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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

89–90

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Heide, Gale

Titel/Untertitel:

Timeless Truth in the Hands of History. A Short History of System in Theology.

Verlag:

Cambridge: James Clarke 2012. X, 220 S. Kart. £ 17,75. ISBN 978-0-22768006-3.

Rezensent:

Martin Ohst

Wer konventionelle theologiegeschichtliche Interessen hat, assoziiert beim Blick auf den Untertitel dieses Buches Otto Ritschls 1906 erschienene einschlägige Pionierarbeit zur Ge­schichte des Systembegriffs. Er greift, auf deren Fortsetzung hoffend, zu, und er wird bitter enttäuscht: Es handelt sich nicht um eine historische Untersuchung, sondern um einen Beitrag in einer spezifisch US-amerikanischen Debatte (sehr deutlich 204–206): In dezidiert postmodern sich definierenden, kommunitarisch den­kenden Kreisen ist der Versuch, aus dem christlichen Glauben heraus und in konstruktiver Anknüpfung an das allgemeine Wahrheitsbewusstsein ein Gesamtverständnis von Wirklichkeit zu erarbeiten und in­nerhalb desselben das Wesen der christlichen Re­ligion in einem rational zugänglichen Begriffsgefüge auszusagen, in den Generalverdacht der Hybris geraten – und mit ihm weite Teile der christlichen Geistes- und Theologiegeschichte. Auf diese Debatte will Gale Heide, er lehrt Theologie und Biblische Sprachen am Montana Bible College, mäßigend einwirken. Er stellt also die Frage, »whether a systematic method is a modern convention, and as such, if it is a good thing for the church« (3). Dabei gilt es ihm als nicht weiter diskussionsbedürftige Voraussetzung, dass alle legitime Theologie zu charakterisieren sei als »living with and under the authority of a text and community of faith« (ibd).
In diesem Satzfetzen tritt eigentlich schon der in sich zweischichtige wichtigste Grundschaden des ganzen Buches deutlich zutage. Da ist einmal die starre, hierarchisch unterordnende Trennung von »Text« und Theologie. Ob man die Tora oder den Koran einfach so als autoritativen »Text« verstehen kann, weiß ich nicht. Dass die in sich vielfältige, spannungsreiche christliche Bibel hiermit deutlich fehlbestimmt ist, liegt jedenfalls auf der Hand: Als ob sie nicht voll wäre von theologischen Entwürfen und Ansätzen, die mitnichten in einer Art intellektuellen Kadavergehorsams akzeptiert und rezipiert sein wollen, sondern die zum freien, selbständigen Mit-, Nach- und Weiterdenken nötigen und ermutigen! Sodann umfasst die christliche Glaubensgemeinschaft doch auch immer solche Menschen, denen es um freies Erkennen und Verstehen in Wahrhaftigkeit zu tun ist, die also keineswegs geneigt sind, schöpferisches, offenes theologisches Denken misstrauisch zu kontrollieren und zu restringieren, sondern sich gerade von ihm Förderung und Bereicherung erhoffen!
Solche Erwägungen liegen dem Vf. offenkundig fern. Der von ihm funktionalistisch missverstandenen Theologie gestattet er allerdings, nach inhaltlicher Vollständigkeit und begrifflicher Konsistenz zu streben, und zwar im Dienste ihres Zweckbezuges für die kirchliche Binnenkommunikation und die Apologetik nach außen (14). Wenn sie sich dergestalt intellektuell etabliert und ausrichtet, dann ist sie gesund, sofern sie sich einen »modestly sys­-tematic effort« (28 u. ö.; s. besonders 47.136) zumutet. Der demzufolge wohl als unbescheiden zu qualifizierende Gegenentwurf hierzu basiert auf »notions of systematic knowledge as universal knowledge available to anyone that provides real and comprehensive knowledge of ›the way things really are‹ on the subject of God« (95). Der Vf. will nun beweisen, dass mit letztlich verschwindend geringen Ausnahmen die berühmt-berüchtigten Systemdenker in der Ge­schichte des Christentums Theoretiker des guten, also des bescheidenen Typus waren. Und so handelt er einige von ihnen der Reihe nach ab: Irenäus (9–25), Origenes (26–47), »Constantine and the Nicene Council« (48–67), Thomas von Aquin (68–95), Wyclif (96–126), Calvin (127–146), Descartes/Kant (147–167), Hegel (168–185), Kierkegaard/Barth (186–209). Er stützt sich dabei auf allerhand Se­kundärliteratur.
Dass er jeden Versuch unterlässt, den Eindruck zu erwecken, er habe nennenswerte Quellenstudien betrieben, be­rührt sympathisch. Aber das Geschick, das die Autoren unter den Händen ihres wohlmeinenden Apologeten erleiden müssen, ist bitter. Sie werden solange zurechtgezupft und zurechtgestutzt, bis sie als stramme Autoritätstheologen in des Vf.s Sinne dastehen. Gleich das erste Kapitel ist hierfür bezeichnend: Wacker bekämpft der Bischof von Lyon seine gnostischen Widersacher, indem er den korrekt anhand der regula fidei ausgelegten Bibelkanon gegen sie ins Feld führt. Davon, dass der im Entstehen begriffene biblische Doppelkanon ihm zu erheblichen systematisch-theologischen Be­gründungsanstrengungen Anlass gibt, ist nicht die Rede. Und dass Irenäus seine entstehende Bibel mitnichten bloß als flächigen »Text« auslegt, sondern dass er sich von bestimmten biblischen Impulsen, zu de­ren Urhebern er als kleinasiatischer Theologe in einem lebendigen Überlieferungszusammenhang gestanden ha­ben mag (Fr. Loofs), zu weit ausgreifenden Gedankenkonstruktionen über Gott und Welt, Mensch und Geschichte ermutigen und ermächtigen lässt – davon erfährt man nichts. Und so verhält es sich, mutatis mutandis, in allen folgenden Kapiteln.
Angesichts der Fülle von Zeugen, die der Vf. hat aufmarschieren lassen, mag man eigentlich keine weiteren fordern, dennoch: Für sein Sachanliegen, schon für die höchst nötige Verfeinerung seiner Fragestellung, hätte er wohl am allermeisten bei Schleiermacher lernen können. Aber so, wie es nun einmal geworden ist, legt der Rezensent das Buch mit Bedauern aus der Hand, weil er für die aufgewandte Lese- und Lebenszeit keinen angemessenen Gegenwert an Einsichten und Anregungen erhalten hat.