Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

104–109

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Körner, Bernhard

Titel/Untertitel:

Die Bibel als Gottes Wort auslegen. Historisch-kritische Exegese und Dogmatik.

Verlag:

Würzburg: Echter 2011. 277 S. Kart. EUR 24,80. ISBN 978-3-429-03388-0.

Rezensent:

Ernstpeter Maurer

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Körtner, Ulrich H. J.: Gottes Wort in Person. Rezeptionsästhe­tische und metapherntheoretische Zugänge zur Christologie. Neukirchen-Vluyn: Neukirchner Theologie 2011. VIII, 159 S. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-7887-2496-2.


Die beiden Bücher behandeln auf ganz unterschiedliche Weise die Frage nach dem Verhältnis zwischen philologischer Auslegung der biblischen Texte und systematisch-theologischen Grundaussagen. Ulrich Körtner hat eine Reihe von erhellenden Aufsätzen zu­sam­mengestellt, in denen er sich von der liberal-theologischen Verengung der Christologie auf den »historischen Jesus« abgrenzt: »Christlicher Glaube […] bedeutet nicht, wie Jesus an den Gott Israels zu glauben, auch nicht, an Jesu Lehren zu glauben oder ihnen zu folgen, sondern an Jesus als Person, an ihn als Christus und Kyrios zu glauben.« (1) Das bezieht sich nicht auf den »historischen Jesus«. Vielmehr ist diese Person im Glauben der Kirche präsent.
Allerdings darf die Geschichte, die zum Kreuz führt, nicht punktuell reduziert werden, sie ist vielmehr »narrativ aufzulösen« (5). Jesu Leben und Sterben wird als Anrede Gottes an uns begriffen. In diesem Zusammenhang kann die Rede von Jesu Tod für uns nicht aufgegeben werden – die erst von Jesu Auferweckung her durchsichtig wird (7). Dazu will Körtner »eine rezeptionsästhetische und metaphorologische Christologie« entwickeln und die Frage nach dem historischen Jesus ebenso einbinden wie das Verhältnis von Chris­tusbekenntnis und Judentum (5). In der Auseinandersetzung mit der Religionsphilosophie Immanuel Kants (9 ff.) wird einerseits dessen Reduktion der Christologie auf ein Beispiel und Vorbild deutlich, andererseits kann die These von der nicht übertragbaren Schuld, mit der Kant die Satisfaktionslehre zurückweist, kritisch befragt werden: Wenn die Schuld an der Person haftet, wird die Geschichtlichkeit der Person vernachlässigt zugunsten einer verengten Subjekttheorie (s. u.). Gerade hier käme es auf die kommunikative Realität »von Zu­rechnung und Selbstzurechnung« an (28 f.).
Körtner nimmt Martin Kählers Unterscheidung von historischem Jesus und biblischem Christus auf: »Der geschichtliche Jesus der Evangelien aber ist der erzählte Jesus. Der Unterschied zwischen historischem und geschichtlichem Christus läßt sich mit Hilfe der englischen Unterscheidung von history und story benennen.« (36) Zudem haben wir es bei den Evangelien mit literarischen Kunstwerken zu tun, die als Texte auch den Autoren gegenüber autonom werden. So »steht der Sinn dessen, was ein Text sagt, nicht unverändert fest« (40). Körtner präzisiert damit rezeptionsästhetisch, was Martin Kähler mit dem problematischen Begriff des Übergeschichtlichen andeuten wollte, nämlich das »Mehr« innerhalb der Christusgeschichte, das sich nicht reduzieren lässt auf historisch greifbare Zusammenhänge. »Die Wirklichkeit des wirklichen Christus aber besteht nach Kähler in seiner Wirkung, genauer gesagt in seiner Wirkungsgeschichte.« (43) Allerdings kann das so aussehen, als begründe der Glaube sich selbst. Es ergibt sich ein Dilemma zwischen Subjektivismus und bloßem Autoritätsglauben (52). Körtner sieht jedoch im Rückgriff auf das Bild Christi einen schon bei Paul Tillich angelegten Weg aus dem Dilemma: »Der Glaube als Aufnahme des Ereignisses Jesu als des Christus ist das Überwältigtsein durch ein Bild, das je meinem Glauben immer vorausliegt und weder von ihm produziert, noch erschöpfend interpretiert wird.« (59) Hier kommt der Schriftlichkeit der biblischen Texte eine konstruktive Bedeutung zu: Die Wirklichkeit Christi ist »die schöpferische Wirklichkeit der von Jesus erzählenden Texte […], genauer gesagt die Welt des Textes, in welche wir im Akt der Lektüre versetzt werden, damit wir uns verlieren, um uns neu zu gewinnen« (ebd.). Das zeigt Körtner in einer treffenden Exegese von 2Kor 3 f. (63 ff.).
Von der Geschichte Jesu ist die Tatsache nicht abzutrennen, dass Jesus von Nazareth zum jüdischen Volk gehört. Insofern gehört ein Konflikt zwischen jüdischem und christlichem Reden von Gott gleichsam zur narrativen Struktur der Theologie dazu. Körtner argumentiert sehr differenziert: »Das den christlichen Glauben begründende Evangelium erhebt einerseits einen universalen Geltungsanspruch und fordert andererseits zur Toleranz gegenüber allen übrigen Religionen auf.« (70) Das »impliziert einerseits die selbstkritische Absage an jede Form der Judenfeindschaft, andererseits die Pflicht, im Ge­spräch mit Juden Rechenschaft zu geben über das christliche Bekenntnis zur Heilsbedeutung Jesu für das Volk Israel.« (74) Es ist ein wenig bedauerlich, dass der Dialog von Körtner zugespitzt wird auf die inzwischen recht abgestandene Kritik an der abendländischen Metaphysik zugunsten einer biblischen Denkform, die auch dem hebräischen oder jüdischen Denken angemessener wäre (78). Das ist sicherlich richtig und wichtig, sofern das theologische Denken immer wieder in die Falle einer naiven Ontologie tappt und nicht zu einer »flüssigen«, vor allem »relationalen« Ontologie vorstößt. Andererseits kann gerade die Formel von Chalcedon bei sorgfältiger Analyse unmöglich im Sinne der griechischen Ontologie interpretiert werden. Körtner liefert in seinen Überlegungen zur metaphorischen Sprache auch seinerseits fruchtbare Anstöße, wie die Ontologie von der Geschichte her in Bewegung zu bringen wäre (s. u.). Wichtig ist die Kritik an der gut gemeinten, aber doch zu weit gehenden Christologie Fried­rich-Wilhelm Marquardts, der Israel zum extra nos für die Heidenchris­ten macht – und dies im Rückgriff auf Paulus. Körtner be­zeichnet diese Paulusinterpretation als »exegetisch unhaltbar« (90). Hier ereignet sich in bester Absicht ein Rückfall »zu christologischen Positionen der von Barth äußerst scharf angegriffenen liberalen Theologie« (91). Auch gegen Paul M. van Buren bleibt zu betonen: Hat Jesus Christus keine Heilsbedeutung für die Juden, ist er also lediglich »der Messias aus Israel für die Heiden, dann geht für diese vom jüdischen Nein keine wirkliche Anfechtung ihres Chris­tusglaubens mehr aus.« (99)
Der Titel des Buches lautet »Gottes Wort in Person« – dazu äußert sich Körtner in den beiden nächsten Kapiteln. Eine interessante Frage gerade in diesem Zusammenhang ist das Verhältnis von Begriff und Metapher (102). »Die Rede vom Logos im Johannesprolog ist zunächst nicht metaphorisch, sondern mythisch.« (107 f.) »Insofern der Logos nun aber mit Jesus Christus identifiziert wird, kann man sagen, daß ›Jesus Christus‹ nach Joh 1,1 ff. der Name für den personifizierten Logos ist.« (108) Spricht demnach die Wort-Gottes-Theologie von Christus oder dem Christusereignis als Wortgeschehen, so handelt es sich um eine metaphorische »Verdichtung des biblischen Gesamtzeugnisses, das Christus mit dem Logos Gottes identifiziert, wie dies im Johannesevangelium ge­schieht.« (109) Nach Körtner gilt allerdings für Barth: »Der Satz, daß Gott redet bzw. wesenhaft als Redender zu denken ist, soll keinesfalls metaphorisch oder symbolisch verstanden werden […] Er gilt also im Sinne der analogia fidei als eigentliche, keinesfalls als uneigentliche Aussage.« (110) Es wäre hier gegen Körtner zu differenzieren, denn die analogia fidei bei Barth lässt sich durchaus als absolute Metapher (s. u.) deuten, als Aussage, in der sich die Ge­schichte Gottes mit den menschlichen Geschöpfen verdichtet, die aber den Horizont des Denkens sprengt und damit die traditionelle (und letztlich viel zu simple) Unterscheidung zwischen eigentlicher und »uneigentlicher« Rede überschreitet. So ist ja kein menschliches Wort eine solche Selbstenthüllung, wie das von Gottes Offenbarung zu behaupten ist. Das wiederum sucht Körtner exegetisch zu relativieren durch den Rückgriff auf Joh 1,1 – in der gängigen Interpretation, wonach das »Wort« nicht identisch sei mit Gott, wohl aber von göttlicher Art (111). Wird damit die johanneische Christologie nicht ein wenig entschärft (vgl. Joh 10,30)?
Wie auch immer Körtners Argumentation sich zu den sprachphilosophischen Implikationen von Barths Lehre vom Wort Gottes verhält – seiner Interpretation der Bezeichnung Jesu als Wort Gottes ist zuzustimmen. Diese Bezeichnung ist eine absolute Metapher: Sie »läßt sich nicht in eigentliche Rede, in eine univoke Beschreibung der Relation und wesensmäßigen Einheit von Jesus und Gott bzw. der in Jesus gegebenen Relation zwischen Gott und Mensch auflösen oder übersetzen« (121). In der Tat kann die klassische Ontologie hier nicht mehr greifen, es kommt vielmehr auf eine theologische Neuformulierung ontologischer Probleme an (122).
Wenn nämlich »zwischen Person und Wort im Falle Christi nicht getrennt werden kann, so auch nicht zwischen dem Wort und dessen Inhalt. Das Wort ist dann vielmehr die bezeichnete Sache selbst« (123). Daher ist eine Abbildtheorie der Sprache nicht angemessen (124). Eine solch naive Sprachtheorie ist in der Regel mit einer ebenso naiven Substanzontologie verknüpft. Wenn hingegen das Leben Jesu zur Anrede Gottes an uns wird, handelt es sich im Evangelium und auch in unserem Zeugnis um performative Sprechakte (126). Allerdings sind dann die ontologischen Alternativen zu klären: Wie müssen wir Wirklichkeit denken, wenn Sprache zur Wirklichkeit werden kann? Mehr noch: Körtner deutet im Gegenzug zu Kant an, wie personale Wirklichkeit zu denken wäre: »Die Wirklichkeit des Menschen und seine Personalität sind […] gerade nicht naturhaft gegeben, sondern eine soziale Realität, welche auf kommunikativen Vorgängen von Zurechnung und Selbstzurechnung basiert.« (135) Dann bleibt die Behauptung, Jesus Christus ist für uns gestorben, zwar immer noch eine gedankliche Zumutung (129), sie entspringt und entspricht aber der Selbsthingabe Gottes in Tod und Auferweckung Jesu Christi, mit der die religiöse Kategorie des Opfers gesprengt wird (138). Das ist wieder eine absolute Metapher, die nicht in »eigentliche«, d. h. unserer Alltagsontologie angepasste Sprache zu übersetzen ist. Vielmehr bleibt die Herausforderung, die Selbsthingabe Gottes für uns gerade im Rahmen des Stellvertretungsgedankens zu entfalten, ohne sie damit aufzulösen.
Sind Körtners Beiträge zuweilen sehr gedrängt, so geraten die Ausführungen von Bernhard Körner insgesamt sehr breit. In der rö­misch-katholischen Debatte ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Exegese und kirchlicher Lehre auf ihre Weise ebenso klärungsbedürftig wie auf evangelischer Seite die hermeneutische Differenz zwischen historisch-kritischer Exegese und dogmatischer Theoriebildung. Körner gibt zunächst einen Überblick über die »schwierige Beziehung« zwischen Exegese und Dogmatik innerhalb der römisch-katholischen Theologie (15 ff.). Daraus ergeben sich grundsätzliche Fragen: Es geht um das Verhältnis zwischen dem gelebten Glauben und seiner wissenschaftlichen Reflexion. Wird dem gelebten Glauben der Vorrang eingeräumt, so kann gefragt werden, inwiefern die Theologie als freie Wissenschaft gelten soll. Wie steht es um die Freiheit der Forschung, wenn es einen normativen Anspruch der Überlieferung gibt, und inwiefern kann daraus eine Wissenschaft werden? »Die historisch-kritische Exegese nimmt beides für sich in Anspruch und wird auch von Nicht-Theologen als Wissenschaft anerkannt.« (31) Umgekehrt kann gefragt werden, ob die Exegese eine theolo­gische Disziplin ist. Es könnte für sie gerade ein methodischer Atheismus (32) charakteristisch sein. Eine mögliche Konvergenz der Disziplinen zeichnet sich in der Geschichtlichkeit des Glaubens ab, die nicht einfach mit Historizität verwechselt werden darf, die aber eine starre dogmatische Lehrbildung ebenfalls in Bewegung setzen kann (31 f.).
Körner zeichnet nach, wie innerhalb der römisch-katholischen Theologie die historisch-kritische Exegese sehr allmählich ihren Ort findet (33 ff.). Wo es zu Divergenzen kommt, geht man davon aus, »dass es in einzelnen Stellen einen Sinnüberschuss gibt, der dem Autor nicht bewusst sein musste und nicht mit der historisch-kritischen Methode, sondern nur in der gläubigen Lesung erfasst werden kann« (37). Das Erste Vatikanische Konzil behält sich das Auslegungsprivileg vor. In diesen Grenzen kann auch die Bibelwissenschaft nützlich sein. Doch wird noch 1920 von Benedikt XV. »jede Einschränkung der Irrtumslosigkeit [der Bibel], z. B. auf die rein religiösen Aspekte, als mit der kirchlichen Lehre unvereinbar zurückgewiesen.« (39) Pius XII. leitet eine vorsichtige Wende ein und betont die Relevanz des Literarsinns – gegen fromme Spekulationen. Dieser Literarsinn kann aber nicht einfach in den Buchstaben gesehen werden, er tritt vielmehr erst im Zusammenspiel der biblischen Aussagen untereinander, also in der »Analogie des Glaubens« hervor (40). Bevor er auf das Zweite Vatikanische Konzil und die entscheidende Wende in der Konstitution Dei Verbum eingeht, erörtert Körner die Gedanken von Maurice Blondel in dem 1904 erschienen Werk »Geschichte und Dogma«. Hier geht es bereits um die entscheidende Kategorie der Geschichtlichkeit.
Bei der durch die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils eingetretenen Wende ist die Einsicht leitend, »dass man die Aporien, die sich mit der herkömmlichen Sicht des Verhältnisses von Schrift und Tradition ergeben, nur vermeiden kann, wenn man gewissermaßen ›hinter‹ Schrift und Tradition auf ihren gemeinsamen Ursprung zurückgeht: die Offenbarung.« (52) Wort Gottes ist nicht eine »Summe von Aussagen« (53), sondern Selbstmitteilung Gottes in Tat und Wort – und dazu gehört auch die Aufnahme der menschlichen Personen in die Gemeinschaft Gottes. Es kommt zu einer ge­stuften Exegese, die zuerst »historisch-kritisch die Aussageabsicht des Hagiographen und in einem zweiten Schritt – im Rahmen der kirchlichen Lehre – einen Be-deutungsüberschuss ans Licht bringt.« (55) Er tritt hervor, sobald nach der Einheit der ganzen Schrift gefragt wird (56). Das führt zu Implikationen im Text, die über den Text hinausweisen. Interessanterweise bezieht sich der Kommentator des Konzilstextes (A. Grillmeier) auf Gerhard von Rad und Martin Noth. Es kommt zu einem Regelkreis: »Die lebendige Tradition sichert und vertieft das Schriftverständnis, die Schriftauslegung hat ihrerseits gegenüber der Tradition und der Dogmatik eine kritisch-reinigende Funktion.« (57) Auch das kirchliche Lehramt ist zwar der Exegese noch übergeordnet, aber seinerseits dem Wort Gottes untergeordnet (58).
1993 erscheint das Dokument »Die Interpretation der Bibel in der Kirche« der Päpstlichen Bibelkommission. Es gilt, die Distanz zu überbrücken zwischen der Entstehungssituation der biblischen Texte und der Gegenwart. Diese hermeneutische Aufgabe kann nicht allein durch historische Methoden bewältigt werden, weil es um einen besonderen »Gegenstand« geht. Die Heilsereignisse und ihre Erfüllung in Jesus Christus geben der gesamten Geschichte der Menschheit einen Sinn, dessen Fülle es zu entfalten gilt. Das kann der historisch-philologischen Interpretation nicht allein überlas sen bleiben (62). Mehr noch: »Die Interpretation der Heiligen Schrift wird notwendigerweise pluralistisch sein, ›wie eine Symphonie mehrstimmig ist‹.« (63, Zitat aus dem Dokument der Bibelkommission) Zugleich kommt es auf die Kirchlichkeit der Schriftauslegung an, die im Wechselspiel mit der Tradition bleiben soll, denn die Schrift selber ist als Kanon Ergebnis der Selbsterkenntnis der Kirche (64).
Das zweite Kapitel behandelt die Exegese aus der Perspektive der Dogmatik, und zwar am Leitfaden von Beiträgen von Henri de Lubac, Hans Urs von Balthasar und Joseph Ratzinger. Körner vertieft die Kategorie der Geschichtlichkeit: Wenn Gott in die Ge­schichte eingeht, wächst der Geschichte eine Tiefendimension zu, umgekehrt werden die »geistigen Realitäten« geschichtlich – sie können nicht als »ewige Wahrheiten« abstrahiert werden (85 f.). Diese Einsicht macht die Lehre vom vierfachen Schriftsinn plausibel, die aber bereits bei Thomas von Aquin und vollends in der Reformation zugunsten des Literarsinns zurücktritt (91). Dagegen macht Körner geltend: »In der Praxis der geistlichen Schriftauslegung spiegelt sich die Art und Weise, wie das Christentum entstanden ist – in Fortführung und im Kontrast zur Heilsgeschichte des Volkes Israel.« (93) Diese Einsicht de Lubacs ist nicht zu vernachlässigen – wie auch umgekehrt die reformatorische Konzentration auf den sensus literalis zu einer vielschichtigen und zu­gleich christologisch konzentrierten Auslegung führt. Leider bleibt Körner eine ausführliche Analyse schuldig. Ähnlich unprofiliert ist das Referat der Einsichten von Balthasars.
Die Schrift »beobachtet und bezeugt die Offenbarung nicht aus der Distanz, sondern sie ist Teil des Offenbarungsgeschehens bzw. […] die Heilige Schrift ist Teil der Offenbarungsgestalt.« (98 f.) Die Offenbarung ist Selbstauslegung Gottes, daher auf das freie Verstehen der Menschen hin ausgerichtet und auf Auslegung hin offen (99). »Und so bleibe [!] die Selbstauslegung Gottes zwar hinsichtlich des Inhalts abgeschlossen, hinsichtlich der Darstellung des Inhalts aber ein in alle Zukunft offener Prozess.« (99) Es widerspricht der göttlichen Selbstauslegung, die Bibel einfach nur als Text hinzunehmen, weil die Annahme und Wiedergabe zur göttlichen Selbstauslegung hinzugehört. Daher sind göttliches und menschliches Wort nach dem Modell der Formel von Chalcedon aufeinander zu beziehen. Die Göttlichkeit des Wortes erweist sich gerade in der Vielstimmigkeit des Zeugnisses als unendlicher Überschuss des Offenbarungswortes. Das kirchliche Lehramt hat dafür zu sorgen, dass diese Vielstimmigkeit nicht in eine beliebige Vielfalt verläuft, sondern eindeutig bleibt (103). Hier hätte Körner reflektieren können und müssen, ob der Gegensatz zur Vielstimmigkeit die Eindeutigkeit sein muss – oder ob vielmehr charakteristische Züge in der Vielfalt angemessener sind, eine »Gestalt« (107). Denn die Dogmatik wird gerade durch die Exegese daran erinnert, »dass sie in ihrem Streben nach Systematik auf eine letztgültige Zusammenschau verzichten muss« (111). Balthasars Theodramatik läuft auf eine Begegnung von göttlicher und menschlicher Freiheit, von göttlicher Initiative und menschlicher Reaktion, von göttlichem Wort und menschlicher Antwort hinaus und ereignet sich immer wieder neu (104 f.). Abgeschlossen ist hingegen die Schrift, weil sie die unüberbietbare Offenbarung zur Sprache bringt (105). Das zeigt die enorme Nähe dieser Position (und in gewisser Weise auch der Offenbarungskonstitution) zu Karl Barths Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes, natürlich mit der entscheidenden Differenz in der Reihenfolge von Schrift und kirchlicher Tradition. Körner geht auf diese Konvergenzen nicht ein.
Im Anschluss an Ratzingers Veröffentlichungen zu Jesus von Nazareth macht Körner klar, was seit Martin Kähler bekannt sein sollte: Die Person Jesu Christi ist mit den Mitteln historischer Philologie so gut wie gar nicht zu finden und bleibt gerade in historischer Perspektive ohne ihren Gottesbezug schemenhaft. Hier zeichnet sich eine prinzipielle Grenze der historischen Me­thode ab: Sie kann keine singulären Ereignisse aus der Initiative Gottes akzeptieren, zudem kann sie die Einheit der biblischen Texte nicht in den Blick nehmen. Aber ebendiese Einheit führt uns zur inneren Logik der biblischen Texte: »Denn bereits innerhalb der Schrift werden ältere Traditionen immer wieder neu aufgegriffen und gelesen, und darin ›trägt sich die Schriftwerdung als ein Prozess des Wortes zu, das allmählich seine innere Potentialität entfaltet‹ [Ratzinger, Jesus von Nazareth, 17].« (118) So erwachsen die biblischen Schriften aus der Glaubensgemeinschaft des Volkes Gottes (119). In dieser wichtigen Einsicht wurzelt die Auffassung von der Zweiheit »Schrift – Tradition«.
Das dritte Kapitel trägt die Überschrift »Die Heilige Schrift als Gottes Wort auslegen – in historischer Verantwortung« (143). Es finden sich hier allerdings keine neuen Einsichten und leider auch keine genaueren Bestimmungen für eine Hermeneutik zwischen historischer Philologie und dogmatisch-gegenwärtigem Reden von Gott. Körner betont im Anschluss an die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils vor allem die entscheidende Wandlung von einem Für-wahr-halten geoffenbarter Aussagen zur Begegnung mit dem sich selbst offenbarenden Gott (166).
Die biblischen Texte müssen als Anrede Gottes gelesen werden. Nur darin liegt die Kontinuität mit den Verfassern der Texte in der Vergangenheit, mit dem Volk Gottes und den ersten Zeugen Jesu Christi (187). Darin gründet auch das Interesse an den historisch-philologischen Fragen. Die Dogmatik ist Anwältin des Glaubens, und so »geht der Glaube der Kirche in die historische und philologische Arbeit der Exegese nicht konstitutiv, wohl aber regulativ ein. Sie sagt dem Exegeten nicht, wie es war, sondern nur, welche Möglichkeiten er nicht von vornherein ausschließen darf.« (205 f.) Insgesamt gilt hier das »Axiom, dass sich Glaube und Vernunft, beide recht verstanden, nicht widersprechen können« (207). Dann sind auch gegenwärtige philosophische und weltanschauliche Grundannahmen zu befragen, denn hier wird schnell »die eigene Erfahrung zum entscheidenden Maßstab für das, was gegenwartsfähig ist« (197). Kann es dann nicht doch zum Streit zwischen Vernunft und Glauben kommen?
Am Schluss formuliert Körner Regeln für das Zusammenspiel von Exegese und Dogmatik. Dabei ist die Differenz zwischen historischer Philologie und Geschichte prägnant formuliert: »Für jeden Menschen reicht die vorausgesetzte Geschichte weiter als die historisch rekonstruierte Geschichte. Deshalb kann man es als anthropologisch legitim ansehen, wenn in der geistlichen Schriftauslegung Aussagen über die Vergangenheit gemacht werden, auch wenn sie historisch nicht besonders abgesichert werden und sich im Einzelfall u. U. bei näherem Zusehen sogar als unwahrscheinlich oder sogar als falsch herausstellen.« (221) Das Potential des Wortes Gottes in der Schrift geht nicht nur über die historische Rekonstruktion hinaus, sondern auch über die kirchliche Tradition, denn es kommt zur Auswirkung, wenn die Auslegung zur Anrede Gottes für uns heute wird (232).
Dabei gilt es, die jeweiligen expliziten und impliziten Vorannahmen zu klären. Das reicht vor allem in den ontologischen Bereich hinein: Gilt als »wirklich« nur das von der Naturwissenschaft Rekonstruierbare? Die exemplarische Debatte um die Jungfrauengeburt (253 ff.) wird leider nur skizziert. Hier hätte Körner an einem sehr interessanten Fall seine eigenen Ausführungen zuspitzen können. Das Buch leidet überhaupt daran, dass die Ausführungen stets sehr allgemein bleiben. Besonders bedauerlich ist die weitgehende Abblendung der ökumenischen Diskussion, und zwar vor allem wegen der in der Offenbarungskonstitution vollzogenen Wende zur Offenbarung als Selbsterschließung Gottes. Hier erlangt die Kategorie »Wort Gottes« eine Tiefe, die sich von der aris­totelischen Fixierung auf Satzwahrheiten deutlich unterscheidet. Die Konsequenzen dieser Wende und die Konvergenzen zur evangelisch-theologischen Bestimmung von Offenbarung, Schrift und kirchlicher Verkündigung als »Gestalten des Wortes Gottes« (Karl Barth) werden nicht zum Anlass für eine methodologische Reflexion, es bleibt bei der vagen Forderung, die Texte der Schrift als Anrede Gottes zu vernehmen.
Erstaunlicherweise fehlen Bezüge auf das im September 2010 veröffentlichte Apostolische Schreiben Verbum Domini von Benedikt XVI.