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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

571–573

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Böll, Verena

Titel/Untertitel:

,Unsere Herrin Maria’. Die traditionelle äthiopische Exegese der Marienanaphora des Cyriacus von Behnesa.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 1998. XVIII, 336 S., 1 Farbtaf. gr.8 = Aethiopische Forschungen, 48. Lw. DM 98,-. ISBN 3-447-04020-3.

Rezensent:

C. Detlef G. Müller

Dieses gut ausgestatte Buch widmet sich der zwar umfangreichen, aber außerhalb Äthiopiens kaum bekannten Kommentarliteratur in amharischer Sprache. Die äthiopische Kirche verfügt über zahlreiche Anaphoren, von denen hier eine herausgegriffen und bearbeitet wird. Neben der biblischen Exegese kennt die äthiopische Kirche auch eine solche liturgischer Texte, die in ähnlicher oder gar gleicher Weise erfolgt, da für die Liturgie natürlich auch die Bibel maßgebend bleibt. Kaiser Zär’ä Ya’qob (Sproß Jakobs; 1434-1468) hat in besonderer Weise die äthiopische Marienverehrung gefördert. So war es richtig, die Anaphora "Unserer Herrin Maria" des Cyriacus von Behnesa näher zu untersuchen. Neben der Marienverehrung wird in diesem Text die Frage der Trinität speziell behandelt. Damit ist er auch eine Quelle für die Auseinandersetzungen des 13. und 14. Jh.s innerhalb der äthiopischen Kirche.

Nach der Einleitung bietet die Autorin eine Beschreibung der Anaphora. Es ist wichtig zu bedenken, daß diese Anaphora keine Übersetzung darstellt, sondern ein äthiopisches Werk ist, das die Tradition des Landes verarbeitet. Für die Edition und Übersetzung greift die Autorin auf Sebastian Euringer zurück. Die Verfasserangabe, Kyriakos von al-Bahnasa (ein Bischof unbekannten Zeitalters in Ägypten) ist natürlich apokryph. Die Autorin datiert die Anaphora zwischen 1382 und 1424, was mit der äthiopischen Verfasserangabe - Samuel von Waldebba - zusammengeht. Die Quellenanalyse der Anaphora sucht die inhaltlichen Aussagen nicht mit anderen Anaphoren, sondern mit inhaltlich verwandten Texten zu vergleichen (17) und somit zu neuen Ergebnissen zu gelangen. Auch unterscheidet sie bei Bibelzitaten das wörtliche Zitat von der Allusion (nicht wörtlich) und der Reminiszenz.

Sorgfältig werden die Schriften analysiert und besprochen (auch in Bezug auf die eventuelle nichtäthiopische Herkunft), die der Verfasser dieser Marienanaphora benutzt hat:

Weddase Maryam (Lobpreis Mariens), Änqäsä Berhan (Tor des Lichtes = Lobpreis und demütige Danksagung an die Mutter des Herrn), Weddase em-qalä Näbiyat (Lob aus der Rede der Propheten), Ärganonä Weddase (Harfe des Lobpreises; oder Ärganonä Dengel = Harfe der Jungfrau), Mahletä Sege (Blumenlied), Kidanä Mehrät (Bund der Erbarmung), Tä’ammerä Maryam (Wunder Mariens). Bezüglich der patristischen Literatur werden zwei in Äthiopien gängige Sammelwerke, also Florilegien zu Rate gezogen: Der berühmte Qerellos, der nach Kyrill I. von Alexandrien (412-444) seinen Namen trägt und der Qälementos benannt nach Clemens I. von Rom, der unter Kaiser Zär’ä Ya’qob kirchlich nicht anerkannt war. Schließlich wird auf die Apokryphen hingewiesen, wobei eine wörtliche Übereinstimmung mit dem berühmten Liber Transitu Virginis Mariae festgestellt wird.

In sieben Punkten wird das Ergebnis dieser Quellenanalyse festgehalten. Festgestellt wird weiter, daß der Autor nicht nur ein geeignetes Formular für die Liturgie an Marienfeiertagen schaffen wollte, sondern auch ein Bekenntnis zu den Auseinandersetzungen über die Trinität vorlegte (45). Daher versucht ein weiteres Kapitel eine kirchengeschichtliche Einordnung der Anaphora und präzisiert die kirchliche Lage Äthiopiens in der Entstehungszeit um 1400. Es wird die weitgehend unabhängige Position der Klöster in dieser Zeit gezeigt und die daraus folgenden theologischen Querelen. Man streitet durchaus über die Marienverehrung, die Sabbatheiligung und schließlich die Trinität. Die trinitarische Frage der alten Kirche wird hier im äthiopischen Rahmen quasi wieder neu aufgerollt. Die Retu’a Haymanot schaffen das Bild von dem Vater als Sonne, Sohn als Licht und Heiligem Geist als Hitze, also eine Sonne der Gerechtigkeit. Die ursprüngliche Lesart der Marienanaphora vertritt diese Lehre. Die Stephaniten hingegen spielen nicht nur in der Frage der Sabbatheiligung eine Rolle, sondern sind auch große Verehrer der Heiligen Trias, weichen jedoch von der Marienanaphora ab. Die Gruppierung um Zä-Mika’el (um 1400) benutzt die Marienanaphora in der trinitarischen Frage. Die Eustathianer schließlich vertreten die offizielle Lehre der Hofkirche. Die Autorin bringt den Samuel von Waldebba (möglicher Autor) mit den Eustathianern in Verbindung und stellt fest, daß das Hauptanliegen der Marienanaphora gar nicht die Marienverehrung ist, sondern die Darlegung der Beschaffenheit der Trinität. - Der zweite Teil des Buches widmet sich nun der Anaphora selbst. Zunächst wird der Leser über die äthiopische Kommentartradition informiert, die auch heute noch in der kirchlichen Praxis fortlebt. Dem Kirchenvolk ist auch die orale Tradierung noch geläufig.

Die Tergwame - übersetzte Kommentare - werden nicht behandelt. Es geht allein um die amharischen Andemta-Kommentare (Andem = amharisch "auch", "oder") und die damit verbundene Tradierung mehrerer Auslegungsmöglichkeiten. Es geht um die Erhellung des Textes und keineswegs um eine kritische Bearbeitung. Es sind bisher auch nur Kommentare zu den 14 kanonisierten äthiopischen Anaphoren bekannt geworden. Sie gehen auf eine orale Tradition zurück und wurden erst im 19. Jh. aufgezeichnet. Doch setzt man die Entstehung der heute vorhandenen Tradition in das 16. bis 18 Jh. Adressaten sind die äthiopischen Gelehrten. Die traditionellen kirchlichen Schulen lehren sie in ihrer vierten und höchsten Stufe. Erwartungsgemäß werden sie durch ständiges Wiederholen und Auswendiglernen dem Schüler eingeprägt. Man folgt den Tradenden, die die Texte der beiden Kommentarschulen weitergaben. In der Art der Kommentierung glaubt die Vfn. die antiochenische Schule mit ihrer literal-historischen Auslegung wiederzuerkennen, während die symbolisch-allegorische Auslegung eine geringere Rolle spiele. Hier mag das Problem der syrischen Schriften in Äthiopien und damit die Tradierung von Erzeugnissen der antiochenischen Schule in Äthiopien eine Rolle spielen. Die Andemta-Kommentare sind durch eine dreifach Aufteilung bestimmt: Originaltext auf Äthiopisch (Ge’ez), amharische Übersetzung, Kommentar. Für letzteren kann die Autorin sieben charakterische Merkmale (Erklärungsmuster) zusammenstellen.

Nach kurzen Hinweisen auf Forschungsgeschichte, Manuskripte und Drucke folgt schließlich die annotierte Übersetzung des Andemta-Kommentars zu der Marienanaphora. Unter Benutzung der Bemühungen anderer Gelehrter wird in diesem Kernstück des Buches eine sorgfältige Übersetzung des Textes mit dem ausführlichen Kommentar geboten. Ein ausführlicher Anmerkungsapparat unterrichtet über alle Probleme und erklärt problematische Stellen. So ist ein gut lesbarer deutscher Text entstanden, der allen Interessierten eine intensive Begegnung mit dieser äthiopischen Tradition ermöglicht und hoffentlich weitere Kreise zur Beschäftigung mit diesem wichtigen Stück christlicher Liturgie anregen wird.

Für Fachleute findet sich im Anhang eine photographische Wiedergabe der Originaltexte. Sie ist gut lesbar, wenn auch immer zwei Seiten auf einer Buchseite abgedruckt sind. Eine synoptische Wiedergabe von Text und Übersetzung wäre natürlich besser und wissenschaftlich angenehmer gewesen. Das mögen aber die heutigen Druckverhältnisse verhindert haben. Außerdem wird noch eine Analyse des Andemta-Kommentars geboten. Zusammengefaßt werden die Aussagen zur Mariologie und zur Trinitätstheologie aufgeführt, sowie die benutzte Literatur zusammengestellt, was ein wichtiger Punkt ist. Auch das, was der Andemta-Kommentar uns über Äthiopien lehrt, ist übersichtlich zusammengestellt. Schließlich werden noch Vergleiche mit anderen Andemtas gezogen und eine Schlußbetrachtung geboten. Ein Literaturverzeichnis und ein Index runden das gelungene Werk ab.