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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

93–94

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Winn, Christian T. Collins, Gehrz, Christopher, Carlson, G. Wil­-liam, and Eric Holst [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Pietist Impulse in Chris­tianity.

Verlag:

Cambridge: James Clarke 2012. 366 S. Kart. £ 25,50. ISBN 978-0-227-68000-1.

Rezensent:

Martin H. Jung

Die auf eine Tagung an der Bethel University zurückgehende Aufsatzsammlung will die bleibenden und positiven Einflüsse des Pietismus auf das europäische und amerikanische Christentum aufzeigen und verfolgt damit ein dezidiert apologetisches Interesse. Die Herausgeber, alle an der Bethel University tätig, wollen der in den USA, selbst unter Fachleuten, verbreiteten negativen Konnotation des Begriffs und der Sache des Pietismus wehren. Mit größter Selbstverständlichkeit, und ohne die lebhafte, seit Jahren andauernde deutsche Diskussion um die Begriffsverwendung (Brecht, Lehmann, Wallmann) aufzugreifen, wird der Terminus für religiöse Phänomene des 19. und des 20. Jh.s und auch der Gegenwart verwendet. Die Bethel University in St. Paul, Minnesota, eine baptis­tische Gründung des Jahres 1871, versteht sich selbst als pietistisch.
Die Beiträge stammen von Pietismusforschern aus den USA, aus Großbritannien und aus Schweden. Unter ihnen ist nur ein einziger Deutscher, Christoffer H. Grundmann, der seit 2001 ebenfalls in den USA lehrt. Sie behandeln zwar teilweise deutsche Themen, auffällig ist aber, dass die deutsche Pietismusforschung kaum rezipiert wird. Der einzige mehrfach zitierte namhafte deutsche Pietismusforscher ist Hartmut Lehmann, der seinerseits viel in den USA ge­wirkt und publiziert hat.
Die insgesamt 25 Beiträge sind in sechs große Themenblöcke gegliedert und stellen meistens einzelne Gestalten in den Mittelpunkt. Der erste wendet sich dem deutschen Pietismus des 17. und 18. Jh.s zu (Anton Wilhelm Böhme, Gottfried Arnold, Johann Henrich Reitz, Philipp Jakob Spener, Joachim Lange). Der zweite Themenblock thematisiert die »Modernity« (Johann Salomo Semler, Friedrich Schleiermacher, Søren Kierkegaard, Nikolaj Frederik Severin Grundtvig). Drittens wird in drei Beiträgen John Wesley behandelt. Vier Beiträge im vierten Themenblock wenden sich dem skandinavischen Pietismus des 19. und 20. Jh.s zu (Paul Peter Waldenström, Lina Sandell, Berthe Kanutte Aarflot). Der nordamerika nischen Christenheit gelten vier weitere Beiträge (Georg Rapp, Henriette Feller, August Rauschenbusch, Martin Luther King). Zuletzt werden in drei Beiträgen Zusammenhänge zwischen Pietismus und Weltmission diskutiert.
Schon diese Übersicht zeigt, dass die durchweg auf Quellenstudien beruhenden Beiträge neben Bekanntem wie dem allgemeinen Priestertum bei Spener und Arnolds Ketzerhistorie auch viel Neues bieten. Timothy M. Salo beispielsweise wendet sich dem von der Forschung bislang kaum beachteten Hallenser Theologen Joachim Lange (1670–1744) zu und stellt ihn als die »key figure for the aca­-demic engagement of Halle Pietism with Lutheran Orthodoxy« vor (93). Anregend ist ferner Eric Carlssons Beitrag über den ebenfalls viel zu wenig beachteten Hallenser Aufklärungstheologen Johann Salomo Semler (1725–1791). Er stellt ihn als Beispiel für die enge Beziehung zwischen Pietismus und Aufklärung vor und zeigt, wie gerade Kerngedanken von Semlers reifer Theologie pietistisch verwurzelt waren. So machte Semler die Heilsordnung, im Pietismus »an organizing principle in dogmatic theology«, zu einem »critical principle«, zu einem »standard for distinguishing the ephemeral and time-bound contents of the Scriptures from their abiding truth« (105).
Das Verhältnis von Pietismus und Aufklärung behandelt auch Shirley A. Mullen am Beispiel John Wesleys (1703–1791) und thematisiert den Zusammenhang von Frömmigkeit und Bildung. Sie vergleicht Wesley mit seinem Landsmann und Zeitgenossen David Hume (1711–1776) und kommt zu dem Ergebnis, dass Wesley »much more than Hume, might be judged to have served as the true ambassador between the ›learned‹ and the ›conversible‹ elem­ents of eigteenth century Britain« (171). Wesleys »ambassadorial work« habe mehr als das von Hume beigetragen »to the progress and improvement in human wellbeing in which they both strong­ly believed« (171). Geordan Hammond zeigt, dass Wesley nicht nur von Herrnhutern, sondern in Georgia stark von lutherischen Pie­-tisten geprägt wurde (135–145): »The Lutherans demonstrated to Wesley the value of a firm faith and trust in God which, over time, he integrated into his quest for holy living.« (145) Thomas Buchan untersucht in seinem Beitrag Wesleys, u. a. von Gottfried Arnold beeinflusste, kritische Sicht der Konstantinischen Wende (146–160).
Dass Friedrich Schleiermacher (1768–1834) pietistisch geprägt war, weiß jeder, dass es hierzu aber noch Forschungslücken gibt, zeigt Tenzan Eaghll und wertet dabei Schleiermachers Briefe und seine Religionsschrift aus. Pietistisch an Schleiermacher waren die Betonung der »inner religious experience« sowie die »emphasis on religious community« (119). Eaghll regt an, Schleiermacher einmal dezidiert mit Zinzendorf sowie mit Arnold zu vergleichen.
Überzeugend weist Kyle A. Roberts pietistische Prägungen bei Søren Kierkegaard (1813–1855) und Nikolaj Frederik Severin Grundtvig (1783–1872) nach (120–132). Unter den Großen des 19. Jh.s fehlt nun eigentlich nur noch Albrecht Ritschl (1822–1889). Meines Er­achtens lässt sich auch bei dem ersten großen Pietismushistoriker und -kritiker eine nachhaltige pietistische Prägung zeigen. Den für Ritschls Theologie zentralen Reich-Gottes-Gedanken verdankt er meines Erachtens dem württembergischen Pietismus; Ritschl hat im pietistischen Tübingen gelebt und studiert.
Für den Leser überraschend ist es, in der Reihe der Namen auch auf den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King (1929–1968) zu stoßen. Peter Goodwin Heltzel geht nicht nur auf die Familiengeschichte ein, die ein pietistisches Milieu belegt, sondern zeigt auch an zentralen Texten Kings, dass »King’s prophetic Baptist theology« aus dem »Moravian wing of evangelical Pietism« erwachsen war (281).
Aus deutscher Perspektive sind noch Eric Swenssons Bericht von einer Kindererweckung in Schlesien im frühen 18. Jh. (75–81) sowie Peter James Yoders Beitrag über Anton Wilhelm Böhme (1673–1722) von besonderem Interesse. Böhme, der seit 1701 in England lebte, veröffentlichte 1705 und 1707 eine »Short History of Pietism« (18), in der sich eine frühe Auseinandersetzung mit dem Pietismusbegriff und eine Definition und Abgrenzung der Bewegung findet. Böhme sah in Spener den Vater des Pietismus und belegte sein Wirken mit der Vokabel »Reformation« (18). Inbegriff des Pietismus war für Böhme das Konventikelwesen, die Hauptorte waren Leipzig und Halle und die Hauptperson war August Hermann Francke (1663–1727).
Gewidmet ist das Buch Virgil Olson (geb. 1916), dem »Baptist Pietist Historian« (IV), der von 1968 bis 1975 als Dekan und Vizepräsident am Bethel College wirkte. Am 4. Juni 2013 ist er im Alter von 96 Jahren verstorben.
Die Lektüre des Sammelbandes ist, trotz seines apologetischen, mitunter frömmelnden Charakters, erhellend und bereichernd und bietet der Pietismusforschung neue Themen und Perspektiven.