ökumenischen Lernprozesse« und die »produktiv-konstruktive Lehrverantwortung« (619) hervor. Von der römisch-katholischen Kirche wünscht er sich die Zustimmung zum »Aufbruch des Geistes zu einer bestimmten Gestalt der Kirche in der Reformation« und – mit der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre – die wechselseitige eucharis­tische Gastsfreundschaft und beidseitige Anerkennung des Petrusdienstes, um die Einheit der Kirche als »Gemeinschaft im gemeinsamen Dienst am Evangelium« glaubwürdig zu leben.
Das Gemeinschaftswerk Beinert und Kühn gibt Rechenschaft vom christlichen Glauben im Verstehenszusammenhang der Le­benswelten von Kirche und Gesellschaft heute angesichts des Wandels und der Herausforderungen durch Natur-, Human- und Sozialwissenschaften, der anderen Religionen und des Atheismus. Zugleich zeigt es die theologisch verantworteten Gemeinsamkeiten und Konvergenzen auf, aber auch die noch bestehenden Dif­-ferenzen (Kirche-, Amt-, Apostolizitätsverständnis) zwischen der römisch-katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen. Mit den Hinweisen auf notwendige Veränderungen und Reformen eröffnen die Autoren hoffnungsvolle ökumenische Perspektiven. Gleichzeitig ist diese Ökumenische Dogmatik als Apologetik im fundamentaltheologischen Sinn zu charakterisieren. Konstruktiv und kritisch stellt sie eine Denkhilfe dar für die Arbeit an dogmatischen sowie ökumenetheologischen und pastoraltheologischen Themen. Allgemein verständlich wendet sie sich an eine breitere Leserschaft und will sich nicht etwa in theologischen Spezialfragen ergehen, was vielleicht manchen »Experten« zu Nachfragen Anlass geben mag. Sie will Glauben heute vergewissern, ökumenische Möglichkeiten und missionarische Wege aufzeigen.
Mögen die theologisch verantworteten Wünsche und Einforderungen zur Reform der Kirchen und zur Anerkennung der ökumenischen Gemeinschaft durch den pastoralen Reformkurs von Papst Franciscus verwirklicht werden hin zur versöhnten Verschiedenheit der sich gegenseitig als Kirche Jesu Christi anerkennenden Kirchen mit wechselseitiger eucharistischer Gastfreundschaft, »auf dass die Welt glaubt« (Joh 17,21).