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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

95–97

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bromand, Joachim, u. Guido Kreis [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2010. 817 S. m. Abb. Lw. EUR 79,80. ISBN 978-3-05-004901-4.

Rezensent:

Michael Moxter

Um Worte verlegen sind wir oft, vor allem dann, wenn es die richtigen sein müssen. Aber nur weil wir sprechen (allenfalls noch: schreiben), sind wir mit dem konfrontiert, was sich nicht sagen lässt. Eine letzte Grenze der Sprache, ein schlechterdings Unsagbares bzw. Inkommensurables muss das nicht sein. Oft behelfen wir uns mit Pausen und Schweigen, mit Themenwechsel oder mit Andeutungen, bearbeiten also Kommunikationsprobleme durch Kommunikation oder überlassen die Klärung den Kontexten. So wenig das, was nicht gesehen werden kann (der eigene blinde Fleck, das Geschehen im toten Winkel oder der Rückseite des Mondes), ein prinzipiell Unsichtbares sein muss, so wenig fällt die Grenze der Kommunikation stets mit einem ganz und gar Unsagbaren zusammen. Wer mit einem solchen rechnet, darf auch nicht schweigen, sondern muss sagen, was er meint.
Die Einleitung des Bandes, der als Festschrift Wolfram Hogrebe gewidmet ist, wählt die bestimmte Negation und spricht vom nicht-propositionalen Wissen bzw. vom Nicht-Begrifflichen als dem die Beiträge verbindenden Thema. Vieles kann damit gemeint sein: Vorprädikatives genauso wie knowing how, Sinnüberschuss nicht weniger als Sinnentzug, Bilder und Musik genauso wie Religion. Insofern wird »in exemplarischen Einzeluntersuchungen« die »begriffliche Arbeit am Nichtbegrifflichen« präzisiert (17). Der Re­zensent kann nur weniges explizit benennen.
Josef Simon (»Kritik der Urteilsform« [73–84]) skizziert seine pragmatisch inspirierte Kantinterpretation: Die Selbstkritik der menschlichen Erkenntnis komme dadurch zustande, dass wir »bestimmte Definitionen« unserer Begriffe als definitiv bestimmt ansehen, obwohl wir wissen, dass sie je nur im Gebrauch vorübergehend stabilisiert sind. Festen Boden oder eine unerschütterliche erste Gewissheit kann es nicht geben, vielmehr gehen uns Gegenstände je nur in spezifischen Grenzen etwas an, so dass wir diese nur näherungsweise erfassen und also Urteile nur soweit fällen, als es Situation und Kontext erfordern. Darum gehört zur Urteilsfunktion, also zur wechselseitigen Bestimmung von Subjekt und Prädikat, immer ein Horizont des Unbestimmten, als des jetzt noch nicht Bestimmten, das gegenwärtig auch keiner weiteren Be­stimmung bedarf. » Die Form der Wahrheit« wird die Form des Urteils daher nicht genannt werden können. Aber das für den Band zentrale Moment der Nichtpropositionalität kann als »bestimmte Negation der Propositionalität« vollzogen werden. Das geschieht in derjenigen Relativierung allen Bestimmens, die als ein Verhältnis der Anerkennung zwischen Individuen vollzogen wird: Weil jedes Individuum selbst ineffabile ist, kann es um das wissen, was sich nicht allgemein mitteilen lässt.
Formen diagrammatischer Darstellung (Notationssysteme, Schemata, Karten) sind für Sybille Krämer prägnante Fälle dessen, was kognitiv produktiv ist, ohne dem Bereich des Begrifflichen selbst zu entstammen (»Zwischen Anschauung und Denken. Zur epistemologischen Bedeutung des Graphismus« [173–192].) Diese entziehen sich der Differenz zwischen Sprachlichem und Ikonischem, erlauben es aber, aus Anschaulichem logische Einsichten zu gewinnen. Charles S. Peirces Existentielle Graphen, grundlegend entwickelt in seiner Logik von 1906, dürfen als Wegbereiter für das Anliegen Krämers gelten, die Leistungen des diagrammatic reason­ing zu rekonstruieren. Allerdings erweitert die Berliner Philo­-sophin die logischen und erkenntnistheoretischen Interessen in Richtung Anthropologie und Kulturtheorie (in der die Techniken der Markierung, der Grenzziehung und Einschreibung besondere Aufmerksamkeit finden). Schon Platons Liniengleichnis sei Hinweis auf eine spezifische Form der Erkenntnis (dianoia), in der das Sichtbare als Darstellung des Denkbaren dient: Es illustriert nicht, sondern erzeugt und vermittelt Evidenz. Descartes’ Geometrie und Mathesis universalis bilden das neuzeitliche Pendant: Sie erlauben rationale Operationen an figürlichen Notationen. Krämer plädiert für eine Verbindung dieser Logik der Notation mit einer kulturwissenschaftlich gehaltvollen Epistemologie der Linie, um das Phänomen des Diagrammatischen aufzuklären. Keine konsequente Entfaltung der rationalen Denkungsart, so könnte man sagen, ohne die Kunst, Linie und Schlussstrich zu ziehen.
An den sogenannten Rasterbildern von Sigmar Polke zeigt der Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Gottfried Boehm (»Die Ma­trix des Unbestimmten. Ein bildtheoretisches Exempel« [443–453]), wie sich ein Bild aus Lücken und Störungen, aber auch durch Überpointierung der Darstellungsmittel aufbaut: Zwischen Pho­tographie und Malerei eröffnet Polke Spielräume, in denen Un­schärfe (wie bei Gerhard Richter), Schwärzung oder Doppelbelichtung zu Mitteln der Malerei werden, dabei aber das der Photographie unterstellte Genauigkeitsideal realistischer Abbildung hintertreiben. Es entsteht eine »kunstvoll organisierte Unbestimmtheit«, die mit Beliebigkeit nicht verwechselt werden darf, die überdies methodisch erzeugt ist, und die neue Formen der Visualisierung freisetzt. Das Unbestimmte bzw. Nicht-Regulierte wird zum Medium des Bildaufbaus. Bilder entstehen aus Bildern, der »imaginäre Grund der materiellen Matrix« des gegebenen Bildes erzeugt gleichsam Resonanzen des »imaginären Grund[es] der Einbildungskraft« und übersetzt sich in ein neues Bild. Kein Begriff steuert, was man in den Bildern sehen und mit ihnen erkennen kann.
Auch Horst Bredekamp (»Die Erkenntniskraft der Plötzlichkeit. Hogrebes Szenenblick und die Tradition des Coup d’Oeil« [455–468]) entwirft bildtheoretische Perspektiven im Rekurs auf das Phänomen der Unbestimmtheit bzw. der »unvollkommenen Bestimmtheit« (Husserl). Hogrebes Begriff des szenischen Verstehens und das schlagartige Erblicken, für das Leonardo da Vinci das klassische Zitat (»Die Malerei zeigt dir augenblicklich [in un subito] ihre Essenz in der visitiven Kraft«) liefert, werden zusammengeführt und mit dem herrschaftlichen Blick verbunden, der in politischer und militärischer Strategie als Kunst erscheint, Lagen sofort zu erkennen, alle Optionen auf einen Blick zu erfassen. Bei Leibniz wird die Rationalität der »nur sukzessiv zu erschließenden Zahlen« überboten durch den instantanen Blick auf die geometrische Figur als einer gleichsam extraordinären Form der Einsicht. Auch in der Theodizee ist die schlagartige Erkenntnis des Lebensschicksals in einem »Gedankenbild« zusammengefasst, das Bredekamp kunstgeschichtlich auf erhellende Weise herleitet und aufklärt. Das Prälogische und also die nicht am Leitfaden des Begriffs generierte Erkenntnis wird im Horizont von Bilderfahrungen figuriert.
Für die Nähe zu Religionsphilosophie und Theologie sei der Beitrag von Theo Kobusch (»Vernunftglaube. Das Vorrationale und Nichtpropositionale der menschlichen Vernunft« [647–660]) ge-nannt. Vernunftglaube ist nicht erst ein kantischer Begriff, sondern das einigende Thema schon der Auseinandersetzungen um Glaube und Vernunft in der Patristik: eine Voraussetzung des Wissens, die selbst etwas anderes als Wissen, nämlich vertrauensvolle Hinnahme sei. Die katholische Tübinger Schule habe, ihre historischen Patristik-Studien und ihre systematische Jacobi-Rezeption vermittelnd, diese Pointe aufgenommen: »Im Leben kann nicht alles auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüft werden, sondern es ist […] vernünftig, etwas glaubend hinzunehmen.« (649) Bedenkt man, dass der Sinn fürs Nicht-Begriffliche in solchen Formulierungen auf dem Sprung ist, die Überzeugungen einer bestimmten Religion, also etwa die Definitionen des katholischen Lehramtes, zu affirmieren, wäre eine bescheidenere, negative Variante zu bevorzugen. Etwa die in Anlehnung an Blumenberg formulierte These, es sei jedenfalls nicht vernünftig, immer bis zum Letzten vernünftig sein zu wollen. Die Rhetorik der glaubenden Hinnahme wird dann nicht zum Grundton, auf den die Reflexion aufs Nicht-Be­griffliche ge­stimmt ist.
Der reichhaltige Band mit Beiträgen renommierter Fachvertreter unterschiedlicher Disziplinen ist nicht nur eine thematisch fokussierte Festschrift als vielseitiges Echo auf Arbeiten Hogrebes – er zeigt jedenfalls auch, dass rationale Aufmerksamkeit fürs Nicht-Rationale auch anders denn als Vorschule des christlichen Glaubens vollzogen werden kann.